Die Rolle von Berufsgruppen bei der Qualifizierung und Überwindung der Folgen des Genozids in der Ukraine

Fortsetzung der Diskussion über die Natur des Genozids.
Myroslav Lavrynok28. Juli 2023UA DE EN ES FR IT RU

[геноцид]

Wir hatten früher bereits festgestellt, dass ein Genozid als Phänomen stattgefunden hat. Allerdings erfordern die Erforschung und das Verständnis für dieses Phänomen angesichts seiner Vielschichtigkeit eine breite Diskussion, deren Ergebnisse praktische Anwendung finden und die weitere Entwicklung nicht nur innerhalb der Ukraine beeinflussen werden.

Das ukrainische Territorium war nicht selten Schauplatz eines Genozids. Häufig saßen seine Urheber und Organisatoren im Kreml. Generell waren alle nichtrussischen Völker und Nationen, die von den Russen unterworfen wurden, von ähnlichen tragischen Erfahrungen betroffen. Raphael Lemkin sagt dazu Folgendes: „Der Massenmord an Völkern und Nationen, durch den der Vormarsch der Sowjetunion nach Europa charakterisiert wurde, ist kein neues Merkmal ihrer Expansionspolitik …. Stattdessen ist er ein langfristiges Merkmal gerade der Innenpolitik des Kremls — eins, für das die jetzigen Herrscher reichlich Präzedenzfälle in den Operationen des zaristischen Russlands vorfinden.“ Uns geht es vor allem um die derzeitige Situation und die Zukunft. Allerdings kommt der Analyse des Phänomens des zeitgenössischen Genozids an den Ukrainern in historischer Dimension eine wesentliche Bedeutung zu, wenn man verstehen will, wie sich der Genozid in der Zeit entwickelt hat, welches seine Folgen waren und in welchem historischen Kontext er sich vollzog usw.

Während sich die Ukraine und Polen intensiv darum bemühen, die Folgen der schändlichen Seite ihrer gemeinsamen Vergangenheit zu bereinigen, ist das moderne Russland nach einer kurzen Pause zur totalitären imperialen Praxis zurückgekehrt. Es hat die Verbrechen des Russischen Imperiums und der UdSSR, als deren Rechtsnachfolger es sich positioniert, denn auch nicht als solche anerkannt. Da der Fortschritt inzwischen neue Möglichkeiten eröffnete, hat der russische Staat sein Vorgehen perfektioniert. Mit großem Aufwand sucht er, seine Verbrechen der Vergangenheit zu verbergen und Informationen darüber zu verfälschen. Darüber hinaus mobilisiert er seine immensen propagandistischen Kapazitäten, um einen Genozid unter Einbeziehung einer großen Anzahl eigener Bürger nicht nur zu organisieren und durchzuführen, sondern auch, um ihn zu rechtfertigen, zu verschleiern oder präventiv andere der Verfälschung von Tatsachen und der „Russophobie“ zu beschuldigen. Dieser Teil der russischen Politik, ihre Methoden und Instrumente, der aktuelle innenpolitische und internationale Kontext, die Motive des Genozid müssen untersucht und einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden, da die Russische Föderation nach wie vor nicht nur die Ukrainer, sondern auch andere Völker, Nationen und Staaten bedroht. Russland macht sich geschickt ultranationalistische Stimmungen in den Ländern des alten Europa zunutze, es beruft sich auf die koloniale Vergangenheit der Entwicklungsländer, es unterstützt separatistische Bewegungen und terroristische Organisationen weltweit. Auf diese Weise macht es die friedensstiftenden Errungenschaften und Vereinbarungen der zivilisierten Welt zunichte, die nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs und der Entkolonisierung erreicht wurden. Eine wichtige Komponente dieser Politik, die von entsprechenden Spezialisten gründlich analysiert werden muss, ist das Schüren von Hass zwischen den Staaten und sozialen Gruppen. Das kann zu einer Voraussetzung für einen Genozid werden.

