Folterungen von Ukrainern im Gebiet Charkiv während der Besatzung

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe dokumentiert internationale Verbrechen (Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen), die Soldaten der Russischen Föderation mutmaßlich in der Ukraine und insbesondere im Gebiet Charkiv begangen haben.
Vladyslav Dolzhko30. September 2023UA DE EN ES FR RU

Вхід до катівні у Козачій Лопані, © Анна Черненко / Громадське Вход в пыточную в Казачьей Лопани, © Анна Черненко / Громадське

Eingang in einen Folterkeller in Kosatscha Lopan © Anna Tschernenko / Gromadske

Diese Publikation behandelt Vorfälle, bei denen es Hinweise auf Folterungen gibt, die russische Soldaten mutmaßlich gegen Ukrainer angewandt haben. Die Untersuchung basiert auf Angaben, die die Charkiver Menschenrechtsgruppe (ChMG) in der Datenbank von „T4P“ vom 24. Februar bis zum 15. September 2023 zusammengestellt hat.

Die Sammlung von Informationen wird fortgesetzt. Die ChMG gewährt den Opfern internationaler Verbrechen weiterhin rechtliche, psychologische und humanitäre Unterstützung.

Die vollständige Version dieses Artikels ist hier zugänglich.

Überblick

Vom 24. Februar 2022 bis zum 15. September 2023 hat die ChMG 308 Fälle von Folterungen oder unmenschlicher Behandlung dokumentiert.

Die meisten davon — insgesamt 165 — wurden im zeitweilig besetzten Territorium des Gebiets Charkiv im Bezirk Isjum registriert. In den besetzten Teilen des Bezirks Charkiv waren es 53, im Bezirk Kupjansk 48, im Bezirk Tschuhujiv 41.

Nach den Erkenntnissen der ChMG wurden während der Besatzung im Gebiet Charkiv in der Stadt Isjum die meisten dieser Vorfälle verzeichnet, nämlich 68.

Grausame Haftanstalten und Folterstätten

Im genannten Zeitraum hat die ChMG Zeugnisse aus erster Hand von Zivilisten dokumentiert, die von Soldaten der Russischen Föderation (RF) in 15 verschiedenen besetzten Orten des Gebiets Charkiv unrechtmäßig festgenommen und gefoltert wurden. Im Gebäudekomplex des Aggregat-Werks in Vovtschansk im Gebiet Charkiv kam es während der Besatzung am häufigsten zu grausamer Haft und Folterungen von Zivilisten.

In seinem Interview berichtete der stellvertretende Direktor des Werks Oleh Toporkov, dass die russischen Truppen während der zeitweiligen Besetzung dieses Territoriums die Fabrik zu einem „Konzentrationslager im großen Stil“ gemacht hätten.

На підприємстві росіяни облаштували ‘справжню катівню’, бо вивозити всіх підозрілих людей до Росії було незручно, — говорить Олег Топорков, якого самого вивозили на допит до Бєлгорода. © Вовчанський агрегатний завод/YouTube На предприятии россияне обустроили ‘настоящую пыточную’, потому что вывозить всех подозрительных людей в Россию было неудобно, — говорит Олег Топорков, которого самого вывозили на допрос в Белгород. © Волчанский агрегатный завод/YouTube

Auf dem Unternehmensgelände richteten die Russen ein „ausgesprochenes Folterlager“ ein, weil es für sie unpraktisch war, alle ihnen verdächtig scheinenden Personen nach Russland zu schaffen“, sagt Oleh Toporkov, der selbst zum Verhör nach Belgorod gebracht worden war. © Aggregat-Werk Vovtschansk / YouTube

Neben den Erkenntnissen, die aus persönlichen Kontakten mit Opfern und Zeugen von Foltern gewonnen wurden, sammelt und analysiert die ChMG auch Informationen aus offenen Quellen. Sie hat Daten über 25 Haftanstalten und Folterstätten im zeitweilig besetzten Teil des Gebiets Charkiv dokumentiert.

Die von der ChMG zusammengestellten Informationen lassen vermuten, dass die russischen Truppen insbesondere in den zeitweilig besetzten Teilen des Gebiets Charkiv ein strukturiertes zweistufiges Netz von Hafteinrichtungen und Folterstätten betrieben, in denen Zivilisten unrechtmäßig festgehalten wurden.

In den Hafteinrichtungen der „ersten Stufe“ [1] hielten die russischen Soldaten festgenommene Zivilisten verhältnismäßig kurze Zeit gefangen; an diesen Orten wurden die ersten so genannten „Verhöre“ [2] durchgeführt. In den Haftanstalten der „zweiten Stufe“, wohin die Opfer danach gebracht wurden, wurde gewöhnlich über ihren weiteren Verbleib in Haft und die Durchführung weiterer „Verhöre“ oder über ihre Freilassung entschieden.

