In der Ukraine stellt eine Expertengruppe Beweismittel für den Beleg eines Genozids zusammen

Ukrainische Strafverfolgungsbehörden und internationale Experten bereiten gemeinsam den Nachweis für den Genozid vor, den russische Truppen in der Ukraine begangen haben.
Maryna Harieieva13. November 2023UA DE EN ES FR RU

Маріуполь 22 квітня. Фото: Маріупольська міська рада. Мариуполь 22 апреля. Фото: Мариупольский городской совет.

Mariupol, 22. April. Foto: Stadtrat Mariupol

Dass ukrainische Staatsanwälte gemeinsam mit internationalen Experten Beweismittel für das „Verbrechen der Verbrechen“ zusammenstellen, berichtete Generalstaatsanwalt Andrij Kostin anlässlich einer Diskussion des Centrums für europäische Politik in Brüssel. „Im Büro des Generalstaatsanwalts arbeitet eine Expertengruppe an einem Genozid-Verfahren. Wir erarbeiten schrittweise eine vollständige Beweisgrundlage“, erklärte er. Er hegt keinen Zweifel, dass ukrainische Strafverfolgungsbehörden gemeinsam mit den weltweit besten Spezialisten „genügend Beweismittel“ erheben können, „damit es zu einer Verurteilung derer kommt, die für dieses Verbrechen die Verantwortung tragen“ kommt.

Der ukrainische Generalstaatsanwalt äußerte sich auch zu den Voraussetzungen für die Schaffung eines Sondertribunals und zur Arbeit des Internationalen Zentrums zur Verfolgung des Verbrechens der Aggression (ICPA). Laut Kostin diskutieren die Mitglieder der Gründungsgruppe für das Sondertribunal derzeit sein juristisches Modell. Dabei geht es vor allem um zwei wesentliche Bedingungen, die die Ukraine fordert: Die höchste militärpolitische Führung muss zur Verantwortung gezogen werden, und das Sondertribunal soll ein internationales Tribunal sein.

„Das Hauptziel ist, dass jene, die diesen Aggressionskrieg begonnen haben und ihn fortsetzen, bestraft werden. Das Tribunal muss eine internationale Dimension haben, da diese Aggression kein regionaler Konflikt ist, sondern ein globaler Krieg. Es gibt kein einziges Land auf der Welt, das von dieser bewaffneten Aggression nicht betroffen wäre“, hebt Kostin hervor.

Der Generalstaatsanwalt erwähnte auch das Internationale Zentrum zur Verfolgung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine, das seit Juli dieses Jahres in Den Haag tätig ist und Beweismittel für das künftige Sondertribunal sammelt.

„Das Team von Staatsanwälten aus der Ukraine und den Mitgliedsländern der Gemeinsamen Ermittlungsgruppe — mit Unterstützung von Staatsanwälten aus weiteren Ländern, darunter den USA — ist schon dabei, den Tatbestand der Aggression zu dokumentieren. Sie bereiten den Fall auf, damit er dem künftigen Tribunal vorgelegt werden kann“, erklärte Kostin.

Der genozidale Krieg der Russischen Föderation

In der Resolution vom 12. Oktober 2023 stellten die Abgeordneten der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE) fest, dass die Russische Föderation (RF) in der Ukraine einen genozidalen Krieg führt. Einige Verbrechen der russischen Besatzer in der Ukraine, die im Verborgenen stattfinden, insbesondere die Deportation ukrainischer Kinder, sexuelle Gewalt, sowie auch die Rhetorik der russischen Behörden „zeugen vom Versuch der RF; das ukrainische Volk in einem genozidalen Krieg zu vernichten“, heißt es in der Resolution. Russland hat eine flächendeckende militärische Invasion eingeleitet. Zu den Waffen, die es „ohne zu zögern, einsetzt, gehören Energie, Ökozid, wirtschaftliche Hebel sowie die Ausgabe russischer Pässe an ukrainische Staatsbürger und illegale Pseudowahlen und -referenden“ in den zeitweilig besetzten Gebieten der Ukraine. Die Europa-Abgeordneten sind überzeugt, dass all diese Fakten belegen, dass das russische Regime gegen das ukrainische Volk einen genozidalen Krieg führt.

Wie die Journalistin der Charkiver Menschenrechtsgruppe (ChMG), Iryna Skatschko, unterstreicht, ist es nach dem Römischen Statut ein Kriegsverbrechen, vorsätzlich Hunger als Methode der Kriegsführung einzusetzen, indem der Zivilbevölkerung die für das Überleben notwendigen Mittel vorenthalten werden. Allerdings sei Russland in Mariupol noch weitergegangen, es habe die Stadtbewohner faktisch vernichtet und damit einen Genozid begangen.

