‚Der Begriff des Genozids bedarf einer Revision‘ — der Autor der Eingabe über den Genozid in Mariupol

Am 28. August hat die Initiative T4P eine Eingabe an den Internationalen Strafgerichtshof über den Genozid präsentiert, den Russland in Mariupol begangen hat. Über die Perspektiven dieses Dokuments sprechen wir mit einem der Autoren, dem Experten der Charkiver Menschenrechtsgruppe Mychajlo Romanov.
Iryna Skatschko09. September 2023UA DE EN ES FR IT RU

© Денис Волоха / Харківська правозахисна група © Денис Волоха / Харьковская правозащитная группа

© Denys Volocha / Charkiver Menschenrechtsgruppe

Das ist das erste Dokument, in dem systematisch begründet wird, dass der staatliche Aggressor auf ukrainischem Territorium das „Verbrechen aller Verbrechen“ begangen hat. Einer der Autoren des Dokuments, Mychajlo Romanov, hält den Nachweis eines Genozids zwar nicht für einfach, aber für notwendig. Außerdem ist er überzeugt, dass die juristische Begründung für die Definition des Genozid veraltet ist und revidiert werden muss. Dies hat am deutlichsten der russisch-ukrainische Krieg vor Augen geführt.


Mychajlo, was ist das Wesentliche in dieser Eingabe?

Wir sind überzeugt, dass in Mariupol und den Gemeinden in der näheren Umgebung ein Genozid verübt wurde, der sich in drei Formen vollzog: das waren Morde, dann die Schaffung von Lebensbedingung, die zur Vernichtung einer geschützten Gruppe führen, und die Deportation von Kindern.

Wir definieren die geschützte Gruppe durch ein nationales Kriterium: Es handelt sich um Ukrainer mit einer gemeinsamen Staatsbürgerschaft, gemeinsamen Rechten und Pflichten. Sie identifizieren sich mit dem ukrainischen Staat. Die nationale Zugehörigkeit von Mariupol erlebte bereits 2014 einen Test. Deshalb glauben wir, dass die Menschen, die dort geblieben sind, sich mit der Ukraine identifizierten.

Hat es in der Rechtspraxis schon Fälle gegeben, in denen ein Genozid einer geschützten Gruppe untersucht wurde, die nicht ethnisch, rassisch oder religiös definiert wurde, sondern als national im politischen Sinn?

Das gab es in Ad-Hoc-Tribunalen. Aber das geschah selten und war weniger erfolgreich als in Fällen mit religiösen oder ethnischen Gruppen, die sich einfacher feststellen lassen. Was tut Russland? Die Russen schlagen vor, russische Pässe anzunehmen und nivellieren auf diese Weise diese geschützte nationale Gruppe, indem sie den Eindruck erwecken, den Menschen sei es gleichgültig, welchem Staat sie angehören. Auf diese Weise vernichten sie diese Gruppe ebenfalls. Bei internationalen Tribunalen haben einige Richter die Auffassung vertreten, dass eine Gruppe nicht nur physisch und biologisch vernichtet werden kann, sondern auch auf anderen Wegen, zum Beispiel indem man sie einfach als Phänomen auslöscht.

Маріуполь 22 квітня. Фото: Маріупольська міська рада Мариуполь 22 апреля. Фото: Мариупольский городской совет

Mariupol am 22. April. Foto: Stadtrat von Mariupol

Putin und andere russische Machthaber haben sich vielfach über die Vernichtung der Ukraine als solcher, des ganzen Staates, geäußert. Wie kann man ihre verbrecherischen Absichten konkret im Hinblick auf Mariupol nachweisen?

Wir vertreten die These, dass es an anderen Orten den Russen einfach nicht gelang, ihr Vorhaben umzusetzen. Es gab massiven Widerstand. Mariupol ist strategisch und geographisch so gelegen, dass es bereits zu Beginn der Invasion zur Hälfte umzingelt war: Im Osten war Russland, im Süden das Meer, das die Russische Föderation ebenfalls kontrollierte.

Wurde die Zahl der Opfer bereits errechnet?

Endgültige Zahlen gibt es noch nicht. Wir haben versucht, diese Zahl auf indirekten Wegen zu errechnen. Es ergaben sich ungefähr 80.000 Fälle. Das ist natürlich eine nur sehr annähernde Angabe, die Zahl wird wahrscheinlich noch ansteigen. Ein Teil der Menschen wurde gegen ihren Willen deportiert. Sie können auch als Opfer eines Genozids betrachtet werden.

