Eine gelöste Frage: Genozid oder nicht

Viele Regierungen haben Russlands Vorgehen in der Ukraine als Genozid qualifiziert, ebenso bewerten sie die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland als Genozid. Gegen den russischen Präsidenten wurde ein Haftbefehl erlassen. Dies alles sind Tatsachen. Was hat dies zu bedeuten, und warum sind diese Vorgänge relevant?
Mychajlo Romanov05. Juni 2023UA DE ES FR IT RU

Massengrab in Mariupol. Foto: Jevhen Maloletka / AP

Heute klingt diese Frage nicht mehr rhetorisch oder wie ein rein politisches Klischee.

Viele Regierungen haben Russlands Vorgehen in der Ukraine als Genozid eingestuft. Ebenso bewerten sie die Deportation ukrainischer Kinder nach Russland als Genozid. Gegen den russischen Präsidenten wurde ein Haft- und Festnahmebefehl erlassen. Dies alles sind Tatsachen. Man mag sie unterschiedlich bewerten und interpretieren, aber sie haben stattgefunden. Was hat dies zu bedeuten, und warum sind diese Vorgänge relevant?

Die Welt ist groß, und längst nicht alle Länder und Personen, die dort leben, verfolgen und verstehen die Entwicklung in der Ukraine. Wahrscheinlich gab und gibt es in der Welt auch heute viele Beispiele für noch grausamere Untaten und schlimmere Verbrechen. Aber um ein bestimmtes Faktum zu konstatieren ist es keineswegs notwendig, dass dies die ganze Welt und alle Menschen gleichermaßen tun. Technologische Durchbrüche und moderne Errungenschaften sind für viele nichts anderes als billige Gedankenspiele. Aber das ändert nichts an ihrer Existenz.

Diese „Regel“ gilt im vollen Maße für den Genozid Russlands in der Ukraine. Hier und jetzt werden wir Zeugen, wie sich das Phänomen eines Genozids manifestiert. Anscheinend ist jetzt die Zeit gekommen, in der sich die Menschen dessen bewusst werden, was Raphael Lemkin vor fast 80 Jahren gesagt hat.

Gerade auf den Begriff des Phänomens muss der Schwerpunkt gelegt werden, denn in dieser Form findet der Genozid heute statt.

Wir kennen viele „Einwände“ professioneller Juristen, die es ablehnen, von einem Genozid Russlands in der Ukraine zu sprechen und die die Möglichkeit bestreiten, ihn zu beweisen. Aber es geht jetzt um etwas anderes. Und zwar darum, dass eine solche Erscheinung wie der Genozid vielen Menschen klar wird, und zwar nicht im juristischen Sinne (als bewiesene Tatsache), sondern im Sinne seiner Existenz als Phänomen, d. h. als komplexer Erscheinung, die eine große Anzahl von Menschen betrifft und die eine empirische, eine emotionale und eine intellektuelle Komponente sowie öffentliche Resonanz und politischen Einfluss besitzt. Die Tatsache, dass das Thema des Genozids nicht verschwindet, sondern vielmehr ständig neue „Nahrung“ erhält, ist ein Beleg für die Existenz dieses Phänomens.

Selbst wenn Skeptiker sagen, dies seien politische Spekulationen und unbewiesene Behauptungen, wird dies nur ein weiterer Hinweis darauf sein, dass das Phänomen ohne Frage existiert. Denn wenn dies nicht der Fall wäre, müsste man nicht darüber reden.

Viele Mitarbeiter der Charkiver Menschenrechtsgruppe haben sich von den ersten Kriegsmonaten an bei jedem Schritt davon überzeugt, dass es im russischen Vorgehen in der Ukraine Anzeichen eines Genozids gibt. Aus diesem Grund hat unsere Organisation schon zu einer Zeit, als für die meisten Kriegsverbrechen noch wenig direkte Beweise vorlagen, einen Antrag beim Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) vorbereitet wegen des Genozids, den Russland in Mariupol an Ukrainern beging.

Ziel dieses Artikels ist es nicht, einen Genozid zu beweisen, sondern zu konstatieren, dass ein solcher als Phänomen stattgefunden hat. Die jüngste Entwicklung, insbesondere die Annahme der Resolution der Parlamentarischen Versammlung der NATO, in der die NATO-Mitgliedsländer das russische Vorgehen in der Ukraine einstimmig als Genozid einstuften, sind ein zweifelsfreies Zeugnis dafür, dass in der Tat ein Genozid vorliegt. Diese Behauptung weist auf einen wichtigen Umstand hin — einen Genozid kann man nicht beweisen, man kann sich nur davon überzeugen (ebenso wie man das Vorhandensein des Bewusstseins nicht beweisen, sondern sich davon ebenfalls nur überzeugen kann).

In der Anerkennung des Phänomens des Genozids, den Russland gegen die Ukraine begeht, gibt es ein Moment, das vermutlich das wichtigste ist. Das Phänomen des Genozids wird zweifellos eine Änderung im rechtlichen und doktrinalen Umgang mit diesem Verbrechen bewirken. Die heutige Verfassung der Welt und ihrer Gemeinschaften, die derzeitigen Methoden im Umgang mit Konfrontationen und bewaffneten Konflikten, die dringende Notwendigkeit, die Mechanismen zur Bewahrung der Sicherheit und des Friedens in der Welt zu revidieren, werden zweifellos auch bei der Definition eines Genozids und den Verfahren, ihn zu beweisen, eine Revision und einen Neuansatz herbeiführen.

Russland hat fundamentale Prinzipien des menschlichen Zusammenlebens verletzt. Für Russland wiegt das umso schwerer, als es ein sehr einflussreiches und angesehenes Land war, an das sich hohe moralische Ansprüche stellten. Diese Tatsache zeugt ebenfalls davon, dass zweifellos ein Vorsatz zum Genozid bestand (Russland hat einen Status, der ihm die Möglichkeit gab, globale Weltprozesse zu beeinflussen). Solche Länder haben weniger als alle anderen das Recht, sich in der menschlichen Welt in dieser Weise zu verhalten. Das Vorhandensein eines Genozids im Vorgehen einiger bestimmter Akteure muss — unter Berücksichtigung der Begleitumstände — auf völlig andere Weise untersucht und festgestellt werden als bei anderen Akteuren unter ähnlichen Umständen.

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