„An Euch ist es, zu bezahlen: Feststellung der Verantwortlichen für den Raketenangriff auf Kramatorsk und Bilenke vom 27. Juni 2023“

Ein Team von Ermittlern hat festgestellt, dass der Angriff durch die 47. Raketenbrigade der 8. Armee der russischen Streitkräfte unter dem Befehl von Oberst Vitalij Bobyr mit Marschflugkörpern des Typs „Iskander-K“ durchgeführt wurde.
18. November 2023UA DE EN ES FR IT RU

Фото надано Truth Hounds журналісткою Анастасією Тейлор-Лінд

Folgen des Raketeneinschlags in Kramatorsk. Das Foto wurde Truth Hounds von der Journalistin Anastasija Taylor-Lind zur Verfügung gestellt

Dieser Angriff ist als Kriegsverbrechen zu bewerten, da es sich um einen unterschiedslosen, undifferenzierten Angriff handelt.

Um diese Daten zu erheben sprachen die Mitarbeiter von Truth Hounds mit 22 Augenzeugen und Verletzten, auch solchen, die bisher noch überhaupt nicht befragt worden waren. Auf einer Mission in das Gebiet untersuchten sie die Natur der Zerstörungen und die Einschlagsstellen, überprüften die OSINT-Aufklärungsdaten und studierten die Anwendung des humanitären Völkerrechts und des internationalen Strafrechts. Für den Bericht wurden zwei Fassungen erstellt. Eine davon enthält zusätzliche Details, sie ist für die ukrainischen Strafverfolgungsorgane bestimmt. Zweck dieser Aufteilung ist es, sensible Informationen über die Umstände des Verbrechens zu schützen und die Ermittlungsorgane mit einer Beweisgrundlage zu versorgen. Details, die die nichtöffentliche Version enthält, haben keinen Einfluss auf die Ergebnisse oder die rechtliche Bewertung des Vorfalls.

Bestimmung der Waffengattung und der Ausführenden des Angriffs

Am 27. Juni 2023 wurde ein doppelter Raketenangriff durchgeführt — um 19.32 einer gegen Kramatorsk und ein zweiter um 19.33 gegen die angrenzende Siedlung Bilenke im Gebiet Donezk. 13 Personen kamen dabei ums Leben, über 60 wurden verletzt. Unter den Getöteten ist Viktoria Amelina, Ermittlerin von Truth Hounds und Mitglied des ukrainischen PEN.

Aufgrund der Analyse der Beschädigungen im Restaurant „Ria Lounge“ in Kramatorsk, der Parameter des Trichters in Bilenke und der darin gefundenen Munitionsreste, der Zeugenaussagen und anderer spezifischer Merkmale konnte Truth Hounds nachweisen, dass die russischen Truppen diesen Angriff mit Marschflugkörpern des Typs „Iskander-K“ ausgeführt hatten.

Die festgestellten Tatsachen zeugen davon, dass die Raketen im Südwesten der betroffenen Ortschaften gestartet wurden, in einem Gebiets, dass sich im Verantwortungsbereich des Südlichen Militärbezirks der russischen Truppen befindet. Dazu gehören vier Unterabteilungen, die mit operativ-taktischen „Iskander“-Komplexen ausgerüstet sind. Nachdem ihr Stationierungsorts und die Richtung der Kampfhandlungen zum Zeitpunkt des Angriffs analysiert worden waren, ließ sich der Kreis der möglichen Verantwortlichen jedoch auf eine Unterabteilung beschränken. Dabei handelt es sich um die 47. Raketenbrigade der 8. Armee der Streitkräfte der Russischen Föderation unter dem Kommando von Oberst Vitalij Bobyr.

Наслідки влучання ракети в Біленькому, фото надано Truth Hounds журналіст(к)ами Kramatorsk Post

Folgen des Raketeneinschlags in Bilenke. Das Foto wurde Truth Hounds von „Kramatorsk Post“ zur Verfügung gestellt

Legitime militärische Ziele

Nach der Befragung von zehn Augenzeugen — Besuchern und vier Mitarbeitern der „Ria Lounge“, die am Tag des Angriffs Dienst hatten —, wurde festgestellt, dass sich an jenem Tag längere Zeit annähernd 40 Soldaten einer Unterabteilung der ukrainischen Truppen auf einer privaten Veranstaltung in dem Gebäude befanden, einschließlich Vertreter ihres Kommandos.

Die Veranstaltung war einen Monat zuvor geplant worden. Es sollte zwei Teile geben: die ersten Soldaten sollten um 13 Uhr eintreffen und die zweite Gruppe um 19 Uhr. Beide Gruppen zählten je 20 Personen. Allerdings stimmten nicht alle Zeugen darin überein, dass die zweite Gruppe von Militärs, die abends kommen sollte, an diesem Tag überhaupt erschienen ist. Parallel sollte zur gleichen Zeit eine weitere Veranstaltung in Bilenke stattfinden, im Café „Laguna“, das an der Ecke der Bjeljajeva— und Sofijivska Straße liegt. Die zweite Rakete schlug zehn Meter von diesem Café entfernt ein.

In der Untersuchung demonstriert Truth Hounds, dass am Tag des Angriffs der Anteil der anwesenden Militärs hoch war: Die meisten Befragten stimmen darin überein, dass im Hauptsaal der „Ria Lounge“ ukrainische Soldaten die Hälfte der Besucher stellten. Außerdem waren wie gesagt an diesem Tag dort zwei Festveranstaltungen für die Soldaten im Keller des Restaurants geplant. Wenn man berücksichtigt, dass dies den Russen möglicherweise bekannt war, ist die Annahme plausibel, dass die Russische Föderation das Restaurant „Ria Lounge“ und das Café „Laguna“ für legitime Angriffsziele hielt.

