Untätigkeit als Weg in die Straflosigkeit
Zehn Jahre später gilt die Revolution der Würde in der ukrainischen öffentlichen Meinung als Wendepunkt in der Geschichte der unabhängigen Ukraine, sie ist sogar Teil des Lehrplans für Geschichte. Bis heute gibt es jedoch keine Qualifizierung der Verbrechen gegen Teilnehmer an der Revolution der Würde. Handelte es sich um Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Klarheit könnten hier der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) oder ukrainische Gerichte schaffen, aber bis heute ist es nicht dazu gekommen.
Dies liegt nicht etwa daran, dass sich der Gerichtsprozess wegen der Flucht von Angeklagten oder der großen Menge an Beweismitteln in die Länge gezogen hätte. Es hat keine juristischen Gründe. Bisher wurden nicht einmal die Voraussetzungen dafür geschaffen, um auf internationaler oder nationaler Ebene einen Prozess zu führen, der die Verantwortung konkreter Personen für Gewalt oder Verfolgungen gegen Teilnehmer an der Revolution der Würde in ihrer Eigenschaft als Verbrechen gegen die Menschlichkeit untersuchen könnte.
Für diese Situation, die nur eine tiefe Enttäuschung auslösen kann und weit entfernt ist von den Idealen einer internationalen Strafverfolgung und der Idee, Straflosigkeit bei internationalen Verbrechen zu verhindern, sind Den Haag und Kyjiv gleichermaßen verantwortlich.
Vor bald zehn Jahren hat die Ukraine erstmals die Jurisdiktion des IStGH auf der Grundlage von Artikel 12(3) des Römischen Statuts von 1998 anerkannt. Dieser ermöglicht es Staaten, die Rechtsprechung dieses internationalen Instituts ad hoc (für einen aktuellen Fall) anzuerkennen, ohne das Römische Statut zu ratifizieren. In der Ukraine wird der erste Fall einer solchen Anerkennung gewöhnlich mit der Erklärung der Verchovna Rada vom 25. Februar 2014 assoziiert. Das Gericht selbst geht jedoch konsequenterweise davon aus, dass seine Kompetenz hinsichtlich der Vorgänge in der Ukraine auf einer Note des ukrainischen Außenministeriums vom 17. April 2014 basiert, die sich auf diese Erklärung der Verchovna Rada berief.
Wie auch immer, die Motive dieser Schritte der ukrainischen Regierung lagen auf der Hand. Die Anerkennung der Zuständigkeit des IStGH durch die Ukraine war die Reaktion auf zahlreiche Fälle von Gewalt und Verfolgungen, denen die Teilnehmer an der Revolution der Würde von November 2013 bis Februar 2014 ausgesetzt waren. In der Erklärung vom 25. Februar 2014 bezeichnete die Verchovna Rada diese Taten ausdrücklich als Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Nach Artikel 7(1) des Römischen Statuts des IStGH von 1998 fallen darunter Mord, Folter, Verfolgungen und andere unmenschliche Taten, die im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen die Zivilbevölkerung begangen werden.
Am 25. April 2014 leitete das Büro des IStGH-Staatsanwalts die so genannte Voruntersuchung der Situation in der Ukraine vom 21. November 2013 bis zum 22. Februar 2014 ein. Bei dieser Prozedur war zu klären, ob es hinreichende Gründe für die Annahme gibt, dass hier Verbrechen begangen wurden, die in die Zuständigkeit des IStGH fallen, insbesondere Verbrechen gegen die Menschlichkeit, und ob sich das Gericht mit diesen Verbrechen befassen sollte.
Leider befand sich die Voruntersuchung von vornherein in einem „eingefrorenen“ Zustand. Der wesentliche Grund dafür war offensichtlich die konservative Position des Büros des IStGH-Staatsanwalts. Im Bericht über die Voruntersuchung für 2015 wird einerseits angemerkt, dass die “Gewaltakte, die die ukrainischen Behörden vom 30. November 2013 bis zum 20. Februar 2014 mutmaßlich begangen haben“, einen „Angriff gegen die Zivilbevölkerung“ nach Artikel 7(2)(a) des Römischen Statuts darstellen können. Andererseits heißt es jedoch, dass es „nur begrenzte Informationen gibt, die bestätigen, dass der mutmaßliche Angriff im Zusammenhang mit den Majdan-Protesten ausgedehnt oder systematisch war“.
In den folgenden Berichten für 2016, 2017, 2018, 2019 und 2020 beharrte das Büro des IStGH-Staatsanwalts auf dieser Position. Einfach ausgedrückt, bestanden in dem Büro keine Zweifel, dass es zu Gewalt und Verfolgungen gegen die Teilnehmer an der Revolution der Würde gekommen war und dass es sich nicht um Einzelfälle handelte. Jedoch war das Büro der Auffassung, dass diese Taten quantitativ nicht ausreichten, um sie als ausgedehnt und systematisch zu beschreiben, wie es die Definition von Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Artikel 7(1) des Römischen Statuts vorsieht.
