Václav Havel und die Ukraine

Ansprache auf der internationalen Konferenz in Prag am 10. Oktober 2023 aus Anlass der Verleihung des Václav-Havel-Preises.
Jevhen Sacharov14. Oktober 2023UA DE EN ES FR RU

[євген захаров, премія вацлава гавела, харківська правозахисна група, ХПГ]

Ich bin aufrichtig dankbar dafür, dass ich in die Shortlist für den Václav-Havel-Preis aufgenommen wurde. Sein Name und sein Wirken sind in Mittel- und Osteuropa zum Symbol des geistigen Widerstands gegen die Diktatur geworden, zum Symbol für den Sieg des freien Denkens und des freien Wortes über Gewalt, staatliche Lüge und Heuchelei. Nicht nur in Worten, sondern auch in seinen konkreten politischen Aktionen blieb er stets offen, aufrichtig und konsequent. Seine Weltauffassung, seine kulturelle Weltanschauung und seine politische Philosophie sind für mein Land von immenser Bedeutung.

Havel schreibt: „Wir müssen die arroganten Hoffnungen darauf aufgeben, dass die Welt ein Buch voller Vorschriften ist, in dem man lesen kann, ein Satz von Informationen, den man in einen Computer eingeben kann, um daraus fertige Rezepte zu erhalten. Alles, was geschieht, zeugt vielmehr davon, dass unsere Zeit solche Kräfte freisetzen muss wie die archetypische Weisheit, die einzigartige Erfahrung der Welt, den Sinn für Gerechtigkeit, die Fähigkeit, alles mit den Augen anderer zu betrachten, die persönliche Verantwortung, den Geschmack, den Mut und das Mitleid, den Glauben an das Geheimnis und die Bedeutung konkreter Handlungen, die allerdings nicht der universelle Schlüssel zur Erlösung sind.“

Diese Erklärung der Freiheit, des Individualismus und der Toleranz steht in scharfem Kontrast zu den ukrainischen Restriktionen des Markts, der Information und der akademischen Freiheit, zum Misstrauen gegen den freien Grundstücksmarkt, zum geringen Niveau des sozialen Kapitals, zur Skepsis der nationalen Intelligenz gegen Meinungsfreiheit und Toleranz, zur verbreiteten Animosität gegenüber vermögenden Personen und zur Überzeugung, dass vor dem Hintergrund massenhaft verbreiteter Korruption sowieso alle Menschen klauen.

Im Zuge des Militärkonflikts mit Russland haben sich all diese und andere sowjetische Rudimente noch verschärft und wirken sich umso negativer auf die Verfassung von Staat und Gesellschaft in der Ukraine aus.

Der offensichtliche Wunsch der russischen Führung, den ukrainischen Staat und all jene zu vernichten, die sich als seine Bürger identifizieren, lässt keinen Raum für Kompromisse. Unser Feind attackiert die Zivilbevölkerung und die Versorgungssysteme. Es geht ihm darum, Angst zu verbreiten und uns zur Kapitulation zu zwingen.

Wir können einer Deeskalation und einem Waffenstillstand nicht zustimmen. Dies würde es den Angreifern ermöglichen, weiter aufzurüsten. Es wäre ein Freibrief für weitere Morde, Entführungen, Folterungen und Vergewaltigungen.

Schließlich wäre es auch ein Zugeständnis, dass man die letzten 80 Jahre der Existenz des internationalen Rechts einfach auf den Müllhaufen werfen könnte. Russland wird in ein weiteres Land einmarschieren können, und das wird ohne Folgen bleiben. Deshalb hilft uns nur unser Sieg. Notwendige Voraussetzung dafür ist die Befreiung aller ukrainischen Gebiete in den Grenzen von 1991 von der russischen Okkupation. Aber diese Bedingung ist noch nicht hinreichend.

Eine meiner Tätigkeiten seit März letzten Jahres ist die Leitung eines großen Projekts, das sich mit der Sammlung von Informationen und der Dokumentation von Verbrechen befasst, die russische Truppen gegen Zivilisten in der Ukraine und gegen zivile Objekte begangen haben und die man vorläufig als Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Genozid qualifizieren kann.

Wir haben Daten über Zehntausende getöteter und verletzter Zivilisten, über zerstörte oder erheblich beschädigte Zivilobjekte festgehalten. Opfern dieser Verbrechen leisten wir nicht nur rechtliche, sondern auch psychologische, finanzielle, medizinische und humanitäre Hilfe. Tausende von Familien haben diese bereits bekommen.

