Russland beschießt Zivilobjekte der Ukraine durchschnittlich 75 mal am Tag: Untersuchung von T4P
Die allgemein anerkannten Regeln der Kriegsführung schränken die Armeen in ihrem Vorgehen ein, um übermäßiges Leid unter der Zivilbevölkerung zu vermeiden. Vorsätzliche und willkürliche Angriffe auf Zivilobjekte gelten nach internationalem Recht als Kriegsverbrechen.
Seit 2014 wurden zahlreiche Fälle registriert, in denen Russland und die von Russland unterstützten Freischärler die ukrainische Zivilbevölkerung beschossen haben. Seit Beginn der flächendeckenden, offenen Invasion in die Ukraine haben die Russen in großem Umfang die unterschiedlichsten Waffengattungen eingesetzt.
Die nachstehende Untersuchung der Initiative „Tribunal für Putin“ gibt einen Überblick über den Beschuss von Zivilobjekten und der ukrainischen Zivilbevölkerung vom 24. Februar 2022 bis einschließlich 30. April 2023.
Warum greifen die Russen Zivilisten an?
Unabhängig vom Ziel ist willkürlicher Beschuss, der Opfer unter der Zivilbevölkerung fordert, ein Kriegsverbrechen. Der Beschuss der russischen Armee lässt sich jedoch generell in zwei Kategorien einteilen:
1. Beschuss mit der direkten Zielsetzung, eine bestimmte Stadt oder ein Dorf einzunehmen
2. Raketenbeschuss von Ortschaften, die weit entfernt von der Front sind, um die kritische Infrastruktur zu treffen
Statistik der T4P-Datenbank
Vom 24.2.2022 bis zum 30.4.2023 hat die Initiative Tribunal für Putin 32.451 Bombenangriffe dokumentiert, bei denen verschiedene Waffengattungen zum Einsatz kamen und die sich gegen zivile Objekte und Zivilisten richteten. Das sind 84% der Kriegsverbrechen, die die russische Armee in der Ukraine begangen hat.
Meist erfolgt der Beschuss in jenen Regionen der Ukraine, in denen Russland Offensiven durchführt. Bei der Zahl der Angriffe auf zivile Objekte stehen nach den Daten, die T4P vorliegen, die Gebiete Charkiv und Donezk an erster Stelle. Gerade dort fanden die heftigsten Kämpfe statt. Obwohl das Gebiet Charkiv nach der Herbstoffensive fast vollständig durch ukrainische Truppen befreit wurde, kommt es bis heute zu regelmäßigen Angriffen von russischer Seite. Vor allem betroffen sind Städte und Siedlungen in Grenznähe, die die Russen mit Granatwerfern und anderer Kurzstreckenartillerie unmittelbar von russischem Territorium aus „erreichen“ können.
In der gleichen Lage sind auch Siedlungen in den Gebieten Cherson und Sumy sowie generell die meisten Städte und Orte der Ukraine in Grenznähe: Die russische Armee nimmt sie systematisch unter Beschuss und macht das Leben der Ortsbewohner häufig unerträglich.
Außerdem setzen die Russen regelmäßig Raketen mittlerer und großer Reichweite ein, insbesondere für Angriffe auf Ziele in Kyjiv, Odesa und andere Teile der Ukraine, die weiter entfernt von der Front liegen. Im Herbst leitete Russland eine aggressive Angriffswelle auf die ukrainische Energie-Infrastruktur ein. Pro Tag wurden bis zu hundert Raketen auf Stromkraftwerke und andere zivile Objekte in der ganzen Ukraine abgefeuert. Später wurden für die Angriffe auch iranische Drohnen verwendet. Offenbar hängt dies mit dem immensen Verbrauch kostspieliger Raketen zusammen.
Von einem Mangel an Boden-Boden-Raketen zeugt auch die Tatsache, dass die Russen inzwischen LC-300-Flugabwehrraketen für Angriffe auf Ziele am Boden einsetzen. Insbesondere Charkiv wird mit diesen Raketen regelmäßig beschossen.
Die Ermittler von T4P haben zudem 43 Angriffe auf zivile Objekte aus den schweren Flammenwerfersystemen TOS-1 „Buratino“ und TOS-1A „Solnzepek“ (Sonnenhitze) festgestellt. Im Gebiet Charkiv gab es 30 solcher Fälle, in den Gebieten Kyjiv 5 und Donezk 4.
