15 Jahre Freiheitsentzug für Veröffentlichungen über russische Repressionen

Achtzig Jahre nach der Hinrichtung von Sejran Salijevs Großvater durch das Sowjetregime, weil er nicht bereit war, sich zu unterwerfen, hat Russland bestürzend ähnliche Vorwürfe gegen Saljiev und andere Journalisten und Aktivisten der „Krym-Solidarität“ erhoben.
Halja Coynash24. März 2025UA DE EN FR IT RU

Сейран Салієв у суді, фото Кримської солідарності Sejran Salijev, der „Krym-Solidarität“ Seiran Saliyev in court, photo Crimean Solidarity Seïran Saliev au tribunal, photo de « Solidarité Crimée » Sejran Saliev Сейран Салиев в суде, фото Крымской солидарности

Sejran Salijev, der „Krym-Solidarität“

Die Rache Russlands an krymtatarischen zivilen Journalisten und Aktivisten, die über die verschärften Repressionen auf der besetzten Krym nicht schweigen wollten, beschränkt sich nicht auf gefälschte Gerichtsverfahren und Terror-Urteile. Sejran Salijev wird seit dem 20. November 2024 unter grausamen Bedingungen in einer russländischen Arrestzelle festgehalten. Dabei versucht die Gefängnisverwaltung nicht einmal, dies plausibel zu begründen, und seine Frau ist sich sicher, dass diese Bestrafung politisch motiviert ist.

Mumine Salijeva, selbst eine bekannte Menschenrechtsaktivistin, berichtete am 26. Januar, ihre Familie habe erfahren, dass ihr Mann in eine Strafzelle gebracht worden sei, nur anderthalb Monate, nachdem bereits eine erste 15tägige Unterbringung dort verhängt worden war. Bis dahin hatte der Leiter der Kolonie Nr. 4 im Gebiet Tula auf die Anrufe von Sejrans Mutter, Sodije Salijeva, nicht reagiert.

Die Mitarbeiter der Strafkolonie haben es ebenfalls nicht eilig damit, offizielle Schreiben von Mumina zu beantworten. Mumina ist indes darauf angewiesen ist, um Beschwerden einreichen zu können. Am 10. Januar erhielt sie schließlich eine Bestätigung, dass die Kommission der Kolonie am 21. Juni 2024 beschlossen hatte, Salijev in den „strengen Vollzug“ zu überführen, der noch strengere Haftbedingungen vorsieht. Es wurde behauptet, Salijev habe penetrant böswillig die Vorschriften verletzt, obwohl keinerlei konkreten Details hinsichtlich irgendeines „Vergehens“ von seiner Seite vorgebracht wurden.

Am 21. Januar erhielt Mumina die Antwort auf ein weiteres Schreiben. Darin hieß es, Salijev habe am 8. Januar 2025 gegen die Gefängnisordnung verstoßen und sei am Tag darauf von einer Kommission der Kolonie in eine Strafzelle verbracht worden. Die Tatsache, dass sich Salijev bereits seit dem 20. November 2024 in der Strafzelle befand, wurde nicht erwähnt. Das bedeutet, dass er zu einer ganzen Serie von aufeinanderfolgenden zehn— oder vierzehntätigen Aufenthalten in der Strafzelle „verurteilt“ worden war.

Über die Anlässe, aus denen krymtatarische und andere ukrainische politischen Gefangenen in Strafzellen geraten, ist genügend bekannt, um davon ausgehen zu können, dass die Vorwände keine Grundlage hatten. Im Dezember 2024 wurde Muslim Alijev in die Strafzelle gesperrt, der von Amnesty International als politischer Gefangener anerkannt wurde, wie auch sein Kollege, der politische Häftling Tejmur Abdulajev. Die beiden gläubigen Muslime hätten den Gefängnisleiter nicht gegrüßt, als er gerade während ihres Morgengebets auftauchte. Es gibt Grund zur Annahme, dass das Erscheinen des Gefängnisleiters ein bewusster Trick war, um die Gefangenen besonders strengen Haftbedingungen aussetzen zu können. Etwas Ähnliches ist vermutlich auch mit dem Gefangenen krymtatarischen Journalisten Remsi Bekirov passiert. Auch er kam kürzlich in die Strafzelle wegen seines Morgengebets. Allein in den ersten sechs Monaten seit seinem Transport in die Kolonie Nr. 33 in Chakassien wurde er sieben Mal entweder einem besonders strengen Haftvollzug unterworfen oder in die Strafzelle gesperrt.

Russland verstößt nicht nur gegen internationales Recht sowie das Recht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, sondern auch gegen die eigenen leitenden Prinzipien in Bezug auf Gefangene, wenn es ukrainische politische Gefangene mehrere tausend Kilometer entfernt von ihrem Wohnort und ihren Familien inhaftiert.

Sejran ist der Sohn von Sodije Salieva, einer Veteranin der nationalen Krymtataren-Bewegung, die ihrerseits während der russischen Okkupation verfolgt wurde. Ihr Großvater wurde unter Stalin hingerichtet, weil er sich weigerte, in die Kolchose einzutreten. Dies wurde als „Versuch, das Sowjetregime zu stürzen“ qualifiziert, eine absurde Beschuldigung, die 80 Jahre später gegen Sejran Salijev wiederholt wird. Er und seine Frau waren nicht bereit, über die zunehmenden politischen und religiösen Verfolgungen auf der besetzten Krym hinwegzusehen. Salijev spielte eine aktive Rolle in der Menschenrechtsbewegung „Krym-Solidarität“.

