Sie wollten den Faschismus. Und sie haben ihn bekommen

Wer trägt die Verantwortung dafür, dass Russland zum Faschismus gekommen ist? Die einfachste Antwort darauf ist – Putin. Er ist natürlich verantwortlich, aber außer ihm hat eine Vielzahl anderer Personen dazu beigetragen, die diese Richtung nicht unbedingt bewusst gewählt hatten. Viele sehnten sich nach dem Imperium, nach der „starken Hand“, nach einem mythischen Stalin.
Oleg Orlov, Co-Vorsitzender des Zentrums zum Schutz der Menschenrechte Memorial29. November 2022UA DE EN ES FR IT RU

Олег Орлов, 20 березня, фото: СОТА Oleg Orlov am 20. März 2022 mit dem Plakat: „Der wahnsinnig gewordene Putin treibt die Welt in einen Atomkrieg“ (das ihm eine hohe Geldstrafe einbrachte). Foto: SOTA Oleg Orlov, 20 mars, photo : SOTA Олег Орлов, 20 марта, фото: СОТА

Oleg Orlov am 20. März 2022 mit dem Plakat: „Der wahnsinnig gewordene Putin treibt die Welt in einen Atomkrieg“ (das ihm eine hohe Geldstrafe einbrachte). Foto: SOTA

Der blutige Krieg, den das Putin-Regime in der Ukraine entfesselt hat, ist nicht nur ein Massenmord an Menschen. Er zerstört nicht nur die Infrastruktur, die Wirtschaft und die Kulturobjekte dieses wunderbaren Landes. Und nicht nur die Grundlagen des Völkerrechts.

Er versetzt auch der Zukunft Russlands einen schweren Schlag.

Die finstersten Kräfte in meinem Land, jene, die von einer vollständigen Revanche für den Zerfall des sowjetischen Imperiums träumten, jene, die allmählich die Herrschaft über das Land übernommen haben, denen die konsequente Erstickung der Meinungsfreiheit, die Unterdrückung der Zivilgesellschaft, die faktische Liquidierung einer unabhängigen Rechtsprechung nicht genug war, sie alle haben während der letzten Monate einen Sieg gefeiert.

Von welchem Sieg kann hier die Rede sein? An den Fronten in der Ukraine sahen die Dinge für die russländischen Streitkräfte ja nun keineswegs ideal aus. Das ist tatsächlich so, aber sie haben ihren endgültigen Sieg in Russland gefeiert.

Dieser Krieg hat das Land vollständig in ihre Hand gegeben. Sie hatten sich schon längst aller Hemmschwellen entledigen wollen. Sie wollten keine Rückkehr des kommunistischen Systems (obwohl es unter ihnen Menschen gibt, die sich als Kommunisten bezeichnen). Ihnen gefällt das chimärenhafte System, das sich in den letzten beiden Jahrzehnten in Russland entwickelt hat, halb Feudalismus, halb Staatskapitalismus, durchsetzt von Korruption. Aber auch da fehlte ihnen noch etwas…

Es fehlte ihnen das Gefühl der Vollendung dieses Systems. Jetzt ist es vollendet.

Jetzt können sie offen und ungeniert die Parole verkünden: „Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Jegliche Scham ist von ihnen abgefallen.

Sie wollten den Faschismus. Und sie haben ihn bekommen.

Das Land, das vor dreißig Jahren den kommunistischen Totalitarismus hinter sich gelassen hat, ist in den Totalitarismus zurückgefallen, aber diesmal in den faschistischen.

„Von welchem Faschismus sprichst Du?“, so streiten viele mit mir. Wo ist die systembildende Massenpartei, die dem Staat noch übergeordnet ist? Ist denn „Einiges Russland“, diese Ansammlung von Funktionären, eine solche Partei? Und wo sind die Jugend-Massenorganisationen der Jugend, die für alle Jugendlichen obligatorisch sind?

Zum ersten ist das „Zombieren“ der Jugend und die Schaffung solcher Organisationen in Russland bereits in vollem Gang. Und dann besteht der Faschismus nicht allein aus Italien unter Mussolini oder NS-Deutschland (derzeit stellt man in Russland gewöhnlich einen Gegensatz her zwischen dem „guten“ Faschismus und dem „schlechten“ Nationalsozialismus), dazu gehören auch Österreich vor dem Anschluss, Spanien unter Franco, Portugal unter Salazar. Und die faschistischen Regime hatten überall ihre Unterschiede und Besonderheiten. Jetzt wird sich auch Russland unter dem späten Putin hier einreihen.