Zum 30. April 2023 liegen T4P Informationen zu 57.173 zivilen Objekten vor, die durch russische Angriffe zerstört oder beschädigt wurden: Wohnhäuser, Bildungsinstitutionen, medizinische Einrichtungen, Kulturobjekte usw.
Annähernd 90% der Schäden sowie der Todesfälle von Zivilisten waren die Folge von Beschuss aus unterschiedlichen Waffengattungen. Die meisten zerstörten und beschädigten Zivilobjekte wurden im Gebiet Zaporizhzhia verzeichnet: 10.393.
Das Römische Statut sieht einen eigenen geschützten Status für Objekte vor, die für religiöse, Bildungs-, künstlerische, wissenschaftliche oder gemeinnützige Zwecke bestimmt sind, ebenso wie für Sehenswürdigkeiten, Krankenhäuser oder Sammelstellen für Kranke und Verwundete.
Die Ermittler von T4P haben 2.711 Angriffe auf solche Objekte registriert: in den Gebieten Charkiv — 578, Donezk — 554, Zaporizhzhia — 278.
Weitere Statistiken
Ins Register des ukrainischen Ministeriums für Infrastruktur wurden für den Zeitraum vom 23.2.2022 bis 1.5.2023 81.511 beschädigte Objekte eingetragen, darunter:
- 55.343 Wohnhäuser und 20.264 Wohnungen
- 4.735 Bauten und 257 Räumlichkeiten, die keinen Wohnungszwecken dienen
- 552 Anlagen
Getroffen wurden 685 Anlagen zur Wärmeversorgung, 1.080 km der Wasserleitungs— und Kanalisationsnetze wurden beschädigt und zerstört. Die Zahl der Kunden, die nicht mehr zentral mit Wasser versorgt werden, beläuft sich auf 436.566. 151.955 Kunden haben keine Kanalisation mehr.
Nach Angaben der Zweiten Schnellbewertung der Schäden und des Bedarfs für den Wiederaufbau der Ukraine, an der die ukrainische Regierung mitgewirkt hat, wurden zum 24. Februar 2023 bis zu 1,4 Millionen Wohnungen in Mehrfamilienhäusern, 135.000 Einfamilienhäuser und 39.040 Zimmer in Wohnheimen beschädigt.
Zum Mai 2023 hat das Kulturministerium Schäden an 1.464 kulturellen Einrichtungen und 623 Denkmälern verzeichnet. Darunter sind:
- Klubs — 701 (256 wurden zerstört, 445 beschädigt). Die meisten befinden sich in den Gebieten Donezk (23%), Charkiv (14%) und Cherson (15%).
- Bibliotheken — 555 (185 wurden zerstört, 370 beschädigt); Gebiete Donezk — 27%, Kyjiv — 14%, Charkiv — 12%.
- Museen und Galerien — 77 (27 wurden zerstört, 50 beschädigt); Gebiete Donezk — 31%, Cherson — 16 %, Charkiv — 12%. 57 Museen befinden sich auf Gebieten, die Russland nach dem 24. Februar besetzt hat, 26 auf befreiten Territorien. 38 Museen wurden durch Kampfhandlungen beschädigt.
- Theater, Kinos, Philharmonien — 23 (zehn wurden zerstört, 13 beschädigt).
- Institutionen für künstlerische Ausbildung — 108 (45 wurden zerstört, 63 beschädigt); Gebiete Donezk — 28%, Charkiv — 16%, Mykolajiv — 10%.
Zu den Schäden durch den russischen Angriffskrieg haben wir Anfragen an die Ministerien für Sozialpolitik und für Energie gerichtet. Allerdings hat das erste Ministerium geantwortet, dass es über kein professionelles Verfahren für eine Einschätzung der sozialen Schäden verfügt. Das Ministerium für Energie lehnte es dagegen ab, Auskunft über Schäden an der Infrastruktur zu erteilen, da diese der Geheimhaltung unterliegen.
Nach Angaben der Kyjiver Hochschule für Wirtschaft wurden durch Kampfhandlungen 153.900 Wohnhäuser zerstört oder beschädigt, 3.170 Bildungseinrichtungen (fast 1.500 Schulen, 909 Kindergärten, 528 Hochschulen), 1.216 medizinische und 1.800 kulturelle Einrichtungen (Stand zum Februar 2023).
Die neuesten Daten über die Verbrechen, die T4P dokumentiert hat, sind in der Rubrik „Statistik“ zugänglich.