Wenn der Internationale Strafgerichtshof mit der Untersuchung beginnt, haben Sie Zeugen, die bereit sind, über das Verbrechen zu berichten?

Was Morde und Verletzungen betrifft, so gibt es solche Personen unter denen, die Mariupol verlassen haben. Den Nachweis zu führen, dass es Zerstörungen gegeben hat und dass Lebensbedingungen geschaffen wurden, die zur Vernichtung der geschützten Gruppe führen, ist auch nicht schwer. Man braucht nur die Satellitenaufnahmen und „Google-Maps“ aus den Zeiten vor und nach dem Einmarsch zu konsultieren. Stellenweise ist da nur noch eine Wüstenei. Etwas anderes ist der Nachweis eines ausdrücklichen Vorsatzes. Dieser muss zweifelsfrei feststehen, es darf keinerlei Zweifel geben.

Vom Standpunkt der Ukrainer gibt es keine Zweifel mehr daran, dass diese Absicht besteht …

Es geht darum, sich eines Genozids zu vergewissern, nicht ihn zu beweisen. Ihn nachzuweisen bedeutet Beweismittel zu sammeln, die das Bestehen eines Vorsatzes bestätigen. Dafür müssen wir eine Ausgangsbasis haben, wo wir diese Absicht bereits sehen, und hier die Beweismittel hinzufügen. Es ist sehr schwer, so eine Ausgangsbasis für einen Genozid zu finden. Aber ich denke, wir müssen trotzdem alle Erkenntnisse dazu zusammenstellen und auf diese Weise eine Welle von Informationen liefern, die nach einiger Zeit die Tatsache evident machen könnte, dass wirklich ein Genozid begangen wurde.

Маріуполь, зруйнований ПК “Молодіжний”. Фото з телеграм-каналу Маріупольської міськради Мариуполь, разрушенный ДК “Молодежный”. Фото из телеграмм-канала Мариупольского горсовета

Mariupol, der zerstörte Kulturpalast „Molodezhnyj“!. Foto aus dem Telegram-Kanal des Stadtrats von Mariupol

Die Russen haben ebenfalls versucht, die Ukraine des Genozids zu beschuldigen.

Soweit ich mich erinnere, haben sie die Ukrainer des Genozids im Donbas bezichtigt. Aber dafür gibt es keinerlei Anzeichen. Ich meine die Merkmale, wie sie im Römischen Statut formuliert sind. Ich bin kein Militärstratege, aber zu dem Zeitpunkt, zu dem das passierte, verfügte die Ukraine gar nicht über solche wahllosen Vernichtungswaffen, die dazu hätten führen können. Und die Kräfteverteilung war nicht so, dass das Prinzip der Verhältnismäßigkeit verletzt worden wäre, wie es im gesamten humanitären Völkerrecht verankert ist. Die Ukraine hat ein Verfahren gegen die russische Aggression initiiert. Da fiel von russischer Seite als Gegenargument der Ausdruck Genozid.

Sprechen wir von der Deportation von Kindern als einer Form des Genozids. Das Hauptargument der Russen besagt, dass sie im Interesse der Kinder handeln. Wie soll man damit umgehen? Wird das nicht einem Nachweis des Verbrechens im Wege stehen?

Hier gibt es Regeln im humanitären Völkerrecht, die vorsehen, dass bei solchen Konflikten der angreifende Staat bestimmte Schritte unternehmen muss, wenn die Sicherheit von Kindern betroffen ist. Wenn sie einen Teil der Bevölkerung wegbringen und Kinder evakuieren, dann muss das erstens auf freiwilliger Basis geschehen und ohne Familien zu trennen. Ihnen muss eine Unterkunft zur Verfügung gestellt werden. Und danach müssen die Personen, die mit ihrem Einverständnis evakuiert wurden, über sichere Gebiete in ihr Land zurückgebracht oder einem neutralen Staat übergeben werden, der die Verantwortung für die Kontrolle dieses Konflikts übernommen hat. Deshalb sind die Argumente der Russen, dass sie im Interesse der Kinder gehandelt hätten, vollkommen inakzeptabel.

Dieser Teil der Eingabe hat also die größte Erfolgsaussicht?

Ich glaube ja. Gerade deshalb hat der IStGH ja auch den Haftbefehl wegen dieser Verbrechen ausgestellt, weil sie am offensichtlichsten sind. Da liegt etwas vor, worauf man sich stützen kann. Aber ich erinnere daran, dass das im Büro des Staatsanwalts des IStGH als Kriegsverbrechen untersucht wird und nicht als Genozid.

