Etwa 28. 000 Ukrainer sind unter besonderen Umständen verschwunden

Die Internationale Kommission für Vermisste hat Memoranden zur Zusammenarbeit mit dem Justizministerium sowie dem Gesundheitsministerium unterzeichnet.
Maryna Harieieva05. November 2023UA DE ES FR IT RU

Ілюстративне зображення. Світлина: ombudsman.gov.ua Иллюстративное изображение. Фотография: ombudsman.gov.ua

Illustration. Foto: ombudsman.gov.ua

Zum 18. Oktober 2023 gelten etwa 28.000 Bürger der Ukraine unter besonderen Umständen als vermisst.

Diese Zahlen gab der Stellvertretende ukrainische Innenminister Leonid Tymtschenko auf einem Treffen mit Vertretern der Internationalen Kommission für Vermisste (ICMP) bekannt. Zudem erklärte er, es sei zurzeit „notwendig, DNA-Proben zu nehmen, um sie mit den Anfragen abzugleichen, die von Familien Vermisster bei den zuständigen Spezialeinrichtungen eingehen.“ Dabei sei es schwierig, die Leichen zu identifizieren, die provisorisch beigesetzt worden oder in zeitweilig besetzten Gebieten oder in Kampfgebieten verblieben seien. „Suchgruppen können die Gebiete nicht betreten, die Leichen nicht mitnehmen und gegen die austauschen, die wir haben. Leider kann es mit einem Aggressor und Terroristen keine vollwertige Zusammenarbeit im Hinblick auf einen Austausch geben“, sagt Tymtschenko.

Tymtschenko berichtet, im Apparat des Ministeriums sei eine eigene Abteilung für Personen eingerichtet wurden, die unter besonderen Umständen verschwunden sind. Sie übt die Funktionen des Sekretariats des Bevollmächtigten für unter besonderen Umständen Vermisste aus. Der stellvertretende Minister erwähnte auch das in der Ukraine bereits tätige Einheitliche Vermisstenregister.

Genauere Informationen über dieses Register finden Sie im Artikel der Charkiver Menschenrechtsgruppe (ChMG) hier. Angehörige von Vermissten können kostenlos einen Auszug aus dem Register erhalten. Genauere Details finden Sie in diesem Artikel.

Eine Analyse der ChMG bestätigt, dass „die russische Seite ihren internationalen Verpflichtungen nicht nachkommt.“ „Nachdem ihre Angehörigen verschwunden waren, hatten die Betroffenen keine Möglichkeit, bei den lokalen Besatzungsbehörden oder bei den offiziellen staatlichen Funktionären der Russischen Föderation Auskunft zu erhalten“, erklärt die Anwältin von ChMG Anna Ovdienko. Die Russische Föderation (RF) bestätigt manchmal erst nach mehreren Monaten ihres Verschwindens, dass sich eine vermisste Person unter ihrer Kontrolle befindet. Mitunter erfolgt dies auch erst nach einem Jahr. Allerdings enthalten selbst diese Bestätigungen nicht immer eine Auskunft über den genauen Aufenthaltsort der Person und/oder über ihren Gesundheitszustand. Daher befinden sich die Angehörigen nach wie vor in einer Art Informations-Vakuum — zuerst wussten sie nicht, ob die vermisste Person überhaupt lebt, dann wussten sie nicht, in welcher Verfassung sie sich befindet und ob gegen sie Gewalt angewendet wird. „Auf diese Anfragen gaben die staatlichen russischen Organe keine konkreten Antworten, ja in den meisten Fällen antworteten sie überhaupt nicht“, sagt Anna Ovdienko. „Solche Handlungen werden vorsätzlich begangen, denn solche formalen Antworten von der RF, ohne jegliche Angaben zu den konkreten Umständen der Verbrechen, werden von ein und denselben Personen erteilt, und zwar massiv, in allen uns bekannten Fällen.“ Dabei entsprächen solche Antworten nicht den Normen des internationalen und nationalen Rechts, unterstrich Ovdienko.

Auf dem Treffen wurde auch die weitere Ergänzung der DNA-Bank besprochen. Vertreter des ICMP wiesen erneut auf die internationale Erfahrung hin, die belege, dass für 30.000 Vermisste eine Bank von 90.000 DNA-Proben erforderlich sei. Somit müssten mindestens drei Angehörige eines Vermissten genetische Proben hinterlegen. Wie das ICMP zuvor schon angemerkt hatte, ist die internationale Kommission bereit, der Ukraine nötigenfalls bei der Recherche jedes einzelnen Falls zu unterstützen, genügend Ressourcen dafür sind vorhanden. Beispielsweise kann man mit einem hochpräzisen DNA-Labor die Person eines Getöteten auch unter den schwierigsten Bedingungen, etwa auch bei beschädigten Knochenproben, identifizieren.

Darüber hinaus ging es um ein Pilotprojekt zur Sammlung von DNA-Proben bei Ukrainern im Ausland, das das Innenministerium mit dem ICMP im Februar 2023 begonnen hatte. Bereits im August 2022 hatte die Generaldirektorin des ICMP Kathryne Bomberger erklärt, dass die Internationale Kommission notwendige Proben sowohl in der Ukraine selbst als auch in Ländern sammeln kann, die zeitweilige Flüchtlinge aufgenommen hatten, die die Ukraine wegen der russischen Aggression verlassen hatten. Zurzeit kann man DNA-Proben bei Ukrainern entnehmen, die sich in Polen und den Niederlanden aufhalten, in Zukunft wird diese Option auch für Ukrainer in Deutschland bestehen.

