Ungelöste Probleme beim Schutz der Rechte Kriegsgefangener und Zivilinternierter: Die Rolle des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes

Eine Analyse der Tätigkeit des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) seit März 2022 hat gezeigt, dass einige seiner Funktionen bis heute nicht erfüllt werden. Diese Probleme müssen kurzfristig gelöst werden. Denn wenn dies nicht geschieht, werden Zehntausende darunter zu leiden haben.
Mychajlo Savva, Oleg Martynenko27. Mai 2023UA DE EN ES FR IT RU

Фото: Міжнародний Комітет Червоного Хреста Foto: Internationales Komitee des Roten Kreuzes Photo : Comité International de la Croix Rouge Фото: Международный Комитет Красного Креста

Foto: Internationales Komitee des Roten Kreuzes

Beim Schutz der Menschenrechte zu Kriegszeiten spielt das Internationale Rote Kreuz (IKRK) eine besondere Rolle. Das humanitäre Völkerrecht und seine Grundlage — die Genfer Konventionen — haben den Status des IKRK als unabhängige neutrale Organisation festgelegt, die Opfern von Krieg und Waffengewalt humanitären Schutz und Hilfe gewährt. Etliche Aufgaben und Befugnisse des IKRK sind ausdrücklich in den Genfer Konventionen aufgeführt, die den Schutz von Kriegsgefangenen und von Zivilpersonen betreffen.

Der flächendeckende Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine hat eine Reihe von Problemen verschärft. Dazu gehören die Geheimhaltung von Informationen über Kriegsgefangene und inhaftierte ukrainische Zivilisten durch den Aggressor-Staat; das Verbot für diese Menschen, mit ihren Angehörigen zu korrespondieren; die illegale Inhaftierung von Zivilisten; Folter, unmenschliche oder menschenunwürdige Behandlung in den Haftanstalten; der Tod Kranker und Verwundeter in Haft infolge fehlender medizinischer Hilfe. Da die russischen Behörden sich weigern, diese Probleme hinsichtlich ukrainischer Kriegsgefangener und Zivilisten einzuräumen, gewinnt die Rolle des IKRK bei ihrer Lösung objektiv an Bedeutung. Allerdings hat die Analyse der Tätigkeit des IKRK seit März 2022 gezeigt, dass diese Organisation leider bis heute mehrere ihrer Aufgaben nicht erfüllt.

Vor allem ist anzumerken, dass es in den diplomatisch-humanitären Prozessen keine Schutzmacht gibt, da bis heute noch keine bestimmt wurde. Die Rolle einer Schutzmacht, die die Einhaltung der Normen des humanitären Völkerrechts kontrolliert, ist kaum zu überschätzen. Gerade sie kann beispielsweise Sonderbeauftragte ernennen, die die Interessen der Ukraine in der RF vertreten. Das IKRK hat bei der Bestimmung einer Schutzmacht Sondervollmachten, wenn sich die kriegführenden Länder nicht über die Ernennung einigen können. Diese Situation haben wir im Jahre 2022 erlebt, als die russische Partei es ablehnte, die Schweiz als Schutzmacht zu akzeptieren, wie es die Ukraine vorschlug. In diesem Fall war das IKRK berechtigt, den Konfliktparteien anzubieten, seinerseits die Schutzmacht-Funktion zu übernehmen (d. h. als Ersatzschutzmacht zu agieren) und Konsultationen mit den oben genannten beiden Parteien durchzuführen. Allerdings ist bis heute nichts über ähnliche Schritte des IKRK, wie sie das Zusatzprotokoll (1977) vorsieht, bekannt.

Mit dem Problem einer fehlenden Schutzmacht hängt ein weiteres eng zusammen. Die IKRK-Mission hat nicht zu allen russischen Hafteinrichtungen Zugang, in denen ukrainische Kriegsgefangene und Zivilisten festgehalten werden. Soweit wir sehen, konnten nur wenige ukrainische Bürger aufgesucht werden, die sich in der RF und in besetzten ukrainischen Gebieten in Gefangenschaft befinden. Nach einer Schätzung des Zentrums für bürgerliche Freiheiten haben russische Soldaten und Geheimdienste mindestens 2.000 ukrainische Nichtkombattanten entführt und für längere Zeit der Freiheit beraubt. Die Datenbank von T4P nennt eine Zahl von über 4.700.

