Auf dem Festland und im Meer: Verminung der Ukraine
Bereits im Mai 2023 bezeichnete Denis Braun, der UN-Koordinator in der Ukraine, auf dem Kyjiver Forum für Sicherheit die Ukraine als das „weltweit am meisten durch Verminung verseuchte Land“.
In einem Kommentar der Time stellte die ukrainische Vize-Premierministerin Julia Svrydenko fest, dass „die Ukraine das Land mit dem größten Ausmaß an Verseuchung durch Minen und nichtexplodierte Munition seit dem Zweiten Weltkrieg“ sei. Nach einer Einschätzung von GLOBSEC, einem Analyse-Zentrum in der Slowakei, wird die Ukraine 757 Jahre benötigen, um den Schaden zu beseitigen.
Die Initiative T4P hat 770 Fälle festgehalten, die die Ermittler vorläufig als „Verminung von Territorien“ qualifiziert haben.
Die meisten in der Datenbank registrierten Fälle betreffen Unfälle von Zivilpersonen durch Minen. 279 Personen wurden verletzt, 156 getötet.
Mindestens in 21 Fällen handelte es sich um einen Unfall durch eine PFM-1-Antipersonenmine, die als Blütenblatt bekannt ist.
Am 30. September 2023 gegen 11.15 trat ein Einheimischer in der Nähe des Dorfs Oskil im Bezirk Bohoduchiv, Gebiet Charkiv, im Wald auf eine PFM-1-Antipersonenmine. Nach Auskunft der Gebietsadministration zog er sich mittelschwere Verletzungen zu und kam ins Krankenhaus.
Außerdem wurde ein Fall aus Snizhivka bekannt. Ein Einwohner trat in seinem eigenen Hof auf einen Sprengkörper. Durch die Explosion wurde ihm ein Fuß weggerissen.
Am 14. April 2023 meldete die Polizei des Gebiets Charkiv, dass zwei Zivilisten aus Isjum verletzt worden seien. In einem Fall war eine 29-jährige Frau betroffen, die beim Reinigen neben einem Kiosk auf dem Markt auf eine PFM-1-Mine getreten war.
Auch Kinder kommen durch Explosionen zu Schaden. Am 15. Oktober 2023 traten zwei Halbwüchsige im Bezirk Baschtanka, Gebiet Mykolajiv, auf eine Mine, als sie auf einem Feld außerhalb des Dorfs spielten. Einer der Jungen, geb. 2008, kam ums Leben, der andere, geb. 2011, wurde verletzt und kam ins Krankenhaus.
In einem anderen Dorf im Gebiet Mykolajiv kam der 10-jährige Artem Antonenko ums Leben. Im März 2022 fuhr er mit seinem Onkel auf einem Traktor. Sie wollten ein Auto abschleppen und fuhren auf eine Mine. Der Onkel überlebte verletzt.
Beim Versuch, mit seiner Familie zu fliehen, kam der 11-jährige Danylo Chartschenko auf der Straße Tschernihiv — Kyjiv ums Leben. Bei der Explosion starben auch sein Bruder und seine Mutter.
In einigen Fällen fielen Personen auch ihrem eigenen Leichtsinn zum Opfer, etwa weil sie Warnschilder ignoriert hatten. Im Grenzgebiet im Gebiet Rivne fuhr ein Traktor mit zwei Männern auf ein Feld, ohne das Warnschild und die Abzäunung verminten Geländes zu beachten. Einer der beiden starb, der zweite erlitt Verletzungen.
Landarbeiter werden Opfer von Minen auf den Feldern
Landarbeiter werden am häufigsten Opfer von Minen. Wenn ein landwirtschaftliches Fahrzeug auf eine unentdeckte Panzerabwehrmine fährt, wird diese aktiviert. Da diese Minen gegen schwere Panzertechnik, die besonders geschützt ist, eingesetzt werden, hat der Traktorfahrer oft keine Überlebenschance.
In Schyroka Balka im Gebiet Cherson fuhr ein Bauer bei Feldarbeiten auf eine feindliche Mine. Er erlitt schwere Verletzungen, und die eintreffenden Ärzte konnten nur noch seinen Tod feststellen.
Am 11. Oktober 2023 fuhr ein Mähdrescher im Feld nahe der Stadt Snihurivka (Gebiet Mykolajiv) auf auf eine Mine und explodierte. Der Fahrer wurde verletzt und kam ins Krankenhaus.
