Er glaubte, der Platz für einen anständigen Menschen in Russland sei heute nur das Gefängnis
Am 27. Februar verurteilte die Richterin des Golovinsker Bezirksgerichts in Moskau Jelena Astachova den russischen Menschenrechtler Oleg Orlov zu zweieinhalb Jahren Strafkolonie im gewöhnlichen Vollzug. Zur Last gelegt wurde ihm die „wiederholte Diskreditierung“ der Armee. Am 26. Februar hatte die Anklage zwei Jahre und elf Monate Haft gefordert. Zurzeit befindet sich der Menschenrechtler im Untersuchungsgefängnis Nr. 7 „Kapotnja“.
Faschistischer Totalitarismus
Oleg Orlov war bereits einmal in derselben Sache verurteilt worden.
Im November 2022 veröffentlichte die französische Internet-Plattform „Mediapart“ seinen Artikel auf Französisch unter dem Titel: „Sie wollten den Faschismus. Und sie haben ihn bekommen“. Auf Russisch platzierte Oleg diesen Text auf seiner Facebook-Seite. Er schrieb, der Krieg in der Ukraine sei ein schwerer Schlag gegen Russlands Zukunft, und verurteilte die Kriegshandlungen eindeutig. Das Regime in der Russischen Föderation bezeichnete er als „faschistisch“. „Das Land, das vor dreißig Jahren den kommunistischen Totalitarismus überwunden hat, ist in den Totalitarismus zurückgefallen, aber diesmal in den faschistischen“, so Orlov.
Das Gericht sah darin eine „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“. Es verurteilte Orlov zu einer Geldstrafe von 150.000 Rubeln. Allerdings ging die Staatsanwaltschaft in Revision, und das Berufungsgericht verwies das Verfahren an die Anklage zurück mit der Auflage, das Motiv für das Verbrechen festzustellen. Dieses wurde schnell gefunden: Ideologischer Hass „gegen die traditionellen russischen geistig-moralischen und patriotischen Werte“ und Hass gegen russische Militärs.
Beim zweiten Mal wurde Oleg verhaftet.
Die zweieinhalb Jahre Haft sind ebenso wie die vorangegangene Geldstrafe eine Abrechnung dafür, dass Orlov die Dinge beim Namen genannt hat. In der heutigen russischen Realität ist jegliche Kritik an staatlichen Organen oder jede persönliche Meinung, die sich von der offiziellen unterscheidet, bereits ein Straftatbestand.
Versuch, die Stimme der Menschenrechtsbewegung zum Schweigen zu bringen
In seinem Schlusswort sagte Orlov: „Der Staat in unserem Land kontrolliert nicht nur das öffentliche, politische und wirtschaftliche Leben, sondern beansprucht auch die vollständige Kontrolle über Kultur und Wissenschaft sowie über das Privatleben. Er durchdringt alles. Und wir sehen das. In den etwas mehr als vier Monaten, die seit dem Ende meines ersten Verfahrens vor diesem Gericht vergangen sind, ist vieles passiert, das zeigt, wie schnell unser Land immer tiefer in dieser Finsternis versinkt.“
„Das Urteil gegen Oleg Orlov ist der Versuch, die Stimme der Menschenrechtsbewegung in Russland wie überhaupt jegliche Kritik am Staat zum Schweigen zu bringen. Die russischen Behörden müssen umgehend alle Anklagen gegen Orlov fallen lassen. Freiheit für alle politischen Gefangenen!“, so heißt es in einer Erklärung des Menschenrechtszentrums Memorial.
Am 27. Februar waren Hunderte zum Gerichtssaal gekommen, um Orlov zu unterstützen, so viele, dass sie Schlange stehen mussten. Insbesondere waren Menschenrechtler, Diplomaten, Freunde gekommen und einfach Menschen, die nicht gleichgültig sind, darüber hinaus Vertreter der Botschaften folgender Länder: Tschechien, Polen, Portugal, Australien, Österreich, Großbritannien, Kanada, Neuseeland, Lettland, Deutschland, Frankreich, USA, Schweden, Schweiz, Norwegen, Belgien, Niederlande, Slovenien, Dänemark. Außerdem der EU-Botschafter, Roland Galharague, und die Botschafterin der USA, Lynn Tracy.