Wenn man auch nur einen Bruchteil dieses Albtraums in seinem Leben durchmachen musste, löst dies natürlich Hass auf die russische Staatsführung und auf russische Soldaten aus. Dieser Hass überträgt sich häufig auf alles, was russisch ist — auf das Land, die Bürger, die Sprache, Literatur und Kunst. Er wird allumfassend.

Gerade infolge der Dominanz des Hasses im öffentlichen Bewusstsein werden wir uns der Grundprinzipien der Menschenrechte heute besonders deutlich bewusst: Die Wahrheit steht über dem Gesetz, die Gerechtigkeit steht über der Wahrheit, über der Gerechtigkeit steht die Barmherzigkeit und über der Barmherzigkeit die Liebe. Hass zerstört vor allem die Hassenden, er verwüstet die Seele.

Auf dem Schlachtfeld ist der Hass natürlich, wo der russische Soldat vernichtet werden muss. Aber sobald ein solcher Soldat in Gefangenschaft geraten ist, muss der Hass weichen. Zumindest so weit, dass man sich davor bewahren kann, zum Mörder an einem Unbewaffneten zu werden, davor, im Kampf gegen den „Drachen“ selbst ein „Drache“ zu werden. Sonst wird man nur einen Pyrrhus-Sieg erreichen.

Hass gegen alle Russen ist irrational: Man kann Menschen nicht nach ihrer Staatsangehörigkeit bewerten, sondern nur nach ihren Worten und Taten. Es gibt zwar nur wenige offene Gegner des Putin-Regimes, nicht mehr als 5% der Bevölkerung der Russischen Föderation. Diese aber positionieren sich offen gegen die russische Aggression und nehmen dafür strafrechtliche Verfolgung in Kauf, sie müssen mit Haftstrafen von bis zu 15 Jahren rechnen. Diese Menschen helfen häufig ukrainischen Flüchtlingen, aus Russland auszureisen, und sammeln Spenden für sie.

Noch sinnloser, wenn auch verständlich, ist der Hass gegen die russische Sprache, Literatur und Kunst. Ich wende mich eindeutig gegen die Hetze, der ukrainische Schriftsteller wegen gemeinsamer öffentlicher Auftritte mit russischen Schriftstellern ausgesetzt sind, wenn diese letzteren bekannte Putin-Gegner sind.

Ich bin sicher, dass wir einen Dialog benötigen, um anti-imperiale Strömungen in der russischen Kultur zu unterstützen, die es immer gegeben hat (Tschaadaev, Berdjaev, Fedotov, Pomeranz, Averinzev), die aber heute gegenüber den Anhängern der Diktatur einstweilen das Nachsehen haben. Die Entfernung russischsprachiger Bücher aus ukrainischen Bibliotheksbeständen und ihre Entsorgung kann ich nur als Infantilismus bezeichnen.

Mit der Liebe gehen immer Mitgefühl und Barmherzigkeit einher. Die Ukrainer sind untereinander menschlicher und empathischer geworden. Das gemeinsame Unglück schweißt uns zusammen. Aber noch wesentlicher ist, dass uns die Werte miteinander verbinden, die Václav Havel umrissen hat: Freiheitsliebe, Unabhängigkeit, Engagement für die Demokratie, Ablehnung des Autoritarismus.

Die singuläre Erfahrung und das Beispiel Havels sind faszinierend. Als man ihm bereits als Präsident vorschlug, die Auslandsreisen Intellektueller zu beschränken, lehnte er das ab, weil er nicht zulassen könnte, dass die Freiheit eines Menschen „geringer sein sollte als die einer Schwalbe.“

Wir kämpfen für Freiheit, Unabhängigkeit, Menschenrechte, Demokratie. Wir werden standhalten, und das Unglück wird weichen. Und dann werden uns die Werte Václav Havels noch mehr zu Bewusstsein kommen. Ich hoffe auch, dass dieser Krieg zum Sturz von Putins Regime führt. Dann wird es möglich, die russische Führung und die Kreml-Propagandisten sowie all jene zur Verantwortung zu ziehen, die die unmittelbaren Befehle, Verbrechen zu begehen, erteilt oder die sie befolgt haben. Seinerzeit hielten wir das deutsche Volk für ein Opfer des Nationalsozialismus. Jetzt müssen wir ebenso das russische Volk als Opfer des verbrecherischen Putin-Regimes anerkennen.

Und wie das deutsche Volk die Entnazifizierung absolviert hat, so muss auch das russische Volk eine Entputinisierung und Entkommunisierung durchmachen. Wir müssen all dies durchführen, allerdings ohne dabei Havels Vermächtnis anzutasten oder aufzugeben.

[євген захаров, премія вацлава гавела, харківська правозахисна група. ХПГ]

Jevhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe

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