Am 17. März 2023 wurde ein 50-jähriger Traktorfahrer im Bezirk Mykolajiv verletzt, als er das Land für die Aussaat vorbereitete.
Insgesamt hat die T4P-Datenbank 42 Verminungen von Feldern, Wäldern oder in der Nähe von Ortschaften dokumentiert.
Im Juni 2022 teilten die Behörden mit, dass die Russen Territorien im Bezirk Tschuhujiv, Gebiet Charkiv, systematisch aus der Ferne verminen. Dies erfolgt durch Hubschrauber und Mehrfachraketenwerfer.
Der Landwirt Oleksandr Masurov aus dem befreiten Dorf Velyka Komyschuvacha hat seinem Bericht zufolge vier Millionen Dollar verloren. Sein Betrieb befindet sich an der Frontlinie. Neben unmittelbaren Verlusten hatte der landwirtschaftliche Betrieb auch keine Möglichkeit, das Land vor Abschluss der Entminung zu bestellen.
Nach Auskunft des Zentrums für nationalen Widerstand vom Juli 2023 platzieren russische Truppen in den zeitweilig besetzten Gebieten der Südukraine, insbesondere im Bezirk Melitopol des Gebiets Zaporizhzhia, Minen auf besäten Feldern und manchmal auch auf Feldwegen.
Verminung von Krankenhäusern
In der Stadt Poloha besetzten russische Truppen das innere Gelände des Bezirkskrankenhauses und verminten es. Personal und Patienten wurde verboten, ins Krankenhaus zurückzukehren. Im Krankenhausgebäude verblieben lediglich verletzte russische Soldaten.
Während der ukrainischen Gegenoffensive verminten russische Soldaten, die das besetzte Gebiet räumten, das gesamte Gelände des Krankenhauses von Balaklija. Als das Personal in die befreite Stadt zurückkehrte, war das Krankenhaus ausgeraubt, vermint und die Räumlichkeiten beschädigt. „Sie haben sogar an den Tragen Minen befestigt, an den Füßen. Das haben die Minenräumer entdeckt“, sagt Maryna Rudenko, die Leiterin des Krankenhauses.
Insgesamt hat T4P fünf Fälle von Verminungen medizinischer Einrichtungen dokumentiert.
Verminung der See
Seit Beginn des flächendeckenden Krieges hat T4P die Verminung des Schwarzen Meeres und von Flüssen verzeichnet. Bereits im März 2022 verminten die russischen Streitkräfte die Routen vom Bosporus nach Odessa. Zugleich beschuldigte die russische Propaganda die Ukraine, dies zu tun.
Am 4. Dezember 2023 wurde in der Nähe des Dorfs Primorske eine Ankermine entdeckt, die der Sturm ans Ufer getrieben hatte.
Im Oktober 2023 zerstörten militärische Minenräumer eine Seemine, die bei Tschornomorsk im Gebiet Odessa an Land gedriftet war.
In einem dokumentierten Fall ging es um einen unbekannten Gegenstand, der in der Nähe von Mykolajiv ans Ufer geschwemmt worden war und einem kleinen Gasballon ähnelte. In der Folge stellte sich heraus, dass es sich um eine Ankerflussmine handelte.
Für das Verminen von Wasserflächen werden häufig die Luftstreitkräfte eingesetzt. Es wurde über vier Sprengstoffe berichtet, die am 24.10.2023 von russischen Flugzeugen abgeworfen wurden.
Am 24.11.2023 führten die russische Luftwaffe mit vier Flugzeugen innerhalb eines Tages zwei Schläge gegen einen Meereskorridor aus, vermutlich mit Meeresbodenminen.
Das Verminen des Schwarzen Meeres gefährdet die zivile Schifffahrt und hat bereits zu Schäden an mehreren Schiffen geführt. Im September 2023 kam es an der rumänischen Küste auf dem Schiff Seama (unter der Flagge der Republik Togo) zu einer Explosion. Die Besatzung teilte mit, dass das Schiff auf eine Mine gefahren sei.
Im November 2023 detonierte eine Mine neben dem Schiff Georgia S (unter liberischer Flagge), das Getreide transportierte. Das Schiff wurde leicht beschädigt und konnte die Fahrt selbstständig fortsetzen.
Aus der Sicht des Römischen Statuts stellt das Verminen des Meeres kein Kriegsverbrechen dar. Außer den russischen Truppen bringt auch die ukrainische Marine Minen an, um eventuelle Landeoperationen an ukrainischen Küstenstädten zu verhindern.