„Wir haben mit Oleg gemeinsam Memorial gegründet. Aber das Wichtigste war, dass wir dieses Team geschaffen haben, ein Team, das unabhängig davon arbeiten kann, ob Oleg in Freiheit ist oder nicht. Deshalb werden wir weiter arbeiten. Und wir werden leben. Und hoffen, dass das, was jetzt geschieht, irgendwann trotz allem ein Ende haben wird.“ Das sind die Worte von Oleg Frau, der Menschenrechtlerin Tatjana Kasatkina.
Hohn auf die Rechtsprechung
Das Menschenrechtszentrum Memorial und weitere 31 Menschenrechtsorganisationen haben eine gemeinsame Erklärung über das unrechtmäßige und politisch motivierte Urteil gegen Oleg Orlov veröffentlicht. Zu den Unterzeichnern gehören Human Rights Watch, Amnesty International, Die Internationale Föderation für Menschenrechte (FIDH), das Zentrum für bürgerliche Freiheiten, die Weltorganisation gegen Folter, das Andrej-Sacharov-Institut, das Menschenrechtszentrum Vjasna.
„Orlov (geb. 1953) ist einer der bekanntesten Menschenrechtler in Russland. Er hat sein Leben der Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen und der Unterstützung ihrer Opfer gewidmet. Sein ‚Verbrechen‘ besteht im Protest gegen den Krieg des Kremls gegen die Ukraine und die zunehmenden politischen Verfolgungen in Russland. Der Prozess gegen ihn ist ein Hohn auf die Justiz und ein Schlag gegen das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung. Orlov, der noch im Gerichtssaal in Haft genommen wurde, wird das unrechtmäßige Urteil anfechten.
Die russischen Behörden müssen die Verfolgung Orlovs umgehend einstellen und ihn freilassen. Dies gilt auch für alle anderen, die sich hinter Gitter befinden, weil sie ihre Grundrechte ausgeübt haben, darunter auch das Recht, die Machthaber öffentlich zu kritisieren, wenn sie gegen ihre internationalen rechtlichen Verpflichtungen verstoßen. Die relevanten internationalen Akteure müssen sich mit allen Kräften dafür einsetzen, dass Orlov freigelassen und die russischen Behörden für ihre schwerwiegenden und systematischen Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden“, heißt es in der Erklärung.
Ein Mensch der Ehre
Oleg Orlov ist Mitgründer von Memorial, einer der Organisationen, denen 2022 der Friedensnobelpreis verliehen wurde. Er kämpft für die Respektierung der Menschenrechte in Russland und wendet sich seit über 30 Jahren gegen jeden Krieg. Er ist ein ausgesprochener Mensch der Ehre, der fundamentale Werte nicht nur verbal verteidigt. Im Tschetschenien-Krieg hat er russische Soldaten gerettet, die in Gefangenschaft geraten waren.
Oleksandra Matvijtschuk, die Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, berichtet über ihre Arbeit mit Oleg Orlov:
„Oleg ist ein zutiefst aufrichtiger und verantwortungsbewusster Mensch. Er war gezwungen, seine geliebte Wissenschaft — die Biologie — aufzugeben, um sich für die Rechte und Freiheiten von Menschen in Situationen zu verwenden, in denen das Recht nicht funktioniert. Ich bin stolz darauf, ihn zu kennen.
All diese zehn Kriegsjahre haben wir gemeinsam mit Memorial gearbeitet, um uns für illegal inhaftierte ukrainische Bürger einzusetzen, die im Laufe der russischen Aggression unrechtmäßig inhaftiert worden waren. Wir haben gemeinsame Feldmissionen durchgeführt, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren. Oleg hat persönlich daran teilgenommen. Ich kann jetzt nicht viel davon erzählen, ich möchte einfach meine Dankbarkeit und Bewunderung für seinen Mut zum Ausdruck bringen.