Es gibt zahlreiche unterschiedliche Beschreibungen dieser Erscheinung. 1995 erarbeitete die Russische Akademie der Wissenschaften im Auftrag von Präsident Jelzin folgende Definition: „Faschismus ist eine Ideologie und Praxis, die die Überlegenheit und Exklusivität einer bestimmten Nation oder Rasse behauptet. Er propagiert nationale Intoleranz und diskriminiert Vertreter anderer Völker, er verwirft die Demokratie und will einen Führerkult etablieren. Politische Gegner und jegliche Formen des Andersdenkens will er mit Gewalt und Terror unterdrücken. Er rechtfertigt den Krieg als Mittel zur Lösung zwischenstaatlicher Konflikte.“

Was in Russland vorgeht, entspricht in meinen Augen vollständig dieser Definition. Das Russland von heute sowie das der Vergangenheit und der Zukunft den umgebenden Staaten (vor allem den europäischen) entgegenzuhalten, die Überlegenheit der eigenständigen, russischen Kultur zu behaupten (nicht im engen ethnischen, sondern im imperialen Sinn), die Existenz des ukrainischen Volks, der ukrainischen Sprache und Kultur zu negieren — all dies ist inzwischen Grundlage der heutigen staatlichen Propaganda. Die Ablehnung der Demokratie, der Führerkult und die Unterdrückung des Andersdenkens sind mehr als offensichtlich.

Wer trägt die Verantwortung dafür, dass Russland zum Faschismus gekommen ist? Die einfachste Antwort darauf ist — Putin. Er ist natürlich verantwortlich, aber außer ihm hat eine Vielzahl anderer Personen dazu beigetragen, die diese Richtung nicht unbedingt bewusst gewählt hatten.

Viele sehnten sich nach dem Imperium, nach der „starken Hand“, nach einem mythischen Stalin. Solche Menschen gab es sowohl „oben“, bei der „herrschenden Elite“ — bei Funktionären, Personen aus dem Macht- und Sicherheitsapparat, Abgeordneten, Betriebsdirektoren, „Oligarchen“, als auch „unten“ — unter den am wenigsten begüterten Menschen. Die einen hatten Maybach-Autos, Villen und Jachten, die anderen hatten nicht einmal eine warme Toilette im Haus. Aber sie alle sind rechtslos im autokratischen System Putins.

Für die ersteren brächte es keinen Vorteil, gegen die Rechtlosigkeit zu kämpfen, denn bei keinem anderen Machtsystem hätten sie materiell so profitiert wie in diesem. Aber die bedauerliche Rechtslosigkeit möchten sie irgendwie kompensieren. Sie möchten ihre Machtfülle über die „Leibeigenen“ empfinden und von niemandem kontrolliert werden außer vom obersten Chef. Sie möchten sich als Klasse neuer Adliger fühlen, auserwählt von Geschichte und Vorsehung, um über das Land zu herrschen. Dem standen die rudimentären Reste der Meinungsfreiheit im Weg, verschiedene recherchierende Journalisten, Menschenrechtler, Unruhestifter, die von Zeit zu Zeit die Leute zum Demonstrieren auf die Straße brachten, sowie Konkurrenten unter der „Elite“, die gewisse liberale „Anstandsregeln“ bei der Führung des Lands bewahren wollten.

Die letzteren, die wenig Begüterten, glaubten einfach nicht, dass sie in diesem Kampf Erfolg haben könnten. Das hatte ihnen ihr eigenes schweres Leben gezeigt sowie die Erfahrung ihrer Eltern und Großeltern. Jene, die das kurze Aufkommen einer relativen Demokratie in den 1990er Jahren erlebt hatten, hatte diese Zeit nur in Angst und Schrecken versetzt — alles um sie herum änderte sich, sie mussten in schwierigen Umständen selbst für sich Entscheidungen treffen, und das war beängstigend und ungewohnt. Und diese Angst gaben sie an ihre Kinder weiter — Änderungen führen immer zu einer Verschlechterung. Man muss sich auf die Autorität, die Vorgesetzten verlassen. Das Äußerste, was man unternehmen kann, ist es, Gesuche und Beschwerden an Vorgesetzte zu schreiben.

Die russische Zivilgesellschaft erwies sich als unfähig, solchen Menschen (die zwar nicht die Mehrheit, aber einen erheblichen Teil der Bevölkerung ausmachen) deutlich zu machen und zu erklären, dass es möglich ist, für seine Rechte zu kämpfen. Mitunter stärkten die Menschenrechtler sogar selbst noch solche paternalistischen Tendenzen. Statt die Menschen, die sich an uns gewandt hatten, als Mitstreiter für unseren Kampf zu gewinnen, behandelten wir sie wie Kunden. Wir bemühten uns, ihnen zu helfen, erklärten ihnen aber nicht die Ziele unseres Kampfes. Das Ergebnis war, dass die „Kunden“, nachdem sie unentgeltliche Hilfe bekommen hatten, in ihr früheres Leben zurückkehrten. Bei Wahlen stimmten sie dann erneut für die Personen, die ihnen von ihren Vorgesetzten genannt wurden. Und ihr Elend und ihre Rechtlosigkeit suchten sie mit dem Gefühl zu kompensieren, an etwas Großem teilzuhaben, in der großen Maschinerie des wieder entstehenden Imperiums zumindest auch als ein Schräubchen dabei zu sein.

