‚Wir werden in Charkiv bleiben bis zum Ende. ‘ Ein kanadischer Freiwilliger in Charkiv
„Das war der schrecklichste Augenblick in meinem Leben. Ich war sicher, dass ich sterben würde“, so beschreibt der Kanadier Paul Hughes (59) die dramatischste Episode in den zwei Jahren seines Freiwilligendienstes in der Ukraine.
Im Juni 2022 hielt er sich im Bezirk Borodjanka auf, als er eine Anfrage zur Evakuierung eines sechsjährigen Mädchens aus dem Raum Zaporizhzhia bekam. Er konnte nicht ablehnen. Als er allerdings in Zaporizhzhia ankam, stellte sich heraus, dass die Rede von dem Teil des Gebietes Zaporizhzhia war, den die Russen besetzt hatten. Der ehemalige Soldat entschloss sich, das Risiko einzugehen, was er schnell bereute.
An einem der Kontrollpunkte hielten ihn die Russen an. Als sich jemand fand, der Englisch sprach, verstand Paul, dass man ihn zusammen mit seinem Fahrzeug irgendwohin bringen wollte. „Ich verstehe nie irgendetwas als Spiel, doch dieses Spiel war für mich gelaufen“, kommentiert der Kanadier.
Sie brachten ihn nach Vasylivka, wo die Besatzer zu diesem Zeitpunkt einen festen Stützpunkt hatten. Es begann ein langes Verhör. Sie hielten Paul für einen westlichen Spion und er versuchte zu beweisen, dass er ein gewöhnlicher Freiwilliger war. Als ein Kommandant den Raum betrat, dachte der Kanadier, dies wäre sein Henker. Eishockey half, eine Kommunikation mit ihm herzustellen.
„Sie sind also aus Kanada?“, fragte der Russe. „Mögen Sie Eishockey?“ „Klar, natürlich, ich liebe Eishockey, ich bin doch Kanadier.“ „Wer ist Ihr Lieblingsspieler?“ „Ovetschkin“, antwortete Paul, nachdem ihm Putins Lieblingsspieler eingefallen war. „Ovetschkin?! Aber Ovetschkin ist doch Scheiße!“, empörte sich der russische Kommandeur plötzlich. Er dachte nach und beschloss, einen anderen bekannten russischen (sowjetischen) Spieler zu nennen: „Tretjak?“ „Oh, Tretjak, das ist sehr gut!“ sagte der Russe auf der Stelle zustimmend. Paul sagt, dass er trotz seines stämmigen Aussehens Verständnis beim Kommandeur gesehen habe, als sie nach acht Stunden Verhör zum Rauchen nach draußen gingen: „Ich spürte, dass unter seiner Panzerung und allem anderen tatsächlich ein guter Mensch stecken könnte.“ Schließlich fragte Paul, was aus ihm und seinen Sachen jetzt werden würde und bekam zur Antwort, dass man ihm alles zurückgeben und ihn laufen lassen würde.
Paul Hughes hatte damals tatsächlich Glück: Er kehrte nochmal zum Stützpunkt zurück, um nach einer Bescheinigung zu fragen. Er wollte nicht, dass sich diese Geschichte am nächsten Kontrollpunkt wiederholte. Doch man kann sich kaum vorstellen, wie stark sein großes Herz an diesem Tag schlug.
Als ein Einwohner Paul half, sich ins WLAN einzuwählen, wurde klar, dass er nur eineinhalb Kilometer von dem Ort entfernt war, wo er das Mädchen und andere Menschen abholen sollte. Er fuhr direkt zu dem Punkt bei Google-Maps und fand dort eine alte Garage und eine zerbombte Tankstelle.