Weshalb sollte man diese Verbrechen überhaupt als Genozid einstufen? Man könnte sie doch als Kriegsverbrechen verurteilen und es damit bewenden lassen. Was erreichen wir damit?

Das ist schon eine halbphilosophische Frage. Wir beobachten eindeutig die historische Tendenz, dass die ukrainische Nation nicht als solche wahrgenommen wird. Das zeigt sich am Holodomor und an weiteren Beispielen. Es dient also der Selbstvergewisserung der ukrainischen Nation insgesamt. Auch vom juristischen Standpunkt aus scheint es mir wichtig, obwohl ich die Position vertrete, dass es den Begriff des Genozids zu revidieren gilt. Er ist durch die Zeit widerlegt. Er funktioniert nicht. Jetzt läuft das so: Wenn der politische Wille besteht, erkennen wir ein Verbrechen als Genozid an, wenn nicht, dann nicht. Vom rechtlichen Standpunkt aus ist das inakzeptabel.

Sie denken also, dass die juristische Definition eines Genozids einer Revision bedarf?

Ja. Mir scheint, dass es in dieser Definition keine klaren Kriterien gibt. Faktisch ist sie so formuliert, dass ein doppelter Vorsatz nachzuweisen ist, was der ukrainischen Rechtsauffassung zuwiderläuft. Es gibt eine Absicht. Wie kann sie doppelt sein? Das ist so, als würde man beweisen, dass ein Mord vorliegt, aber der Mord durch Enthauptung sei aufgrund einer weiteren, speziellen Absicht geschehen.

Das heißt eine doppelte Absicht wäre zunächst die Absicht, eine geschützte Gruppe zu vernichten und dann, dies auf eine bestimmte Weise zu tun?

Ja, und das zu beweisen ist ein Nonsens. Wenn jemand eine Gruppe vernichten will, welche Bedeutung hat es dann, auf welche Weise er dies tun wird? Das ist der erste Mangel dieser Konstruktion.

Der zweite — und das kann man häufig an der Praxis der Ad-Hoc-Tribunale sehen — ist, dass diejenigen, die den Genozid ausführen, bestenfalls Personen aus dem mittleren Glied der Entscheidungsträger sind. Vertreter der höchsten Ebene sitzen fast nie auf der Anklagebank, obwohl das unverständlich ist. Der Genozid ist eine globale Absicht. ES kann nicht sein, dass ein „Major Petrov“ allein beschlossen hat, alle Ukrainer zu töten.

Ein drittes Moment: Seinerzeit ging Raphael Lemkin davon aus, dass es beim Genozid nicht auf das Wie ankommt, sondern dass das Endziel entscheidend ist. Als er diese Konzeption entwickelte, benutzte er beispielsweise den Begriff des „kulturellen Genozid“. Er gab ihm sogar den Vorzug. Es reicht ja, das Fundament, die Kultur, zu zerstören, dann wird es kein Gebäude mehr geben. Aber damals wurde das nicht akzeptiert. Mir ist auch klar, warum nicht. Diese Konzeption haben ja Länder untersucht, die in ihrer Mehrheit selbst imperiale Großmächte waren. Sie hätten sich damit selbst den Ast abgesägt, auf dem sie saßen.

Книги з бібліотечних фондів Приазовського державного університету. Фото оприлюднене в телеграм-каналі Маріупольської міської ради. Книги из библиотечных фондов Приазовского государственного университета. Фото обнародовано в телеграмм-канале Мариупольского городского совета.

Buch aus dem Bibliotheksbestand der Pryasovsker Staatsuniversität. Das Foto wurde im Telegram-Kanal des Stadtrats von Mariupol veröffentlicht.

Eine weitere Tatsache, die für die Fragwürdigkeit dieser Konstruktion spricht, ist die Geschichte mit Kambodscha. Da sind furchtbare Dinge geschehen, aber das wurde nicht als Genozid anerkannt, so abwegig das ist.

Und ein letztes, nicht unwichtiges Moment. Russland ist eine hochgerüstete Atommacht. Es kann mit einer Raketenattacke eine Stadt auslöschen. Und das wird kein Genozid sein, weil das nicht unter die derzeitige Definition fällt. Ist eine atomare Erpressung etwa kein Genozid? In der heutigen Zeit kann ein Genozid in ganz anderer Weise begangen werden, ohne physischen Kontakt. Deshalb ist der Begriff des Genozids einer Revision zu unterziehen.

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