Warum muss die Überstellung ukrainischer Kriegsgefangener an Ungarn Sorge bereiten?
Die ungarischen Medien behaupteten, dass von ungarischer Seite Vizepremierminister Zsolt Semjén für diese Frage zuständig gewesen sei. Die ukrainische Regierung erklärte umgehend, dass die Überstellung der Kriegsgefangenen ohne ihr Wissen erfolgt sei. In den folgenden Tagen bestritt die ungarische Regierung öffentlich, in diesen Vorgang involviert zu sein, und erklärte, die Überstellung sei das Ergebnis von „Diskussionen der Kirche und religiösen Organisationen, an denen der ungarische Staat in keiner Weise beteiligt war.“ Sie äußerte keinerlei Kritik an dem Vorfall. Inzwischen konnten die ukrainischen Behörden fünf Kriegsgefangene nach Hause zurückholen. Die übrigen befinden sich offenbar weiterhin in Ungarn.
Aus den widersprüchlichen Erklärungen und Mitteilungen hierzu ergibt sich ein ziemlich alarmierendes Bild:
- Elf ukrainische Soldaten wurden von der Russischen Föderation als Kriegsgefangene festgehalten.
- Zu einem bestimmten Zeitpunkt tauchten diese Personen auf ungarischem Territorium auf.
- Da die Ukrainer (a) sich nicht als Einzelperson auf ungarischem Territorium befanden, sondern als Gruppe und (b) offensichtlich aus russischem Gebiet nicht in irgendein anderes Land ausreisen konnten, sondern nur nach Ungarn, entsteht der Eindruck, dass sie sich nicht freiwillig nach Ungarn begeben haben, sondern in ungarisches Staatsgebiet überstellt wurden.
- Die Ukraine hat diesem Vorgehen nicht zugestimmt.
- Die ungarischen Behörden wussten zumindest über alle oben genannten Umstände Bescheid. Allerdings bestreiten sie, in die Überstellung der ukrainischen Kriegsgefangenen involviert gewesen zu sein. Sie ermitteln nicht, unter welchen Umständen sie zustande kam, und verhalten sich so, als wäre das eine normale Situation.
Dies alles wirft zwangsläufig die Frage auf: Ist die Überstellung ukrainischer Kriegsgefangener an Ungarn rechtmäßig?
Grundsätzlich erlaubt das humanitäre Völkerrecht einem Staat, der Kriegsgefangene hat, sie an einen anderen Staat zu überstellen, wenn dieser Staat in dem betreffenden internationalen militärischen Konflikt mit ihm verbündet ist. Dies geht insbesondere aus Artikel 12 (2) der Genfer Konvention von 1949 (Genfer Konvention III) über den Umgang mit Kriegsgefangenen hervor. Allerdings hatte Ungarn niemals erklärt, mit der Russischen Föderation im Krieg gegen die Ukraine verbündet zu sein. Die ungarischen Behörden bestreiten, wie gesagt, ihre Beteiligung an dem Vorfall mit den elf ukrainischen Kriegsgefangenen. Folglich kann ihre Überstellung nach Ungarn nicht als ein vom humanitären Völkerrecht gedeckter Transfer von Kriegsgefangenen von einem Bündnisstaat in einen andern betrachtet werden.
Das humanitäre Völkerrecht sieht auch andere Fälle vor, in denen Kriegsgefangene das Territorium des Staats, in dem sie sich in Gefangenschaft befinden, verlassen und nicht in ihr eigenes Land, sondern in einen dritten Staat gelangen. Es geht um die Hospitalisierung von kranken und verwundeten Kriegsgefangenen in neutralen Ländern sowie um die Internierung von gesunden Gefangenen, die sich schon lange in Gefangenschaft befinden, in einem neutralen Land (Art. 109 (2) Genfer Konvention III). Obwohl Ungarn mehrfach seine Neutralität im russisch-ukrainischen Militärkonflikt bekundet hat, gibt es keinen Grund für die Annahme, dass ukrainische Soldaten sich auf der Grundlage von Artikel 109 (2) der Genfer Konvention III auf ungarischem Territorium befinden. Die ungarischen Behörden bestreiten ja jegliche Vereinbarungen mit den russischen Machthabern.
Das internationale Recht lässt natürlich die Überstellung von Personen aus einem Staat in einen anderen auch ohne einen bewaffneten Konflikt und außerhalb des humanitären Völkerrechts zu. Dazu kommt es jedoch nur äußerst selten. Es handelt sich Kern um folgende Fälle:
- Deportation, wenn die betreffende Person gegen die Gesetze des Staates verstoßen hat, in dem sie sich aufhält;
- Extradition (Auslieferung) einer Person an einen anderen Staat, der die Person strafrechtlich verfolgen oder eine früher gegen sie verhängte Strafe vollstrecken will.
- Transport von Angeklagten (Verurteilten) durch das Gebiet eines bestimmten Staates in einen anderen;
- Überstellung von Personen, die in einem Staat ihre Strafe verbüßen, zur Strafverbüßung in einen anderen Staat.
All diese Fälle implizieren per definitionem eine Zusammenarbeit zwischen den Staaten unter Einhaltung bestimmter internationaler rechtlicher Prozeduren. Wenn man den ungarischen Behörden glauben will, war dies im Zusammenhang mit den ukrainischen Kriegsgefangenen nicht der Fall. Verständlicherweise bestand hier kein Anlass, um eine der vier oben genannten Bestimmungen anzuwenden.
So entsteht der Eindruck, dass die Überstellung der ukrainischen Soldaten aus der Russischen Föderation nach Ungarn ohne die erforderliche Rechtsgrundlage erfolgt ist. Obwohl die ungarischen Behörden jede eigene Verwicklung in die Überstellung von sich weisen, heißt das nicht, dass Ungarn für den Verstoß gegen das Völkerrecht, zu dem es dabei gekommen ist, keine Verantwortung trägt. Nach allgemeinem internationalem Recht ist ein Staat nicht nur für das Verhalten seiner Machtorgane verantwortlich, sondern auch für das Vorgehen von Privatpersonen, das vom Staat als sein eigenes anerkannt und akzeptiert wird (vgl. Art. 11 des Entwurfs der Artikel über die Verantwortung des Staats für widerrechtliche internationale Handlungen). Selbst wenn es einer bestimmen Gruppe ungarischer Bürger, die privat agierten, wirklich gelungen ist, die Überstellung ukrainischer Kriegsgefangener auf ungarisches Territorium entgegen völkerrechtlichen Normen durchzuführen, trägt Ungarn dennoch für dieses Vorgehen die Verantwortung, da es
- einräumt, dass dieses Vorgehen stattgefunden hat,
- das Vorgehen nicht verurteilt und nicht untersucht hat und sich dazu so verhält, als wäre es völlig normal.
Aus menschlichen Gründen kann man nicht umhin, sich für die ukrainischen Soldaten zu freuen, die der russischen Gefangenschaft entkommen konnten, ebenso wie für ihre Angehörigen. Allerdings sind die Begleitumstände nicht nur ärgerlich, sondern ausgesprochen alarmierend. Es handelt sich nicht nur um einen Verstoß gegen das Völkerrecht, sondern auch um einen gefährlichen Präzedenzfall, in dem ukrainische Kriegsgefangene zu einem Tauschobjekt im politischen und halb-politischen Handel gemacht wurden.