Die vergessenen Gefangenen der russischen Aggression in der Ukraine

In den letzten Tagen, teilweise auf Initiative des Weißen Hauses, ist erneut die Diskussion über mögliche Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland in Gang gekommen. Allerdings ignorieren diese Verhandlungen die Interessen gerade der Personen, die unter dem Krieg am meisten zu leiden hatten — die der Kriegsgefangenen, deportierten Kinder und Tausender ukrainischer Zivilisten, die auf besetztem Territorium als Geiseln gehalten werden. Ebenso wenig berühren die Verhandlungen die Fragen politischer Gefangener, die in Russland und Belarus inhaftiert sind, weil sie sich gegen den Krieg positioniert oder die Ukraine unterstützt haben.
Am 2. Oktober 2024 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats (PACE) einstimmig eine Resolution über Verschwundene, Kriegsgefangene und inhaftierte Zivilpersonen verabschiedet. „Die Zahlen sprechen für sich”, heißt es darin. Mit Stand zum 18. September 2024 waren insgesamt 65.956 Militärs und Zivilisten als vermisst oder gefangen registriert, 50.916 davon als vermisst. Seit Februar 2022 bis zum 17. September 2024 sind 3.672 Personen aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrt, darunter 168 Zivilisten, Ein Drittel der Freigelassenen hatte zuvor als vermisst gegolten, weil Russland nicht rechtzeitig über ihren Status informiert hatte. Damit hat es eindeutig gegen seine internationalen Verpflichtungen verstoßen.“
Die PACE verurteilt die furchtbaren Haftbedingungen und die beharrliche Weigerung Russlands, mit internationalen Organisationen sowie Angehörigen der inhaftierten Ukrainer in Verbindung zu treten. Außerdem unterstützt die Resolution einen Austausch „aller gegen alle”.
Bis zum Ende 2024 sind im Rahmen von 60 Austauschaktionen 3.956 Gefangene freigekommen, darunter 170 Zivilisten.
Die Entwicklung der Kampagne People First
Am 28. Januar 2025 riefen Menschenrechtsorganisationen, darunter die Friedensnobelpreisträger von 2022 — Memorial und das Zentrum für bürgerliche Freiheiten, die Charkiver Menschenrechtsgruppe und andere — die internationale Kampagne „People First!“ ins Leben. Sie steht für die einfache Idee, dass die Freilassung aller Gefangenen, die durch den russisch-ukrainischen Krieg ihre Freiheit verloren haben, bei jedem Friedensprozess an erster Stelle stehen muss.
Im Laufe von zehn Monaten haben sich der Kampagne 73 europäische Menschenrechtsorganisationen und einzelne Menschenrechtsaktivisten angeschlossen. Sie kooperieren mit Regierungen der EU, PACE-Mitgliedern, dem Europäischen Parlament, den USA, der Türkei und anderen Ländern.
In einem Schreiben an Präsident Trump hoben die Teilnehmer der Kampagne hervor, dass folgende Personen unverzüglich freizulassen seien:
- „Frauen, die von sexueller Gewalt bedroht sind;
- Gefangene, die behindert oder schwer krank sind oder infolge von Folterungen schwere Verletzungen davongetragen haben;
- ältere Gefangene mit gesundheitlichen Problemen;
- Zivilpersonen, die aus politischen Gründen bereits vor Beginn der Vollinvasion in Haft waren.“
Deutlicher Anstieg der Austauschaktionen 2025
Schon in den ersten fünf Austauschaktionen zwischen Russland und der Ukraine, die am 15. Januar, 5. Februar, 19. März, 19. April und 5. Mai 2025 stattfanden, wurden 854 Gefangene freigelassen, darunter ein Zivilist. 53 Schwerkranke oder Verletzte wurden ohne Vorbedingungen ausgetauscht, ohne auf Austausch-Listen verzeichnet zu sein.
Als die Friedensverhandlungen im Mai in der Türkei bereits am ersten Tag abbrachen, erklärte der türkische Außenminister Hakan Fidan: „Wenn wir uns nicht über einen Frieden einigen können, dann wollen wir einen Austausch arrangieren.“ Und man vereinbarte umgehend einen Austausch von 1000 gegen 1000. Es war der einzige Fall in dem gesamten Krieg, bei dem keine der Parteien eine Liste vorlegte. Der Austausch fand vom 22. bis 25. Mai statt. 879 Kriegsgefangene und 121 Zivilisten konnten so in die Ukraine zurückkehren.
Im Rahmen der Istanbuler Vereinbarungen kam es vom 9. Juni bis 4. Juli zu acht weiteren Austauschaktionen. Ungefähr 1000 Schwerkranke und Schwerverletzte kamen frei. Seitdem liegen diese Aktionen brach, formell sind sie jedoch nicht abgeschlossen.
Die nächsten drei Austauschaktionen fanden am 14. und 24. August und dem 2. Oktober 2025 statt. 436 Gefangene kamen frei — 357 Militärs und 79 Zivilisten — politische Gefangene, die im Gebiet Donezk bereits in der ersten Kriegsperiode, von 2014 bis 2021, verurteilt worden waren.
