Eine zeitweilige parlamentarische Sonderkommission, die man einrichten musste (oder auch nicht)

Es geht um die Kommission für Fragen des humanitären Völkerrechts und des internationalen Strafrechts im Zusammenhang mit Russlands Militäraggression gegen die Ukraine.
Kostjantyn Sadoja14. September 2023UA DE EN ES FR IT RU

Виїзне засідання ТСК з питань міжнародного гуманітарного та кримінального права в Харкові, скріншот з відео Телеканала Рада

Auswärtige Sitzung der zeitweiligen Sonderkommission für Fragen des humanitären Völkerrechts und internationalen Strafrechts in Charkiv. Screenshot aus einem Video des Telekanals Rada

Am 1. Juli 2022 bildete die Verchovna Rada, das ukrainische Parlament, die zeitweilige Sonderkommission für Fragen des humanitären Völkerrechts und des internationalen Strafrechts im Zusammenhang mit der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine (im Folgenden: Kommission). Die Kommission bekam den Auftrag, ein Jahr lang zu arbeiten. Am 23. August 2023 gab der Sprecher der Rada auf der Plenarsitzung die Beendigung ihrer Arbeit bekannt. Welche Ergebnisse hat die Arbeit der Kommission gebracht? Offenbar sehr bescheidene.

Die Kommission sollte vor allem

1. Gesetzentwürfe und andere Akten der Verchovna Rada zu folgenden Punkten vorbereiten und fertigstellen:

  • Implementierung von Prinzipien und Normen des humanitären Völkerrechts und des internationalen Strafrechts, die das Verhalten der Konfliktparteien regeln und die Verantwortlichkeit für internationale Verbrechen festlegen;
  • Einhaltung und Schutz der Rechte und Freiheiten von Personen in Kampfgebieten und in zeitweilig besetzten Territorien (Zivilbevölkerung, Verletzte und Kranke, Kriegsgefangene und andere);
  • Schutz von zivilen Objekten, darunter kultureller Werte, während des Kriegszustands.

2. Staatliche Programme einer Vorprüfung unterziehen und Stellungnahmen dazu ausarbeiten; die Verbindlichkeit internationaler Verträge der Ukraine zu dieser Thematik oder ihre Kündigung empfehlen;

3. Mit dem Ministerkabinett der Ukraine und dem Menschenrechtsbeauftragten der Verchovna Rada in Fragen der Einhaltung und des Schutzes der Menschen— und Bürgerrechte und Freiheiten in Kampfgebieten und zeitweilig besetzten Territorien (Zivilbevölkerung, Verwundete und Kranke, Kriegsgefangene und andere) zusammenarbeiten.

Jede dieser Aufgaben scheint wichtig und duldet keinerlei Aufschub, wenn man bedenkt, dass sich die Ukraine, als die Kommission eingerichtet wurde, schon lange im Griff des von Russland entfesselten Militärkonflikts befand, der am 24. Februar 2022 das ganze Land erfasste. Unter diesen Umständen schien es sinnvoll und berechtigt, eine besondere parlamentarische Struktur zu schaffen, die sich mit Fragen des humanitären Völkerrechts, des Strafrechts und der Gewährleistung der Menschenrechte in Kampfgebieten und zeitweilig besetzten Territorien befassen sollte. Allerdings blieb die tatsächliche Arbeit der Kommission weit hinter dem zurück, was man als erfolgreiche Durchführung ihrer Aufgaben bezeichnen könnte.