„Ich rief: Hallo! Sind hier Menschen? Jemand kam heraus und sah sich um, und das war genau dieses Mädchen. Sie sah mich, mein Auto und die kanadische Flagge, rannte los und sprang mir einfach auf dem Arm. Sie zitterte am ganzen Körper.“
Paul setzte das Mädchen und vier weitere Menschen in sein Fahrzeug, als plötzlich Mörserbeschuss einsetzte. Ohne zu zögern, fuhr der Kanadier schnell aus dem besetzten Gebiet heraus und brachte das Kind schließlich erfolgreich an die ukrainisch-polnische Grenze, wo seine Mutter es abholte.
Das war einer von mehr als dreihundert Einsätzen der Organisation HUGS, die Paul Hughes zusammen mit seinem Sohn Mac gegründet hat.
Über dreihundert Fahrzeuge repariert
Wir sprechen mit Paul in seiner Garage in Charkiv, wo Freiwillige aus den verschiedensten Winkeln der Welt parallel Militärfahrzeuge und Fahrzeuge von freiwilligen Helfern reparieren. Paul zeigt auf die Wand, wo auf Spanplatten Fotografien und Nummern von Reisen hängen, die sich in diesen zwei Jahren angesammelt haben. Jemand fragt ihn nach Vovtschansk, woraufhin er sofort die genaue Fahrzeit nennt, die man benötigt, um dorthin zu kommen. Die Organisation HUGS steht für „Wir helfen der Ukraine an der Basis“ (Helping Ukraine Grassroot Support) und umfasst Hilfsprogramme für Kinder in Frontregionen, für Binnenflüchtlinge usw.
Bevor wir mit der Aufnahme des Videos beginnen, wird der Strom abgeschaltet, was für das heutige Charkiv Alltag ist. Ein anderer Kanadier namens Djaypee, der eine kleine eigene Umweltorganisation namens Pollute Free hat, rettet uns: Er beschäftigt sich gerade mit der Installation von Solarzellen und konnte einen Teil der Garage mit Strom versorgen, durch die seit Kriegsbeginn mehr als 300 vorwiegend Militärfahrzeuge gelaufen sind, die dort kostenlos repariert werden. „Die Menschen engagieren sich auf verschiedenen Ebenen“, kommentiert Paul.
Die Garage selbst hängt voller Flaggen, es gibt sogar ein Poster vom „Cannabis-Freiheits-Marsch“ [Demonstration 2019 in Kyjiv, bei der die Teilnehmer die Freigabe von Cannabis zu medizinischen Zwecken forderten; A. d. Übs..]. In den letzten eineinhalb Jahren waren hier Menschen aus mehr als 40 verschiedenen Ländern. Paul ist stolz darauf, dass seine Organisation gewachsen ist und sich vernetzen konnte. Und das ist kaum zu bezweifeln: Die Garage macht den Eindruck eines Ameisenhaufens, zu dem ständig verschiedene Menschen kommen, mit denen Paul immer wieder kommuniziert, dabei Zigaretten raucht und gelegentlich ein ukrainisches Bier trinkt, das ihm sehr gut schmeckt (very good beer). An der Wand kann man eine Fotografie von Paul und dem Bürgermeister von Charkiv in den Eishockeytrikots der Ukraine und der Calgary Flames sehen, der Mannschaft der Stadt Calgary in der Provinz Alberta, wo Paul lebte, bevor er in die Ukraine kam.
In Kanada war Paul Hughes in der Landwirtschaft und in der Wohltätigkeitsarbeit tätig, er versichert, diese Erfahrung habe ihm bei der Gründung von HUGS geholfen. Die Organisation ist ebenfalls in Cherson aktiv, wo sie von Hughes Junior betreut wird.
