Autos, Waschmaschinen, Schmuck, Wurst — wie die Besatzer das Gebiet Charkiv ausplünderten
Ein Großteil des Gebiets Charkiv war seit den ersten Tagen der flächendeckenden Invasion bis September 2022 besetzt. In dieser Zeit haben russische Soldaten vieles gestohlen: tägliche Gebrauchsgegenstände, Autos, landwirtschaftliche Geräte und sogar Mikroschaltungen aus Computern in wissenschaftlichen Einrichtungen.
Gestohlene Autos: Sie fuhren sie schrottreif und ließen sie dann liegen
Am häufigsten wurden im Gebiet Charkiv private Transportmittel entwendet. Olga Myroschnytschenko aus Isjum berichtet: „Sie nahmen uns das Auto weg. Das machten sie bei allen. Sie markierten sie mit „Z“ und „V“ (den Symbolen für die ‚Spezialoperation‘), fuhren mit ihnen herum, bis sie schrottreif waren, und ließen sie dann liegen.“ Eine Frau aus Zyrkuny erzählte der Charkiver Menschenrechtsgruppe, dass vier russische Soldaten zu ihrem Haus gekommen seien und ihr Auto gestohlen hätten. Leider sind auch Fälle bekannt, in denen Einwohner getötet wurden, um sich ihres Eigentums habhaft zu machen, so am 21. April 2022 in Ruski Tyschky, als russische Soldaten einen 58-jährigen Mann in seiner Garage erschossen.
Etliche Kraftfahrzeuge haben die Russen beim Petschenihy-Staudamm „nationalisiert“. Gerade hier flohen die Ukrainer aus russisch besetztem Territorium ins freie Gebiet. Aber den Damm konnte man nur zu Fuß passieren. Deshalb ließen die Menschen ihre Autos häufig unmittelbar am Staudamm zurück. Einwohner der umliegenden Dörfer berichten, dass diese Autos umgehend zur Beute plündernder russischer Soldaten wurden.
43% der dokumentierten Plünderungen entfallen auf Autos. Es waren mindestens 71 Transportmittel, allerdings liegt die tatsächliche Zahl höher: In mehreren Fällen wurde von massenhaftem Autodiebstahl berichtet.
Manchmal unterstützten auch Einheimische die Besatzer bei ihren Raubzügen. In Ruska Losova übergab der Abteilungsleiter eines lokalen Unternehmens Vertretern der russischen Militärverbände freiwillig Transportmittel, die für Güter— und Personentransporte vorgesehen waren.
Plünderung der Häuser: Besitztümer wurden in Lastwagen abtransportiert
Der Diebstahl aus Privatwohnungen ist die zweithäufigste Kategorie.
Während der Besatzung wurden die Häuser der Cottage-Siedlung „Udatschino“ in Ruski Tyschky geplündert. Die Russen eigneten sich die gesamte Haustechnik an und transportierten alles nach Belgorod ab.
Nach Angaben der Gebietsstaatsanwaltschaft Charkiv drangen Soldaten der russischen 25. Motorschützenbrigade in ein Privathaus ein. Sie entwendeten Gold— und Silberschmuck, ein Notebook und eine alte Münzsammlung. Den Sicherheitsorganen gelang es, die konkreten Veraenntwortlichen zu ermitteln, die dann in Abwesenheit darüber informiert wurden, dass sie dieser Tat verdächtigt werden.
„Sie haben alles mitgenommen: Kühlschränke, Waschmaschinen, alle Sachen, eine Wanne, Betten, alles aus der Garage. Die Nachbarn sagen, dass zwei Kamaz-LKWs heranfuhren und alles wegbrachten, was sie konnten“, so berichtet Serhij Serdjuk aus Ruski Tyschky. „Die gestohlenen Waschmaschinen sortieren sie hier aus und transportieren sie ebenfalls mit LKWs ab.“ Die Sortierung der Waschmaschinen vor dem Abtransport nach Russland spielte sich unmittelbar in seinem Hof ab.
Olena aus Isjum beschreibt das Vorgehen der Russen wie folgt: „Meinem Mann nahmen sie das Telefon weg, schleppten das Notebook und einen Plasma-Fernseher aus dem Haus. Alles, was sie haben wollten, packten sie in einen Koffer. Sie nahmen sogar Gabeln und Löffel mit. Das ist schon lächerlich… Mein Mann ließen sie am Leben, sie tasteten ihn nicht an.“ Leider brachten die Besatzer Olena Grebenjuks Mann später doch um: Sein Leichnam wurde mit einer Kugel im Kopf aufgefunden.
In zwei dokumentierten Fällen nutzen die Russen gestohlene Gadgets, ohne sich zuvor von den Benutzerkonten der Eigentümer abgemeldet zu haben. Deshalb konnten letztere die Handlungen der Täter verfolgen.
Der erste Fall dieser Art ereignete sich in Zyrkuny. Eine Frau wandte sich an die Polizei. In ihren Google-Fotos waren ein „Foto und ein Video unbekannter Männer in Uniform aufgetaucht, die sich betranken und sich in ihrem Haus vergnügten“.
Auf dem Video ist zu sehen, wie die Besatzer mit einem gestohlenen Fahrzeug in dem Ort herumfahren, in den Privathäusern der Einwohner „residieren“ und geklauten Alkohol konsumieren.
Ein Student der juristischen Universität teilte mit, dass seine schnurlosen Kopfhörer, die er im Haus im besetzten Isjum zurückgelassen hatte, mithilfe von FindMy in der russischen Stadt Severodvinsk lokalisiert wurden. Als er das feststellte, hielt sich der Plünderer oder eine ihm nahestehende Person gerade in einem Café dieses Orts auf.