Erstens wurde der Kommission nur für einen Gesetzentwurf die maßgebliche Zuständigkeit erteilt, nämlich für den Gesetzentwurf Nr. 8628 vom 6. Dezember 2022: „Zur Anwendung und Einhaltung der Normen des humanitären Völkerrechts in der Ukraine“. Es ist unverständlich, warum die Kommission nicht auch mit den zahlreichen Änderungsentwürfen zu Gesetzen des ukrainischen Strafgesetzbuchs betraut wurde, die mit dem militärischen Konflikt zusammenhängen. Das ist beispielsweise der Gesetzentwurf Nr. 7290 (15. April 2022) der Regierung „Zu Änderungen des Strafgesetzbuchs und der Strafprozessordnung der Ukraine“ (der umfassende Änderungen im Strafgesetzbuch vorsieht, um es mit den Normen des humanitären Völkerrechts in Einklang zu bringen hinsichtlich der Verantwortung für Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression). Außerdem ist hier der Gesetzentwurf Nr. 9204 (13. April 2023) zu nennen: „Zu Änderungen im Strafgesetzbuch der Ukraine in Bezug auf die gewaltsame Verschleppung einer Person aus der Ukraine“ sowie Gesetzentwurf Nr. 8325 (30. Dezember 2022): „Zu Änderungen im Strafgesetzbuch und anderen Gesetzesakten der Ukraine hinsichtlich der Zwangsmobilisierung zum Eintritt in ungesetzliche bewaffnete oder paramilitärische Einheiten, die in den zeitweilig besetzten Territorien geschaffen wurden, und/oder in ebensolche Verbände des Aggressor-Staats.“

Zweitens ist es der Kommission nicht einmal gelungen, den einzigen Gesetzentwurf „durchzubringen“, für den sie maßgeblich verantwortlich war. Sie empfahl die Verabschiedung des Gesetzentwurfs Nr. 8628 bereits am 26. Dezember 2022 in der ersten Lesung (als Grundlage), allerdings wurde er danach auf die lange parlamentarische „Bank“ geschoben und ist bisher nicht vorangekommen.

Drittens war sie für mehrere Gesetzentwürfe zwar nicht maßgeblich zuständig, aber gemeinsam mit anderen Kommissionen. Dies gilt z. B. für den Gesetzentwurf Nr. 7570 (20. Juli 2022) „Zu Änderungen im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung der Ukraine zur Präzisierung der Verantwortlichkeit für Kollaboration und ähnliche Gesetzesverstöße.“ Zu keinem einzigen dieser Entwürfe hat es die Kommission geschafft, sich zur Möglichkeit einer Verabschiedung in erster Lesung zu äußern.

Viertens hinterlässt der Rechenschaftsbericht der Kommission über die Ergebnisse ihrer Tätigkeit einen äußerst befremdlichen Eindruck. Beispielsweise behandelt ein wesentlicher Teil die Teilnahme von Kommissionsmitgliedern an verschiedenen Veranstaltungen und Begegnungen, die mit der russischen militärischen Aggression gegen die Ukraine zu tun haben. Übrigens ist schwer nachzuvollziehen, wie dies konkret etwa der Umsetzung einer solchen Aufgabe der Kommission zugutekommen sollte wie der Implementierung der Prinzipien und Normen des humanitären Völkerrechts und des internationalen Strafrechts. Ein noch größerer Teil des Berichts liefert statistische Informationen, die von Exekutivorganen stammen, z. B. zur Anzahl von Strafverfahren gegen Gesetzesverstöße, die im Zusammenhang mit dem militärischen Konflikt begangen wurden, oder über die Zahl der Binnenflüchtlinge. Andererseits geht aus dem Bericht nicht hervor, wie etwa die Kommission mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Rada bei der Einhaltung und dem Schutz der Menschen— und Bürgerrechte und Freiheiten in umkämpften Regionen und zeitweilig besetzten Gebieten zusammengearbeitet hat, obwohl diese Zusammenarbeit ausdrücklich als eine der Hauptaufgaben der Kommission genannt worden war.

Deshalb ist abschließend festzustellen, dass die Tätigkeit der Kommission eines der zahlreichen Beispiele in der Geschichte des ukrainischen Parlamentarismus ist, in dem eine an sich vernünftige und nützliche Idee leider nicht erfolgreich umgesetzt wurde. Ihre äußerst geringe Effizienz zeigt, dass Fragen des humanitären Völkerrechts und des Strafrechts vom Parlament nicht mit der Aufmerksamkeit behandelt werden, wie es angesichts der Tatsache nötig wäre, dass sich die Ukraine bereits das zehnte Jahr in einem internationalen militärischen Konflikt befindet.

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