Am 22. November wurden 31 Ukrainer, die ihre Haftstrafe in Belarus verbüßten, freigelassen und an die Ukraine übergeben. Ihre Haftstrafen variierten von zwei bis elf Jahren. Darunter war eine 18-jährige Frau, die mit 16 Jahren verhaftet worden war, sowie ein 58-jähriger Mann, der älteste in der Gruppe. Der Gesundheitszustand einiger Häftlinge war kritisch, insbesondere bei Personen mit Krebserkrankungen. Mindestens einer, möglicherweise auch zwei mussten auf Tragen transportiert werden, da sie nicht selbstständig gehen konnten.
Die Gesamtzahl der 2025 Freigelassenen erhöht sich durch diese weitere Übergabe nochmals.
Damit wurden einige Forderungen der Kampagne „People First!“ — die Freilassung Schwerkranker und Schwerverletzter sowie politischer Gefangener, die langjährige Haftstrafen verbüßten, — zumindest teilweise erfüllt. Der Appell zugunsten von Frauen und älteren Gefangenen (über 60-jährigen) fand allerdings noch kein Gehör: Im Jahre 2025 wurden lediglich sechs Frauen entlassen (ohne die letzten Freilassungen aus Belarus).
Gefangenenzahlen und das Ausmaß der Ungewissheit
Mit Stand vom 2. Dezember 2025 sind durch 70 Austauschaktionen 6.266 Gefangene freigekommen, darunter am 22. November 2025 31 ukrainische Bürger aus Belarus. Unter den Freigelassenen, zu denen Daten bekannt sind, waren 5.976 Männer (5.648 Militärangehörige und 323 Zivilisten) und 259 Frauen (210 Militärs und 49 Zivilistinnen). 2.000 Gefangene, die im Zuge der Vereinbarungen von Istanbul freikamen, sind hier nicht mitgerechnet. Außerdem wurden 12.744 sterbliche Überreste Gefallener an die Ukraine übergeben.
Mehr als die Hälfte aller Freigelassenen kamen in den ersten elf Monaten 2025 frei.
Trotz all dieser Erfolge bleibt die Frage unbeantwortet, wie viele ukrainische Gefangene immer noch in Russland oder in den besetzten Gebieten der Ukraine festgehalten werden. Am 1. Mai erklärte Artur Dobroserdov, der Bevollmächtigte des Innenministeriums für Vermisste, dass über 70.000 Personen nach wie vor als vermisst gelten. Der Staat gibt nicht bekannt, wie viele davon Zivilisten und wie viele Militärangehörige sind. Ebenso ist unbekannt, wie viele der Vermissten ums Leben gekommen sind und nicht aufgefunden wurden. Daher kann man davon ausgehen, dass sich Zehntausende von Ukrainern möglicherweise noch in Gefangenschaft befinden, mit unbekanntem Aufenthaltsort.
Ermittler der Zivilgesellschaft entnahmen den Zeugenaussagen Freigelassener, dass es 280 Hafteinrichtungen für inhaftierte Ukrainer gibt: 196 in der Russischen Föderation und 84 in den besetzten ukrainischen Gebieten. In jeder befinden sich Dutzende oder mehrere hundert Ukrainer. Wenn man die vorliegenden Angaben über diese Haftanstalten zusammenführt, stellt sich heraus, dass Tausende gefangene Ukrainer nach wie vor verschwunden sind.
Wenn letzteres zutrifft, hält Russland Angaben über die Anzahl ukrainischer Gefangener geheim und gibt sie dem Internationalen Roten Kreuz (IKRK) nicht oder nur in sehr begrenztem Umfang bekannt. Daher bleibt die Forderung der Kampagne People First! von Anfang 2025 bestehen, dass Russland den UN-Stellen und dem Internationalen Roten Kreuz unverzüglich uneingeschränkten Zugang zu allen Gefangenen gewähren muss.
Wenn das Schicksal Tausender ukrainischer Zivilisten und Kriegsgefangener im Dunkeln bleibt und sie nicht freigelassen werden, laufen alle „Friedens-Gespräche“ Gefahr, ohne Bezug zum tatsächlichen Leben jener Personen zu bleiben, deren Freiheit der Preis von Krieg und Diplomatie ist. Diese Diskrepanz verschärft sich durch die laufenden Debatten über den von den USA unterstützten Friedenvorschlag. Obwohl die Ukraine einen revidierten Plan unterschrieben hat, der mit den Vereinigten Staaten abgestimmt wurde, sind die meisten Ukrainer überzeugt, dass Russland ihn nicht akzeptieren wird. Der vorige Entwurf hatte 28 Punkte, die den erklärten Interessen Russlands entsprachen. Die Forderungen, die in der Praxis eine Kapitulation der Ukraine bedeutet hätten, wurden in die von der Ukraine unterschriebene Version jedoch nicht aufgenommen.
Zugleich intensiviert Russland seine Angriffe auf die lebenswichtige ukrainische Energie-Infrastruktur, und die russischen Truppen setzen ihre Offensive fort. Das bestärkt die Ukrainer in ihrer Überzeugung, dass Moskau nicht beabsichtigt, den Krieg zu beenden. Unter diesen Bedingungen ist ein Fortschritt im Hinblick auf die Gefangenen nicht nur aus humanitären Gesichtspunkten unabdingbar, sondern auch als Test, ob die Verhandlungen wenigstens einen minimalen realen Gehalt haben.
Original: Foreign Policy in Focus (FPIF)