Ende August 2023 präsentierte die Menschenrechts-Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P) eine Eingabe an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) zum Genozid durch die RF in Mariupol. Die Menschenrechtsaktivisten lieferten erstmals eine juristische Begründung für „das Verbrechen der Verbrechen“. Wie einer der Autoren der Eingabe, der Experte der ChMG Mychajlo Romanov, berichtete, fanden auf dem Stadtgebiet von Mariupol drei Akte eines Genozid statt: Morde; die Schaffung von Lebensbedingungen, die zur Vernichtung einer geschützten Gruppe führen; und die Deportation von Kindern. Eine weitere Autorin, Kateryna Burjakovska, schilderte ausführlich, wie die Russen durch Hunger und das Fehlen von Trinkwasser Einwohner von Mariupol vernichteten. Nach Angaben von Augenzeugen tranken die Menschen Regenwasser, sie sammelten Schnee oder entnahmen Wasser aus den Heiznetzen, um sich zumindest die Hände waschen zu können. Am 6. März 2022 habe der Stadtrat von Mariupol vom Tod eines sechsjährigen Kindes berichtet, das infolge von Dehydrierung verstorben sei; seine Mutter sei vorher durch Beschuss getötet worden.

Internationale und ukrainische Experten hatten bereits früher festgestellt, dass Russland die Welt mit Hunger erpresst und Hunger als Waffe einsetzt. Von Massenhunger als Waffe der RF ist auch in dem Dossier über Kriegsverbrechen der RF die Rede, das Juristen und Menschenrechtler der Firma Global Rights Compliance erstellt haben, die mit dem Büro des Generalstaatsanwalts der Ukraine zusammenarbeiten. Das entsprechende Dokument soll dem IStGH übermittelt werden: Es kann als Grundlage für die Strafverfolgung dienen und eine Anklage gegen Vladimir Putin ermöglichen. Wie der leitende Anwalt von Global Rights Compliance, Yusuf Syed Khan, feststellte, „ist der Einsatz von Nahrung als Waffe“ seit dem flächendeckenden Einmarsch der RF „in drei Etappen erfolgt“. In der ersten Etappe waren ukrainische Städte von russischen Streitkräften umzingelt, und Lebensmittellieferungen dorthin hatten aufgehört. Die zweite Etappe bestand in der Vernichtung von Lebensmittelvorräten und Wasser sowie in der Zerstörung von Energieträgern in der gesamten Ukraine. Juristen merkten an, dass es dabei um „Objekte ging, die zum Überleben der Zivilbevölkerung notwendig sind“. Zur dritten Etappe rechneten die Juristen die Versuche Russlands, den Export ukrainischer Lebensmittelprodukte zu verhindern oder zu begrenzen. Unter anderem nahm das Team von Global Rights Compliance auch Mariupol ins Dossier auf. Als sich die Stadt bereits unter Kontrolle russischer Truppen befand, wurden keine Lebensmittel mehr nach Mariupol geliefert. Damals blockierten oder bombardierten die Russen die Korridore, die für humanitäre Hilfsgüter vorgesehen waren. Das hatte zur Folge, dass die Mariupoler weder etwas zu Essen hatten noch der russischen Besatzung entfliehen konnten, heißt es im Dossier.

Wie der Direktor der ChMG Jevhen Sacharov anmerkte, starben Menschen in Mariupol, die in den höheren Stockwerken lebten, an Hunger und Durst, weil man sich zu ihnen keinen Zugang verschaffen konnte. Auf diese Weise setzten die Vertreter der RF das Werk Stalins fort und vernichteten die Ukrainer in einer neuen Welle des Genozids. Im Falle des Holodomor hatte die Sowjetunion jedoch alle Angaben unter Verschluss gehalten, und man konnte den Mord an Ukrainern und Ukrainerinnen erst untersuchen, nachdem die Sowjetunion zerfallen und eine unabhängige Ukraine entstanden war. Jetzt ist das laut Sacharov völlig anders. Alles vollzieht sich vor den Augen der Ukraine und der gesamten Weltöffentlichkeit. Daher kann der Genozid auch wesentlich schneller erforscht werden. „Vor allem hängt dies alles davon ab, wann Russland den Krieg verliert. Sobald es besiegt ist, wird sich das Regime ändern. Ein neues Regime wird gezwungen sein, die von Russland begangenen Verbrechen anzuerkennen. Dann wird alles recht schnell gehen“, sagt Jevhen Sacharov.

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