Наслідки влучання ракети в Краматорську, фото надано Truth Hounds журналістом Войцехом Гжедзінським

Folgen des Einschlags der Rakete in Kramatorsk. Das Foto wurde Truth Hounds vom Journalisten Wojciech Grzedzinski zur Verfügung gestellt

Juristische Bewertung

Wenngleich sich unter den Besuchern der „Ria Lounge“ am Abend des Angriffs ein hoher Prozentsatz ukrainischer Soldaten befand, ist dieser Doppel-Raketenangriff auf Kramatorsk und Bilenke als Kriegsverbrechen zu werten, weil es sich um einen unterschiedslosen, undifferenzierten Angriff handelte.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet nicht nur Angriffe auf zivile Objekte. Verboten sind auch unterschiedslose Angriffe, die „Verluste an Menschenleben unter der Zivilbevölkerung, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder mehrere derartige Folgen zusammen verursachen, die in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.“

Das beschädigte Objekt lag in einem dichtbesiedelten Bezirk einer großen Stadt und wurde von Zivilisten wie Soldaten aufgesucht. Die einzigen Ziele, deren Beschädigung legitim hätte sein können, waren die ukrainischen Soldaten. Die Tatsache, dass das Angriffsziel nicht statisch, sondern beweglich war, hätte den Angreifer veranlassen müssen, das Ziel sorgfältig zu kontrollieren. Wie die Ermittler von Truth Hounds klärten, wurde dies von russischer Seite unterlassen.

Der Einsatz eines Marschflugkörpers — einer Waffe mit großer Zerstörungskraft — zeugt davon, dass der Täter um die möglichen Folgen wusste und den unverhältnismäßigen Schaden nicht vermeiden wollte, den dieser Angriff bewirken konnte (und auch tatsächlich bewirkte).

Der Flug der Rakete, wie er in der Untersuchung demonstriert wurde, dauerte ungefähr 18 Minuten. Das lässt darauf schließen, dass die Angreifer von Kramatorsk das Ziel in der Zeit zwischen Start und Einschlag nicht kontrollierten und folglich auch nicht genau wissen konnten, ob sich im Gebäude noch Soldaten befanden und wer genau durch die Rakete verletzt würde. Letztlich kam es denn auch so: Unter den Soldaten wurden nicht mehr als zwei Todesfälle dokumentiert.

Angesichts der erheblichen Zerstörungskraft von Marschflugkörpern, die gegen ein Objekt eingesetzt werden, das sich in einem dichtbesiedelten Bezirk einer großen Stadt befindet, sowie der fehlenden Kontrolle des Ziels zwischen Start und Einschlag der Rakete, kommt Truth Hounds zum Schluss, dass die Angreifer wussten, welchen unverhältnismäßigen Schaden der Angriff bei Zivilisten bewirken konnte und in der Tat bewirkte, dass sie diesen aber nicht verhindern wollten.

Die große Reichweite von Marschflugkörpern in Kombination mit der fehlenden Kontrolle des Ziels durch die Angreifer sind ein Indiz dafür, dass die Angriffe auf das Restaurant „Ria Lounge“ und das Café „Laguna“ unterschiedslos erfolgten.

Наслідки влучання ракети в Краматорську, фото зроблене документатор(к)ами Truth Hounds 02.08.2023 р.

Folgen des Raketenangriffs in Kramatorsk. Foto: Truth Hounds, 2.8.2023

Einsatz von „Iskander“-Raketen durch russische Truppen

Zudem ist der analysierte Angriff auf Kramatorsk und Bilenke nur ein einzelner Vorfall in einer ganzen Reihe von Aktionen der russischen Armee, in denen sich ein bewährtes Muster erkennen lässt. Es besteht in Angriffen auf oft legitime militärische Ziele, die so geplant und ausgeführt werden, dass zusätzlich möglichst viele Zivilisten verletzt werden.

Mit diesem Vorgehen soll erreicht werden, dass Zivilisten zunehmend Angst bekommen, sich in der Nähe von Soldaten aufzuhalten. Es soll die Ukrainer spalten, die Truppen marginalisieren und von der übrigen Gesellschaft isolieren.

Zu weiteren Angriffen, die in dieses Muster passen, gehören:

  • 4. Juli 2023: Angriff mit einem Iskander-Marschflugkörper auf die Stadt Pervomajskyj im Gebiet Charkiv. Damals schlug die Rakete in der Nähe einer Trauerfeier für gefallene Soldaten aus der Spezial-Einheit „Kraken“ ein.
  • 19. August 2023: Angriff mit einer „Iskander-K“ ohne Aufschlagzünder auf das Schauspielhaus in Tschernihiv. Obwohl sich im Theater Ausrüstung und Personen befanden, die als legitime Angriffsziele gelten konnten, zeugt der gewählte Typ des Zünders von der Absicht des Angreifers, bewusst eher Zivilisten in der Umgebung des Ziels zu treffen als die Soldaten und Drohnenproduzenten innerhalb des Gebäudes.
  • 5. Oktober 2023: Russische Truppen griffen das Dorf Hrosa im Gebiet Charkiv mit einer ballistischen „Iskander-M“-Rakete an. Zu diesem Zeitpunkt versammelten sich gerade die Dorfbewohner anlässlich der Umbettung eines Dorfbewohners — eines Soldaten — in einem örtlichen Café. Bei diesem Angriff kamen 59 Zivilisten ums Leben.

Quelle: Truth Hounds

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