Natürlich lassen diese Merkmale von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (dass die Taten ausgedehnt und systematisch sein müssen) den Strafverfolgungsbehörden einen breiten Ermessensspielraum bei der Bewertung entsprechender Ereignisse. Andererseits sieht das internationale Recht nicht vor, dass man nur dann von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sprechen kann, wenn es sich um Zehn— oder gar Hunderttausende von Gewaltakten handelt. Deshalb gewinnt man den Eindruck, dass die zurückhaltende Position des Büros des IStGH-Staatsanwalts nicht von juristischen, sondern von bürokratischen Erwägungen bestimmt war.
Wenn man die Gewalt und Verfolgung gegenüber Teilnehmern an der Revolution der Würde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit beurteilt, könnte dies — so die dahinterstehende Befürchtung — das Büro des IStGH-Staatsanwalts dazu zwingen, weitere Vorfälle in anderen Ländern mit ähnlichem Ausmaß ebenso zu bewerten. Dies wiederum könnte die personellen und finanziellen Kapazitäten des Büros überfordern.
Eine vollwertige Untersuchung der Situation in der Ukraine, die das Büro des IStGH-Staatsanwalts im März 2022 nach Beginn der russischen Invasion in die gesamte Ukraine in Angriff nahm, umfasst formell auch den Zeitraum vom 21. November 2013 bis zum 22. Februar 2014. Es ist jedoch äußerst unwahrscheinlich, dass das Büro Verfahren, die zehn Jahre zurückliegen, vorrangig vor Kriegsverbrechen behandeln wird, die seit dem 24. Februar 2022 fast täglich geschehen. Dies gilt umso mehr, als die Skepsis des Büros fortbesteht, die Vorgänge von 2013-2014 als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu bewerten.
Die mangelnde Aufmerksamkeit des IStGH für die Vorfälle von 2013-2014 könnte durch eine effiziente nationale Untersuchung ausgeglichen werden. Denn das Prinzip der Komplementarität, das der Arbeit des IStGH zugrunde liegt, weist die Hauptlast der Strafverfolgung und Ahndung internationaler Verbrechen letztlich den betreffenden Staaten zu und nicht dem IStGH. Allerdings hat es in der Ukraine keine effiziente Untersuchung der Vorfälle von 2013-2014 gegeben. Einer rechtlichen Einordnung der Gewalt und Verfolgungsmaßnahmen gegen Teilnehmer an der Revolution der Würde als Verbrechen gegen die Menschlichkeit steht das Faktum im Wege, dass das ukrainische Strafgesetz diese Kategorie von Verbrechen 2013 und 2014 nicht vorsah und auch heute nicht vorsieht.
Das 2021 verabschiedete Gesetz zur „Änderung einiger ukrainischer Gesetzesakte über die Umsetzung von Normen des internationalen Strafrechts und des Völkerrechts“ beseitigt diese Lücke. Allerdings hat der ukrainische Präsident es bis heute nicht unterzeichnet, und daher ist es nicht in Kraft getreten. Natürlich kann man einwenden, dass dieses Gesetz nichts an Verfahren in Fällen ändern könnte, die vorher stattgefunden haben. Das Strafrecht hat schließlich keine rückwirkende Gesetzeskraft. Allerdings ist es nicht selten vorgekommen, dass ausländische Staaten, etwa Lettland oder Estland, neue Strafgesetze, die die Verantwortung für internationale Verbrechen auf nationaler Ebene festlegten, auf zurückliegende Ereignisse angewandt haben. Dies wurde vom Europäischen Menschenrechtsgerichtshof ausdrücklich gebilligt. In solchen Situationen bestätigen die nationalen Gesetze lediglich die Tatsache, dass entsprechende Taten bereits früher durch das internationale Recht als Verbrechen qualifiziert wurden.
Jedenfalls war der Versuch der ukrainischen Strafverfolgungsorgane nicht gerade erfolgreich, die repressiven Gewaltakte gegen Teilnehmer an der Revolution der Würde nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, sondern als „allgemeine kriminelle“ Straftaten zu verfolgen (etwa als einen „gewöhnlichen“ vorsätzlichen Mord oder eine Überschreitung von Dienstvollmachten).
Viele Verfahren wurden aufgrund von Verjährung eingestellt, obwohl es bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach internationalem Recht keine Verjährung gibt. Wo es dennoch zu einem Schuldspruch gekommen war, z. B. bei den Morden auf dem Majdan am 20. Februar 2014, betrachteten die Richter einzelne Fälle von Gewalt oder Verfolgungen „isoliert“ vom Gesamtgeschehen vom November 2013 bis Februar 2014, da eine gesetzliche Grundlage über Verbrechen gegen die Menschlichkeit fehlte. Juristisch wird somit eher bestritten als bestätigt, dass diese Fälle in einem Zusammenhang standen.