Катівня у Козачій Лопані © Харківська обласна прокуратура Пыточная в Казачьей Лопане © Харьковская областная прокуратура

Folterkammer in Kosatscha Lopan © Staatsanwaltschaft des Gebiets Charkiv

Foltermethoden

Die gleichartige Methode bei den Folterungen auch an Orten, die weit voneinander entfernt liegen, bestätigt, dass es sich um ein systematisches und gezieltes Vorgehen handelt.

Катівня в Шевченковому © Донбас.Реалії Пыточная в Шевченково © Донбасс.Реалии

Folterkammer in Schevtschenkovo © Donbass Realii

Auf Grund von Zeugenaussagen der Opfer, kann man einige verbreitete Foltermethoden anführen, insbesondere:

  • Schläge ins Gesicht, auf den Kopf und den Körper: Faustschläge (auch in taktischen Handschuhen), Fußtritte, Schläge mit Gegenständen (Gewehrkolben, Gummi— und Holzknüppel, Gurte usw.);
  • Elektroschock (Anwendung von Elektroschockern, die Leitungen werden an die Finger, die Ohren oder die Nase des Opfers angeschlossen);
  • Einschnitte an den Ohren oder Fingern des Opfers oder Versuche, Körperteile abzuschneiden, besonders der Ohren, selbst wenn diese Versuche nicht zu Ende geführt wurden;
  • Schein-Erschießungen.

Viele der Opfer heben die besondere Grausamkeit der Folterungen hervor. Die Opfer wurden bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen. Durch die Gewalt der Stromstöße „verdrehte sich der ganze Körper, Schaum trat vor den Mund“, wie ein Opfer berichtet.

Ziel der Folter

Der Hauptzweck der Festnahme und Folter von Zivilisten waren die so genannten „Verhöre“. Diese bestehen in ununterbrochener Folter, um die gewünschten Informationen zu erhalten, über die die Opfer oft nicht einmal verfügten. Andere Gründe für ein „Verhör“ war der angebliche „Verdacht“, die Gefangenen hätten die ukrainischen Streitkräfte unterstützt, insbesondere durch Hinweise auf mögliche Angriffsziele. Allerdings waren diese „Verdachtsmomente“ völlig haltlos und dienten nur als unwiderleglicher Vorwand für Inhaftierung und Folter.

Verbreitet war Folter, um ein Opfer mit einer eindeutig proukrainischen Position zu zwingen, seine Loyalität zur Russischen Föderation zu bekunden und sich von proukrainischen Ansichten „loszusagen“.

Häufig wird auch gefoltert, um die Opfer zu demütigen. Es sind Fälle dokumentiert, in denen Opfer völlig ohne Grund verprügelt wurden, einfach zum Zeitvertreib.

Unmenschliche Behandlung

Die ChMG geht davon aus, dass die Haftbedingungen für unrechtmäßig festgehaltene „zivile Gefangene“ so schlecht waren, dass dies an sich schon eine unmenschliche Behandlung darstellte, die an Folter grenzte.

Катівня на овочебазі у Козачій Лопані © Анна Черненко / Громадське Радіо Пыточная на овощебазе в Казачьей Лопане © Анна Черненко / Громадське Радіо

Folterkammer in der Gemüsehalle in Kosatscha Lopan © Anna Tschernenko / Gromadske Radio

Aufgrund der dokumentierten Aussagen von Opfern sind zumindest folgende Aspekte der Haftbedingungen als unmenschliche Behandlung zu qualifizieren:

  • Überbelegung der Zellen und Räumlichkeiten;
  • Schlechte Belüftung;
  • Fehlen von Tageslicht;
  • Keine oder unzureichende Versorgung mit Nahrung und Trinkwasser;
  • Ungeeignete Bedingungen für das Aufsuchen der Toilette oder keine Möglichkeit dazu;
  • Den Gefangenen werden die Augen verbunden und Handschellen angelegt;
  • Fehlen notwendiger medizinischer Hilfe;
  • Unerträgliche Kälte in den Räumen.

Vorläufige juristische Einordnung

Nach den Bestimmungen des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs kann Folter als Kriegsverbrechen (Art. 8) oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit betrachtet werden (Art. 7).

Als Verbrechen gegen die Menschlichkeit kann Folter indes nur anerkannt werden, wenn sie im Rahmen eines totalen oder systematischen Angriffs auf die gesamte Zivilbevölkerung begangen wird und die Täter sich dessen auch bewusst sind.

Schlussfolgerungen

Die Analyse der Informationen gibt Anlass, die oben genannten Handlungen vorläufig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach Artikel 7 (1) (f) des Römischen Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) einzustufen, und zwar als Folterungen, die im Zuge des totalen und systematischen Angriffs bewusst gegen die Zivilbevölkerung der Ukraine ausgeführt wurden.


[1] Die Einteilung in Stufen ist deskriptiv, sie soll die typischen Merkmale herausstellen. Sie wurde von der ChMG auf Grund der Verhaltensmuster russischer Soldaten festgelegt.

[2] Die so genannten „Verhöre“ haben nichts gemein mit Verhören im Rahmen von Strafverfahren, da sie auf eine methodische Folter des Opfers hinausliefen.

Artikel teilen