Zur Bewertung der Ursachen und Folgen eines Genozids sind auch Philosophen, Kulturwissenschaftlern und Psychologen heranzuziehen. Ungeachtet des totalitären Charakters des heutigen russischen Regimes, das keinerlei Zweifel am Vorgehen der politischen Führung duldet, erlebte die Russische Föderation nach dem Zerfall der Sowjetunion eine kurze Blütezeit der freien Presse, des Pluralismus und der Respektierung der Menschenrechte sowie der starken Menschenrechtsorganisationen. Es kommt darauf an zu verstehen: Wie konnten so viele Menschen, die sich von den irrigen Ideen des totalitären Kommunismus gelöst hatten, nach so kurzer Zeit Anhänger seiner modifizierten Version und, wenn schon keine aktiven Teilnehmer, so doch stillschweigende Zeugen von Verbrechen werden? Die Verachtung anderer Nationen, die Entwertung des menschlichen Lebens, auch des Lebens der Russen selbst, die Kultur der totalen, alles erfassenden Gewalt, die „Entlarvung“ liberaler Werte als erdachter oder perverser Konstrukte, die Kultivierung brutaler Gewalt als einziger Quelle des Rechts, der Einsatz des Betrugs, um das gewünschte Ziel zu erreichen — dies durchdringt die russischen Medien und die Massenkultur, die Lehrprogramme und die privaten Unterhaltungen der Bevölkerung. Das jahrelange Leben in einer derartigen Wirklichkeit hat die Weltauffassung vieler Russen so sehr verändert, dass sie offensichtliche Tatsachen leugnen und sie von einem Standpunkt aus interpretieren, der jedes Schuldempfinden ausschließt. Mögliche und reale Folgen der praktischen Umsetzung dieser russischen Ideologie in der Ukraine sind ebenfalls zu erforschen und zu korrigieren, da der Genozid die Opfer und ihre Gruppen auf kurze und längere Sicht beeinflusst.

Eigene Aufmerksamkeit verdient auch die religionswissenschaftliche Komponente des Genozids. Unsere Initiative hat vom Februar 2022 bis April 2023 zahlreiche Angriffe auf Objekte verzeichnet, die vom Römischen Statut geschützt sind, etliche von ihnen dienten religiösen Zwecken. Die Russische Orthodoxe Kirche unterstützt seit langem die Aggression des Staats, in dem sie ihr Zentrum hat. Sie agiert als Teil der Propaganda-Maschinerie, sät Intoleranz in vieler Hinsicht, kultiviert den Tod und entwertet das menschliche Leben. Mit ihrem Tun negiert die russische Orthodoxie viele christliche Werte und beschuldigt dabei andere orthodoxe, christliche und weitere Kirchen und Gläubige „irriger Ansichten“, der „Häresie“ und des „Satanismus“. Damit liefert sie russischen Bürgern die geistliche Grundlage für einen Genozid.

Außer diesen Komponenten des russischen Genozids in der Ukraine gibt es noch Merkmale, die von Juristen bereits als Handlungen qualifiziert wurden oder noch werden können, die durch das internationale Recht definiert werden. So haben wir bereits von Aktionen im Zusammenhang mit der Deportation ukrainischer Kinder berichtet, die einen Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs gegen den Präsidenten der Russischen Föderation Vladimir Putin und seine Kinderrechtsbeauftragte Marija Lvova-Belova zur Folge hatten. Einstweilen ist diese Tatsache (die gewaltsame Überführung von Kindern aus einer Gruppe in eine andere) das zuverlässigste Kriterium dafür, dass wir es tatsächlich mit einem Genozid zu tun haben. Etliche Juristen vertreten allerdings eine sehr vorsichtige Position, sie neigen zu einer Auslegung der Rechtsnormen, die sich auf die Absichten der damaligen Gesetzgeber oder die objektive historische Bedeutung der Rechtsnorm zur Zeit ihrer Verabschiedung gründet. Trotz aller von ihnen begangenen zahlreichen Morde und Zerstörungen in der Ukraine streben die Russen keine vollständige Vernichtung der Mehrheit der Ukrainer an, sondern bieten unseren Bürgern reale oder vorgebliche Chancen, sofern sie bereit sind, sich von ihrer nationalen Identität zugunsten der russischen loszusagen. Diese Praxis ist relativ neu und erschwert daher die erforderliche Qualifizierung, es macht die Wahrnehmung der nationalen Gruppe der Ukrainer als Objekt eines Genozids problematisch.

Für die Erforschung des Phänomens, die erforderliche Qualifikation des Genozids, den Russland auf ukrainischem Territorium begeht, sowie für eine mögliche künftige Präzisierung der internationalen Rechtsnormen sind also Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen hinzuzuziehen, die diese Problematik umfassend untersuchen können. Um die Arbeit im Endstadium zu koordinieren, bedarf es staatlicher Unterstützung. Aber schon jetzt sollte die Menschenrechtsgemeinschaft unter Ausnutzung ihrer umfassenden Kontakte und Möglichkeiten intensiv daran arbeiten, um zu gewährleisten, dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen und Bedingungen geschaffen werden, die eine Wiederholung dieses Verbrechens für die Zukunft ausschließen.

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