Ich habe ihn und andere Kollegen von Memorial vor vielen Jahren kennengelernt, als ich mit meiner Menschenrechtsarbeit gerade begonnen hatte. Ich erinnere mich an seine Berichte, wie er und einige seiner Kollegen sich während des Tschetschenien-Kriegs in Verhandlungen mit den Kämpfern Schamil Basaevs freiwillig als Geiseln zur Verfügung stellten, um zu gewährleisten, dass die erzielten Absprachen über einen Gefangenenaustausch auch eingehalten würden. Oleg ist auch jetzt zu einer Geisel geworden. Denn er hat nicht einmal den Versuch unternommen, das Land zu verlassen, nachdem das politisch motivierte Strafverfahren gegen ihn eingeleitet worden war. Er entschied sich vielmehr, bis zum Ende zu kämpfen und anhand seines Beispiels zu demonstrieren, dass seine Diagnose in dem Artikel über das faschistische Regime in Russland, für den man ihn verurteilt hat, absolut zutreffend ist.“
Oleksandr Pavlitschenko, der Direktor der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte:
„Unser erstes Treffen und unsere persönliche Bekanntschaft kam zustande, als ich Oleg Orlov ‚herausholte‘, nachdem ihn ukrainische Grenzposten bei der Einreise nach Charkiv 2015 am Bahnhof festgenommen hatten. Sie wollten klären, zu welchem Zweck dieser Bürger Russlands auf dem Höhepunkt der militärischen Auseinandersetzungen nach Charkiv gekommen war. Man ließ ihn sofort frei, nachdem wir bewiesen hatten, dass er unser Kollege ist, ein Menschenrechtler.
In den Jahren 2015 und 2016 unternahmen wir gemeinsame Fahrten in Gebiete nahe der Kontaktlinie. Wir waren in Sjevjerodonezk, Volnovacha, Mariupol, Staniza Luhanska, Torezk, Bachmut, Marinka, Krasnohorivka und vielen anderen Städten und Dörfern. Es ging darum zu ermitteln, welchen Schaden der Krieg für die Bevölkerung in diesen Gebieten bewirkt, und Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Oleg recherchierte in ukrainisch kontrollierten Gebieten wie auch in den anderen, die nicht unter ukrainischer Kontrolle standen. Er reiste von der Ukraine aus dorthin, um die ukrainischen Gesetze nicht zu verletzen. In den besetzten Gebieten waren die Recherchen alles andere als ungefährlich. Oleg und sein Kollege gingen ein ernsthaftes Risiko ein, weil sie keine Sondererlaubnis hatten. Glücklicherweise ging diese humanitäre Mission gut und erfolgreich aus.
Wir waren in Mariupol, als es dort zu prorussischen Demonstrationen kam, an denen sich vor allem ältere Leute beteiligten. Sie lehnten die Menschenrechtsaktivisten ab. Allerdings gelang es Oleg, sie zu befragen — dank seines russischen Passes und seiner Fähigkeit, zum erforderlichen Zeitpunkt eine gewisse Naivität zur Schau zu tragen. Wir wollten Menschenrechtsverletzungen untersuchen und danach einen gemeinsamen Bericht der Charkiver Menschenrechtsgruppe und des russischen Memorial dazu zu verfassen. Meiner Meinung nach war das damals einer der besten Berichte, die wir je im Europäischen Parlament vorgestellt haben.
2022 nahmen wir gemeinsam in Oslo den Friedensnobelpreis entgegen. Oleg Orlov vertrat die Gesellschaft Memorial, die damals in Russland bereits verboten war. Ich war fasziniert davon, wie er bei seinem Auftritt auf einer offenen Kundgebung auf dem Bahnhofsvorplatz eine Rede vor Hunderten von Menschen hielt und erklärte, dass Russland ein faschistischer Staat ist und zahlreiche Kriegsverbrechen begeht. Das war ein prägnantes und aufrichtiges Statement. Ich fragte Oleg, ob er nicht lieber von einer Rückkehr nach Russland absehen wollte — was er ablehnte.
Oleg hatte die Möglichkeit auszureisen und im Ausland zu bleiben. Dies haben ihm auch Regierungsvertreter nahegelegt, die es lieber gesehen hätten, wenn er nicht zurückgekehrt wäre. Er blieb jedoch bewusst im Lande, und das endete mit einer realen Haftstrafe — mit zweieinhalb Jahren Freiheitsentzug für absolut nichts. Im Alter von 70 Jahren ist das eine schwere Strafe. Der Grund ist ein Aufsatz, in dem er den Krieg als Krieg bezeichnet und Russland beschuldigt, den Krieg entfesselt zu haben.“
Jevhen Sacharov erinnert sich:
„Ich kenne Oleg Orlov seit Ende der 1980er Jahre. Nachdem ich 1994 in den Vorstand von Memorial International gewählt worden war, sahen wir uns regelmäßig, weil er ebenfalls im Vorstand war. Seit dieser Zeit tauschten wir uns regelmäßig aus, denn er war einer der wenigen, der sich im Vorstand mit den Menschenrechten befasste, wie ich auch.