Russische Soldaten, die eine Ortschaft einnehmen, nehmen den Einheimischen in der Regel alle Telefone weg, angeblich um sie zu überprüfen. Sie geben sie ihnen dann aber nicht zurück. Dies berichteten insbesondere Einwohner von Kamjanka in der Nähe von Isjum.
Mehr Fragen als Antworten wirft der Diebstahl einer Fliese durch russische Soldaten auf: Im vergangenen Jahr haben Soldaten der 63. Brigade der ukrainischen Streitkräfte, nachdem sie feindliche Abteilungen geschlagen hatten, einen Munitionskasten geöffnet und darin eine Fliese gefunden, die die Besatzer nach Russland hatten bringen wollen.
Unternehmen und landwirtschaftliche Betriebe
In Ruski Tyschky raubten die russischen Soldaten dem einheimischen Bauern Viktor Simjatschko seinen Scheibenpflug. „Am 24. April, das war Ostern, nahmen sie sich den Traktor, hängten die Scheiben dran und fuhren weg. Meine technischen Geräte sind alt, sie sahen sich das an, da gab es nichts wegzunehmen. Aber den neuen Pflug haben sie mitgenommen“, erinnert sich der Mann.
In Ruska Losova plünderten die Russen eine Wurstfabrik. Ein Einheimischer berichtet, dass die Wurstwaren danach an die Einwohner ausgegeben wurden, als wären es humanitäre Hilfsgüter, Parallel brachten die Russen die Ausrüstung aus den Betrieben weg.
Auch das den Bauern gestohlene Getreide wurde als angebliche humanitäre Hilfe verteilt. Dies meldete der Gemeinderat von Borova am 16. Juni 2022: „Die Besatzer, die Zerstörung, Vertreibung und Tod in unser Land gebracht haben, versuchen jetzt, mit fremdem Gut und Eigentum die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen. Beispielsweise haben sie Weizen, der sich in den Lagern mehrerer landwirtschaftlicher Betriebe befand, beschlagnahmt, verteilen ihn jetzt an die Leute und geben ihn als humanitäres Hilfsgut aus.“
In Vovtschasnk kollaborierte ein Einheimischer mit den russischen Soldaten und half ihnen dabei, die Lagerhallen des „Vovtschansker Fleischkombinats“ und der Zuckerfabrik in der Siedlung Bilyj Kolodjaz im Bezirk Tschuhujiv zu plündern.
In einem Fall erfolgte die Ausplünderung der lokalen Einwohner auf eine recht spezifische Weise. Im besetzten Isjum lief eine Mitarbeiterin der Steuerbehörden freiwillig zu den russischen Streitkräften über. Sie führte illegale Verwaltungsarbeit durch und zog von den Einwohnern der zeitweilig besetzten Teile des Gebiets Charkiv Zwangsabgaben zugunsten der russischen Armee ein. Außerdem ermöglichte sie Unternehmen, ein Patent für ihre Geschäftstätigkeit zu erhalten.
Hochtechnologien
Am 2. April 2022 besetzten russische Truppen das Gelände, auf dem sich das in seiner Bedeutung einzigartige radioastronomische S. J. Braude-Observatorium befindet. Sie hielten sich mehrere Monate dort auf. „Sie haben vieles gestohlen: Maschinen, Werkbänke, Transformatoren, Traktoren. Computer sowieso. Überhaupt haben sie viel technische Ausrüstung ‚auseinandergenommen‘, sie kennen sich damit ja nicht aus. Überall lagen Systemeinheiten herum. Ich verstehe nicht, was sie da gesucht haben“, wunderte sich die Mitarbeiterin Anna Belenez nach der Befreiung des Observatoriums.
„90% der Infrastruktur ist zerstört und gestohlen“, berichtete der stellvertretende Direktor des Instituts für Radioastronomie, Akademiemitglied Oleksandr Konovalenko. „Der Schaden ist schon aufgenommen — es handelt sich um Hunderte Millionen Dollar.“
Anzahl und geographische Lokalisierung der Taten
Derzeit sind in der Datenbank von T4P 100 Fälle von Plünderung und Raub verzeichnet. Dabei ist zu berücksichtigen, dass diese Zahl eine bedeutend größere Zahl entwendeter Gegenstände einschließt. Ein einziger Vorfall kann die Plünderung zahlreicher Häuser einer einzelnen Cottage-Siedlung erfassen. Oder es geht um den Bericht eines Einheimischen, der von einem massenhaften Abtransport von Autos berichtet.
Die meisten Plünderungen wurden im Bezirk Isjum registriert (67), das sind zwei Drittel aller Vorfälle. An zweiter Stelle stehen Siedlungen im Bezirk Charkiv (19 Vorfälle).
Die meisten Fälle wurden entweder während der Besetzung oder kurze Zeit nach der Befreiung des Gebiets Charkiv in die Datenbank aufgenommen. Allerdings erhält die Charkiver Menschenrechtsgruppe bis heute noch Informationen und Zeugenaussagen über Taten, die zurzeit der Okkupation ukrainischer Territorien durch russische Truppen verübt wurden.
Juristische Einordnung
Das Römische Statut des Internationalen Strafrechts sieht in Artikel 8, der Kriegsverbrechen behandelt, die Haftbarkeit für die Plünderung einer Stadt oder einer Siedlung vor, selbst wenn sie im Sturm eingenommen wurden. Allerdings geht es hier um gewöhnlichen Diebstahl oder Raub von Eigentum, das heißt, wenn Soldaten Güter für ihren eigenen persönlichen Gebrauch entwendet haben. Wenn dies eindeutig für militärische Zwecke geschah, findet der Artikel keine Anwendung.