„Orkwellsche Zeiten“
Ich frage Paul: „Was würdest du denjenigen Menschen im Westen antworten, die bis heute skeptisch auf den Krieg in der Ukraine blicken?“
„Ich bin nicht sicher, ob ich das vor der Kamera sagen kann, aber wahrscheinlich wäre das Erste, was ich sagen würden: ‚Zieht euren Kopf aus dem Hintern.‘“
„Wir haben jetzt unsere persönliche Erfahrung und wir haben mit eigenen Augen gesehen, was hier geschieht“, fährt Paul etwas diplomatischer fort. „Das ist ein unverhohlener und grober Überfall auf ein souveränes Land, die Ukraine. Weißt du, ich versuche mit diesen Leuten zu sprechen, aber die Welt und wie die Menschen Informationen aufnehmen, hat sich etwas verändert. Sogar wenn man riesige Datenmengen hat, die beweisen, dass dieser Angriff ein unbegründeter, mörderischer Akt war, verbunden mit Kriegsverbrechen, können die Leute nicht verstehen, was vor sich geht. Sie haben Scheuklappen vor den Augen. Sogar wenn man Fakten anführt, empirische Daten, streiten die Leute immer noch darüber.“
„Wir leben in einer sehr seltsamen Zeit. George Orwell hat ‚1984‘ und ‚Farm der Tiere‘ geschrieben, wo er beschrieben hat, wie die Propaganda-Maschine die Realität verzerrt. Ich benutze das Wort ‚Orkwellsch‘, wir leben in Orkwellschen Zeiten, in denen die Russen lügen [„Orks“: pejorative Bezeichnung für „Russen“]. Alles, was sie tun, ist lügen! Wir wissen das schon 40, 50, 60 Jahren.“
Nachdem ich monatelang über russische Fälschungen von Biolabors und chemischen Waffen recherchiert habe, weiß ich genau, was Paul meint.
„Russland muss alle Gebiete zurückgeben und Wiedergutmachung leisten“
„Ich glaube aus Prinzip an den Frieden“, beginnt der Kanadier, der im Juni 60 Jahre alt wird. „Allerdings unter welchen Bedingungen? Der Preis für diesen Krieg ist für die Ukraine sehr hoch: getötete Menschen, zerbombte Häuser, Kirchen, Krankenhäuser, Schulen. Leider können wir nicht sagen, dass Frieden derzeit eine Option ist. Für Frieden braucht es ein Abkommen, das für die Ukraine eine vollständige Wiedergutmachung vorsieht. Sie müssen der Ukraine auch alles Land zurückgeben: die Krym und andere Gebiete. Das allerdings ziehen die Russen nicht in Betracht.“
Solange wir in dieser Frage keine Einigung erzielen, kann es kein Friedensabkommen geben. Man kann über einen Waffenstillstand sprechen, aber über einen vollwertigen Frieden zu reden, ist unter den gegenwärtigen Bedingungen so gut wie unmöglich.“
Während des ersten Monats in der Ukraine war Paul Hughes fast jeden Tag emotional ausgelaugt. „Ich war mit ganzem Herzen dabei und es war sehr traurig, das Leid der Menschen wegen der Handlungen eines psychotischen Irren zu sehen. Ich habe Menschen in Not gesehen, die in Kanada ihre Häuser durch Brände verloren hatten, aber nicht in diesem Ausmaß.“
„Ich komme jetzt emotional besser klar, aber es tut immer noch weh, diese Dinge jeden Tag zu sehen. Jedes Mal, wenn man ein zerstörtes Haus sieht, herumliegende Bilder und Fotos, Kinderspielzeug — das ist das Leben von jemandem! Das sind keine Soldaten, das ist eine Familie, die einfach ihr Leben gelebt hat. Das Einzige, woran sie schuld sind, ist, dass sie Ukrainer sind.“
Paul und Mac haben viel darüber gesprochen, wie lange sie noch in der Ukraine bleiben müssen. Sie haben sich persönlich vorgenommen, so lange hier zu bleiben, bis der Krieg vorbei ist.
„Ich sage den Menschen, das ist, als würde man mit einem Feuerwehrmann sprechen. Sie fragen: ‚Hey, Feuerwehrmann, wann gehst du nach Hause?‘, und der Feuerwehrmann antwortet: ‚Na, wenn das Feuer gelöscht ist.‘ Genauso geht es uns auch.“