Lesen Sie dazu: Solange es noch irgendeine Hoffnung gibt, muss man suchen

Memorandum über Zusammenarbeit

Am 18. Oktober hat die ICMP Memoranden über die Zusammenarbeit mit dem Justiz— und dem Gesundheitsministerium unterzeichnet.

Фото з фейсбук-сторінки ICMP (Міжнародної комісії з питань зниклих безвісти). Фото с фейсбук-страницы ICMP (Международной комиссии по пропавшим без вести).

Foto von der FB-Seite des ICMP

Die Zusammenarbeit des ICMP mit dem Justizministerium ermöglicht es, die Kooperation gerade im Bereich der Gerichtsgenetik und bei Gerichtsgutachten auszubauen, die Kapazitäten bei der Durchführung von DNA-Identifizierungen zu stärken und moderne kriminalistische Technologien für eine effiziente Suche nach Vermissten heranzuziehen. Das Memorandum mit dem ukrainischen Gesundheitsministerium soll die Zusammenarbeit in der Gerichtsmedizin und bei gerichtlichen Gutachten intensivieren. Insbesondere lassen sich so Standards für die Verfahren bei gerichtlichen Gutachten auf Grundlage internationaler Standards entwickeln. Wie es im Pressedienst des ICMP heißt, werden die „Zusammenarbeit bei der Gerichtsmedizin und der Ausbau dieses Fachs dazu beitragen, dass viele Fälle zeitnah bearbeitet werden und dass ein angemessener Umgang mit den Leichen Verstorbener gewährleistet wird.“

Wie Kathryne Bomberger festhielt, „hat kein Land unter Kriegsbedingungen die Möglichkeit, selbständig das große Problem der Suche nach Vermissten wie erforderlich zu bewältigen und diese Fälle so zu recherchieren, dass die Beweismittel für diese Verbrechen dem Internationalen Gerichtshof zugänglich gemacht werden könnten.“ Die Unterstützung des ICMP kann die Ukraine hierin unterstützen. Der Direktor der Europäischen Programme der ICMP und Leiter ihrer Programme in der Ukraine, Matthew Holliday, betonte, die ICMP bemühe sich, die technischen Möglichkeiten der Ukraine zu erweitern, damit sie die Zehntausende von Fällen Vermisster wie erforderlich untersuchen könne.

Gesamtkontext

Matthew Holliday hob hervor, dass die Ukraine auch nach Ende der Kampfhandlungen noch jahrelang in Fällen des Verschwindens werde ermitteln müssen.

Im September 2023 schrieb die Charkiver Menschenrechtsgruppe, dass die Sicherheitskräfte bisher 57 Leichen nicht hatten identifizieren können, die in einem Massengrab in der Umgebung von Isjum gefunden worden waren. Damals teilte der Sprecher der Charkiver Staatsanwaltschaft Dmitrij Tschubenko mit, dass mehr als 20 Leichen Verletzungen hatten, darunter unterschiedliche Frakturen, und 15 wiesen Merkmale von Folterungen auf. „Bei der Untersuchung exhumierter Leichen entdeckten die Experten bei 15 Opfern Schusswunden, bei 87 Verletzungen durch Explosionen, bei mindestens 15 Anzeichen von Folter (insbesondere wurden sie mit gefesselten Händen vorgefunden und mit Schlingen um den Hals), bei 23 — Frakturen der Kiefer, Schädelknochen, Arme, Rippen“ — berichtet der Vertreter der Charkiver Staatsanwaltschaft.

Місце масового поховання в Ізюмі. © Pavlo Petrov / ДСНС Место массового захоронения в Изюме. © Pavlo Petrov / ГСЧС

Massengrab in Isjum. © Pavlo Petrov / FSTchS

Seit Beginn der flächendeckenden Invasion bis zum 23. Mai dieses Jahres hat das UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte 864 Fälle willkürlicher Festnahmen von Zivilisten durch Vertreter der RF registriert. 763 der Festgenommenen sind Männer, 94 — Frauen und sieben — Jugendliche, teilt die UNO mit. Viele der dokumentierten Fälle willkürlicher Festnahmen könnten auch als gewaltsames Verschwindenlassen eingestuft werden. Der Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe Jevhen Sacharov betonte ebenfalls, dass der Hauptanteil der 4.200 Vermissten, die die gemeinsame Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P) dokumentiert habe, vorläufig als gewaltsames Verschwindenlassen zu bewerten sei. Alle Versuche von Angehörigen, die Vermissten ausfindig zu machen, werden damit konfrontiert, dass ihnen entweder eine Antwort verweigert oder dass behauptet wird, der Aufenthaltsort des Vermissten sei unbekannt. „Das Internationale Rote Kreuz kann bestenfalls antworten, dass sich jemand in Russland befindet, aber wo genau, wird nicht angegeben“, sagt Sacharov.“ Sowohl die unrechtmäßige Inhaftierung ohne Gerichtsbeschluss als auch das gewaltsame Verschwindenlassen, ohne dass der Aufenthaltsort der betreffenden Person bekannt gegeben wird, sind grobe Verletzungen der Menschenrechte und können vorläufig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bewertet werden.“

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