Im Gegensatz zu den Ukrainern, die ihre Küsten verteidigen, wollen die Russen ukrainische Häfen blockieren, um den Export von Getreide und anderen Waren unmöglich zu machen. Ein Beleg dafür ist die gezielte Verminung von Handelswegen. Auch der ökonomische Schaden für die Küstenregionen sollte nicht vergessen werden.
Verminung des Kernkraftwerks Zaporizhzhia
Die Entwicklung am Atomkraftwerk von Zaporizhzhia stand bereits in den ersten Tagen der flächendeckenden Invasion weltweit im Fokus, als die Stadt Enerhodar unter dem Beschuss von Mehrfachraketenwerfern stand.
Gleich nach der Besetzung wurde bekannt, dass das Atomkraftwerk vermint wurde. Quellen aus dem AKW berichteten dem „Insider“ von verdächtigen Aktivitäten russischer Soldaten auf dem Gelände. Außerdem tauchte ein Video auf, auf dem zu sehen ist, wie russische Militärlastwagen auf das Gelände des AKW fahren und Güter entladen.
Im Oktober 2022 erklärte der frühere Leiter der staatlichen Atominspektion Hryhorij Platschkov, die Besatzungstruppen hätten im zeitweilig besetzten AKW Zaporizhzhia den ersten und zweiten Atomblock vermint.
Im Juli 2023 teilte der ukrainische Nachrichtendienst mit, dass in den technischen Räumen und in Turbinenhallen Sprengstoffbarrieren aus ferngesteuerten und ungelenkten Antipersonenminen platziert worden seien, es handle sich dabei um Richtminen.
Es ist völlig klar, dass die Russen das besetzte AKW von Zaporizhzhia zu Erpressungszwecken nutzen kann. Dabei stellt sich die Frage, ob die Verminung des AKWs mehr sein könnte als ein potentielles Kriegsverbrechen.
Nach Auffassung von Jevhen Sacharov sind die Maßnahmen der Russen genozidal, weil Manipulationen mit Atomenergie zu massenhaftem Sterben führen kann und die Besatzer sich dessen bewusst sind. „Eine Drohung mit einer Kernwaffe ist nichts anderes als eine Drohung mit Genozid“, sagt Sacharov.
Rechtliche Einordnung
Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) enthält keine ausdrückliche Bestimmung, die Antipersonenminen oder die Verminung von Landstrichen untersagt. Diese Handlungen führen jedoch zu übermäßigen Leiden von Zivilisten, ohne einen militärischen Vorteil zu bringen.
Daher kann das Verminen von Landstrichen und der Tod von Zivilisten durch Minen vorläufig nach Art. 8 (b) (xx) als „Kriegsverbrechen“ nach dem Römischen Statut eingestuft werden.
2027 beantragte Belgien, eine Bestimmung in den Text des Römischen Statuts aufzunehmen, die Antipersonenminen ausdrücklich verbietet. Allerdings verweigerten die Teilnehmerstaaten diesem Vorschlag ihre Unterstützung.
1997 wurde die Konvention über das Verbot des Einsatzes, der Lagerung, der Herstellung und der Weitergabe von Antipersonenminen und über deren Vernichtung unterzeichnet, die auch als Ottawa-Konvention bekannt ist. Die Ukraine hat diese Konvention am 18. Mai 2005 ratifiziert.
Die Russische Föderation ist kein Vertragspartner der Ottawa-Konvention. Auch die Vereinigten Staaten und die Volksrepublik China sind ihr nicht beigetreten.
Die Teilnahme der Ukraine an dieser Konvention wurde von Seiten internationaler Organisationen für bestimmte Manipulationen genutzt. Am 31.1.2023 veröffentlichte Human Rights Watch (HRW) einen Bericht über den Einsatz von PFM-1-Antipersonenminen durch die ukrainischen Streitkräfte im Bezirk Isjum. Die Charkiver Menschenrechtsgruppe versuchte die Publikation zu verhindern und plädierte dafür, zuvor Konsultationen mit Menschenrechtlern und dem ukrainischen Verteidigungsministerium durchzuführen. HRW reagierte darauf jedoch nicht.
Hier finden Sie weitere Informationen dazu, wie wir Daten sammeln und lesen Sie unsere aktuelle Statistik zu Kriegsverbrechen im russisch-ukrainischen Krieg.
Redakteur: Denys Volocha, Illustrationen: Serhij Prytkin, Marija Krykunenko