Vertreter der russischen Behörden weigern sich, selbst engsten Angehörigen, die ihre Verwandtschaft nachweisen, Auskunft über festgenommene Ukrainer zu erteilen. Angesichts des fehlenden Zugangs des IKRK zu allen Inhaftierten bedeutet dies, dass die russischen Behörden unkontrolliert den Aufenthaltsort der Ukrainer geheim halten und völlig willkürlich verfahren können. Das IKRK räumt die Existenz dieses Problems ein. Am 16. Oktober 2022 hieß es in einer Presseerklärung der Organisation: „Das IKRK hat immer noch keinen ungehinderten und mehrmaligen Zugang zu allen Kriegsgefangenen in diesem internationalen bewaffneten Konflikt — und dies obwohl unsere Teams seit beinahe acht Monaten unablässig darauf bestehen, alle Haft— und Internierungsorte zu besuchen.“ Ergebnis der fehlenden Kontrolle durch internationale Organisationen ist, dass ukrainische Kriegsgefangene in der Haft gefoltert werden. Dies wird durch regelmäßige Veröffentlichungen von Fotos verprügelter ukrainischer Kriegsgefangener und Zivilisten in russischen sozialen Netzen bestätigt. Wenn man bedenkt, dass das IKRK erst im Dezember 2022 erstmals Zugang zu russischen Haftanstalten erhielt, wird das Schicksal der ukrainischen Kriegsgefangenen in Zukunft in vieler Hinsicht gerade von einer intensiveren Aktivität des IKRK in diesem Bereich abhängen.

Ein ebenso schwerwiegendes Problem ist das Fehlen gemischter ärztlicher Kommissionen, deren Tätigkeit durch Anhang II „Reglements betreffend die gemischten ärztlichen Kommissionen“ zur Genfer Konvention über den Umgang mit Kriegsgefangenen geregelt wird. Die Kommissionen sind das zentrale Element, wenn es um die Möglichkeit der Rückführung von Kriegsgefangenen geht, während der militärische Konflikt noch andauert. Gerade den gemischten ärztlichen Kommissionen obliegen die regelmäßigen Untersuchungen der Kriegsgefangenen, nach denen dann bestimmt wird, wer schwer krank oder verletzt ist und für wen eine sofortige Heimschaffung oder eine Hospitalisierung in einem neutralen Land vorzusehen ist.

In der Realität der Ukraine hängt die Schwierigkeit, Kommissionen zu bilden, nicht nur mit der potentiell langwierigen Zusammenstellung von Vertretern unabhängiger Länder und ihrer Stellvertreter zusammen, sondern wiederum mit dem Fehlen einer Schutzmacht. Das Fehlen gemischter ärztlicher Kommissionen hat für konkrete Personen schwerwiegende Folgen, da der Aggressor-Staat schwer Verletzte und Kranke nicht freiwillig aus der Haft entlassen wird. Das traurige Resultat sind schwere Erkrankungen, psychische Traumatisierungen und sogar Todesfälle von Ukrainern in russischer Haft.

Das IKRK nutzt mitunter eine Terminologie, die objektiv nahelegt, Maßnahmen der russischen Partei seien gewöhnlich und normal, obwohl sie gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen. So berichtete es von der Internierung während dieses Krieges, obwohl gerade die Prozedur der Internierung von Russland nicht eingehalten wurde. Wir haben schon aus der Presseerklärung des IKRK vom 16. Oktober 2022 zitiert: „Russland — Ukraine: IKRK bereit für den Besuch von Kriegsgefangenen, doch es muss Zugang erhalten.“

Die (IV.) Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten sieht in Einzelfällen die Internierung von Zivilpersonen vor. Allerdings wurden die Bürger der Ukraine nicht offiziell in Russland interniert. Es gab keine Verfügung über eine Internierung, wie sie Artikel 42 der Konvention vorschreibt. Die in der Ukraine entführten Bürger erhielten nicht das Recht, die Entscheidung über ihre Internierung anzufechten. Beschlüsse über eine Internierung müssen in Übereinstimmung mit der normalen Prozedur getroffen werden. Dies hat die russische Partei nicht beachtet, da die erforderlichen Prozeduren nicht festgelegt wurden.

Diese Probleme müssen jetzt kurzfristig und energisch angegangen werden. Andernfalls wird dies zu zusätzlichen Leiden für Zehntausende führen, die durch keinerlei politische oder bürokratische Motive zu rechtfertigen sind. Das IKRK kann einige dieser Probleme, trotz all seiner Bemühungen, nicht selbstständig lösen. Aufgrund einer alten Tradition agiert das IKRK nicht öffentlich. Aber das darf andere Organisationen, insbesondere Menschenrechtsverbände, nicht daran hindern, auf diese wunden Punkte hinzuweisen. Es ist an der Zeit, dass sich die weltweite Menschenrechtsgemeinschaft und Organisationen in der ganzen Welt zusammentun, um diese Probleme ins Rampenlicht zu rücken und das IKRK in seiner Aufgabe zu unterstützen. Es bedarf eines ständigen Dialogs des IKRK mit den interessierten Parteien sowie der Bereitschaft des IKRK, berechtigte Argumente anzuhören und öffentlich darauf zu antworten.

Artikel teilen