Oleg ist ein sehr mutiger und unerschrockener Mensch. Er suchte alle Spannungsherde auf, in denen es bereits akute militärische Konflikte gab oder sich welche abzeichneten. Er versuchte zu vermitteln, um die Gegner zu versöhnen und Gewalt abzuwenden. In vielem unterstützte er Sergej Kovaljov, der zunächst den Parlaments-Ausschuss für Menschenrechte leitete und danach erster Menschenrechtsbeauftragter der Russischen Föderation wurde. Aber als bescheidener Mensch hielt Oleg sich immer im Hintergrund.
Nach 2014 reiste er im Rahmen von Monitoring-Missionen in die Ukraine auch in die dortigen Konfliktgebiete zu reisen. In regierungskontrolliertem Gebiet waren er und Jan Raczynski mit unseren Ermittlern von der Charkiver Menschenrechtsgruppe unterwegs. In die anderen Gebiete, die nicht ukrainisch kontrolliert waren, begaben sich die beiden allein.“
Jevhen Sacharov: „Wir hatten viele gemeinsame Aufgaben, die mit der Rettung russländischer Flüchtlinge zu tun hatten, insbesondere von Tschetschenen.
Anscheinend wollte ihn die russische Regierung nicht zu einer Haftstrafe verurteilen. Auf verschiedene Weise wurde ihm die Emigration nahegelegt. Man ließ ihn überall hin, wohin er nur wollte. Freunde versuchten ihn zu überreden, es nicht darauf ankommen zu lassen, wie weit die Machthaber gehen würden. Aber Oleg glaubte, man müsse den Freiheitsspielraum in Russland ausloten. Deshalb testete er auf diese Weise, ob man ihn inhaftieren würde oder nicht, was man in Russland noch tun kann und was nicht. Auch ich versuchte ihn zur Ausreise zu bewegen und schlug ihm verschiedene gemeinsame Projekte im Ausland vor, die ihn auch interessierten. Aber er blieb doch bei seiner Entscheidung.
Nachdem er den Artikel mit dem Titel: „Sie wollten den Faschismus. Und sie haben ihn bekommen“ verfasst hatte, verurteilte man ihn zunächst zu einer Geldstrafe von 150.000 Rubeln. Dieses Urteil focht er an, weil er es für unberechtigt hielt, da er sich keines Vergehens schuldig gemacht und lediglich seine Meinung zum Ausdruck gebracht hatte. Danach gerieten die russischen Machthaber in Rage: Sie klärten ihn zum ‚ausländischen Agenten‘ und setzten eiligst eine neue Anklage in die Welt, wo als Motiv ideologischer Hass genannt wurde. Was das sein soll, ist ehrlich gesagt nicht leicht zu verstehen. Bei der neuen Gerichtsverhandlung weigerte sich Orlov, sich am Prozess zu beteiligen, nur die Verteidigung durch seine Anwältin ließ er zu. Er wollte seine Freunde, die als Zeugen der Verteidigung hätten auftreten können, nicht in Gefahr bringen. (Unter ihnen war zum Beispiel Dmitrij Muratov, Chefredakteur der ‚Novaja gazeta‘, Friedensnobelpreisträger von 2021.) Er bestand nur auf seinem Recht auf ein Schlusswort. Während des gesamten Prozesses, der einige Tage in Anspruch nahm, las er Franz Kafkas Roman „Der Prozess“. Das Resultat seines Prozesses — zweieinhalb Jahre Haft — stand von vornherein fest.
Gleich im Gerichtssaal wurden Oleg Handschellen angelegt. Man musste sich nur sein Gesicht dabei ansehen. Er lächelte triumphierend. Am nächsten Tag sagte die Anwältin, die ihn besucht hatte, dass sie noch nie einen Verurteilten in so guter Stimmung angetroffen hätte. Er hatte erreicht, was er wollte: Man hatte ihn eingesperrt. Er glaubte, ein anständiger Mensch in Russland habe heute seinen Platz nur im Gefängnis.
Oleg ist ein Menschenrechtler, er ist unser Verbündeter. Er hat in Russland viermal Einzelmahnwachen gegen den Krieg in der Ukraine abgehalten. Viermal wurde er deshalb festgenommen. Schon das brachte die Gefahr einer Inhaftierung mit sich. Er stellte unter Beweis, dass es in Russland Menschen gibt, die Putins Regime und den Krieg ablehnen und die Ukraine unterstützen.
Das ist eine Demonstration dafür, dass nicht alle Russen so denken, wie Putin und seine Umgebung sagen“, betont der Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe, Jevhen Sacharov.