Putins Regime befriedigte diese Bedürfnisse, jedoch nur zum Teil, nicht immer hinreichend.

Und nun wurde der Krieg als großes verbindendes Ziel verkündet. „Alles für die Front, alles für den Sieg!“ Die Opposition ist komplett unterdrückt, die Überreste jeglicher Freiheiten sind vernichtet. Die Worte „Liberalismus“ und „Demokratie“ öffentlich und ohne negative Bewertung in den Mund zu nehmen, ist gefährlich. Die „da oben“ und die „da unten“ sind vereint in ihrer patriotischen Ekstase und im Hass gegen die unabhängige Ukraine.

Natürlich wird diese Ekstase nicht einmal von der Mehrheit in Russland geteilt, aber bisher eben immer noch von vielen. Die Mehrheit zog es bis vor kurzem vor, aus Selbsterhaltungstrieb die Augen vor der derzeitigen Entwicklung zu verschließen. Es heißt, zu protestieren sei gefährlich, ändern könne man ohnehin nichts, und nutzlose Diskussionen über die Verbrechen unserer Truppen in der Ukraine bringen nur schlaflose Nächte und Nervenprobleme. Besser ist es so zu tun, als glaubte man das, was im Fernsehen erzählt wird, ja sich sogar darum zu bemühen, sich selbst davon zu überzeugen.

Wahrscheinlich verhält sich die Mehrheit in jedem faschistischen Regime eben genau so.

Eine ganz kleine Minderheit versucht zu kämpfen. Es gibt eine Anti-Kriegs-Bewegung im Land. Sie hat ihre politischen Gefangenen, ihre Helden.

Praktisch im Halbuntergrund arbeiten auch die Menschenrechtler weiter. Sie helfen Menschen, auf legaler Grundlage der Mobilisierung und der Einberufung zur Armee zu entgehen, sie stellen die Listen politischer Gefangener zusammen, besorgen ihnen Anwälte, leisten den Flüchtlingen aus der Ukraine rechtliche und humanitäre Hilfe, suchen nach Möglichkeiten für sie, nach Europa zu gelangen. Da allerdings das Recht im Lande außer Kraft ist, muss sich die Menschenrechtsarbeit zwangsläufig anders gestalten und neu ausrichten. Die heutigen russischen Menschenrechtler sind in der Lage der Dissidenten, ihrer Vorfahren zur Sowjetzeit. Das Dokumentieren von Menschenrechtsverletzungen, das Bestreben, die russische und ausländische Öffentlichkeit auf sie aufmerksam zu machen, gewinnt für die Menschenrechtsarbeit immer mehr an Bedeutung. Die Lieblingsthese des großen russischen Menschenrechtlers Sergej Kovaljov: „Tu, was du tun musst, und komme, was will“ ist so aktuell wie nie zuvor.

Wird das in Russland lange so andauern?

Wer weiß?

Die Zukunft unseres Landes wird auf den Schlachtfeldern der Ukraine entschieden. Der Sieg der russischen Truppen wird den Faschismus in Russland für lange stabilisieren. Und umgekehrt…

Im letzten Monat weicht die „Ekstase“, die ich erwähnt habe, ein wenig einem allgemeinen Unbehagen — wie kann das sein, dass die große und unbesiegbare Armee Niederlagen erleidet?

Eine Ernüchterung setzt ein. Sie kann sehr schmerzlich werden.

Unter diesen Umständen hängt viel von den Ländern Mittel- und Westeuropas ab. Es ist vollkommen natürlich für jeden normalen Menschen, dass er den Frieden dem Krieg vorzieht. Aber einen Frieden um jeden Preis? In Europa hat man schon einmal versucht, den Frieden durch eine Befriedung des Aggressors zu erreichen. Die katastrophalen Folgen dieser Versuche sind allen bekannt.

Und jetzt wird das faschistische Russland, das einen Sieg erringt, zwangsläufig zu einer ernsthaften Bedrohung nicht nur für die Sicherheit seiner Nachbarn, sondern für die in ganz Europa.


Der Text gibt die persönliche Position des Autors wieder.

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