Er war einer von acht krymtatarischen zivilgesellschaftlichen Journalisten und Aktivisten, die während des ersten offenen Angriffs Russlands auf die Menschenrechtsbewegung „Krym-Solidarität“ gefasst wurden. Er und einige andere wurden bereits administrativ verfolgt. Als sie das nicht einschüchtern konnte, brachte der FSB absurde Anklagen wegen „Terrorismus“ gegen sie vor.

Am 11. Oktober wurden vier krymtatarische zivilgesellschaftliche Journalisten verhaftet: Sejran Salijev (geb. 1985), Ernes Ametov (geb. 1985), Marlen (Sulejman) Asanov (geb. 1977) und Tymur Ibrahimov (geb. 1985) sowie auch die beiden Aktivisten Memet Bjeljanov (geb. 1989) und Server Sekirjaev (geb. 1973). Obwohl schon damals klar war, dass Russland die Menschenrechtsbewegung auf der besetzten Krym zum Schweigen bringen will, löste die Verhaftung des Koordinatoren der „Krym-Solidarität“ und Journalisten Serveer Mustafajev (geb. 1986) und von Jedem Smajilov (geb. 1968) am 21. Mai 2018 die größte internationale Reaktion aus.

Den Männern wurde kein einziges Verbrechen zur Last gelegt, lediglich ihre nicht bewiesene „Zugehörigkeit“ zu „Hizb ut-Tahrir“, einer friedlichen transnationalen muslimischen Organisation, die in der Ukraine legal ist und die, soweit bekannt, in der ganzen Welt keinen Terrorakt begangen hat. Aufgrund eines von Unregelmäßigkeiten geprägten und verdächtig geheimen Beschlusses des Obersten Gerichts der Russischen Föderation vom 14. Februar 2003, der Hizb ut-Tahrir zu einer „Terror-Organisation“ erklärt hatte, verhängten russische Gerichte Urteile von bis zu 24 Jahren Haft gegen vollkommen gesetzestreue Personen.

Ursprünglich wurde lediglich Marlen Asanov als „Organisator“ nach dem schwerer wiegenden Artikel 205.5 § 1 des russischen Strafgesetzbuchs angeklagt, im Februar 2019 dann jedoch auch Memet Bjeljanov und Tymur Ibrahimov. Sejran Salijev, Ernes Ametov, Server Mstafajev, Jedem Smajilov und Server Sekirjajev wurden der „Teilnahme“ an einer angeblichen „Gruppe“ (Art. 205.5 § 2) bezichtigt. Allen acht Männern wurde zudem die wirklich surrealistische „Planung einer gewaltsamen Machtergreifung“ (Art. 278) zur Last gelegt.

Es gab keinerlei faktische Beweise für ihre Zugehörigkeit zu „Hizb ut-Tahrir“ und erst recht nicht für die „Organisation einer Gruppe“. Die Anklagen basierten auf illegal aufzeichneten Gesprächen in einer Moschee, bei denen Hizb ut-Tahrir jedoch mit keinem Wort erwähnt wurde. Wie üblich leitete der FSB die verschriftlichten Aufzeichnungen an loyale „Experten“ weiter, auf die er sich bei der Beschaffung notwendiger „Beweise“ verlassen kann. Keiner der drei „Experten“ — Julija Fomina, Elena Chasimulina und Tymur Sachirovitsch Urazumetov — ist fachlich für derartige Beurteilungen qualifiziert. Im Falle der beiden „Linguisten“ Fomina und Chasimulina wurde dies in einem ausführlichen Bericht und dann auch vor Gericht durch die Gerichtslinguistin Elena Novozhilova dargelegt.

Diese fragwürdigen „Beweise“ wurden durch zweifelhaftere Zeugenaussagen zweier „geheimer“ oder anonymer Zeugen ergänzt. Russland stützt sich in allen politischen Verfahren gegen Krymtataren und andere Ukrainer auf solche „Zeugen“. Dies wurde im Bericht des UN-Generalsekretärs über die Menschenrechtslage in der „Autonomen Republik Krym und in der Stadt Sevastopol“ für 2021 einer scharfen Kritik unterzogen. Der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wertete dies im Jahre 2020 ebenfalls als Verletzung der Rechte des Angeklagten im Gerichtsverfahren.

Obwohl der Staatsanwalt vom Rostover Gericht weiterhin unterstützt wird, der Geheimhaltung betreibt und alle Fragen blockiert, die diese „Zeugnisse“ in Frage stellen, sind die beiden Männer inzwischen bekannt. Es handelt sich um Narsulaev Salachudin, einen Usbeken, der ohne die notwendigen Dokumente auf der Krym lebte, und Konstantin Tumarevitsch, der sich einer Strafverfolgung in seiner Heimat Lettland entziehen wollte. Beide Männer wollten offenbar entweder ihren Status legalisieren oder ihre Deportation verhindern, indem sie sich als „anonyme Zeugen“ für zahlreiche Verfahren gegen krymtatarische politische Gefangene aus Bachtschysaraj zur Verfügung stellten.

Die genannten Mängel des Verfahrens sowie der Verstoß Russlands gegen internationales Recht, da es die russische Gesetzgebung auf besetztem Gebiet anwandte, wurden durch Staatsanwalt Evgenij Koplikov und die Richter des Südlichen Militärbezirksgerichts in Rostov Risvan Subairov (Vorsitzender), Roman Saprunov und Maksim Nikitin systematisch ignoriert.

Am 16. September 2020 verkündeten Subairov, Saprunov und Nikitin gegen die sieben Männer rigorose Urteile. Marlen Asanov wurde zu 19 Jahren Strafkolonie im strengen Vollzug verurteilt, Memet Belanov zu 18 Jahren, Tymur Ibrahimov zu 17 Jahren, Sejran Salijev zu 16 Jahren, Server Mustafajev zu 14 Jahren, Jedem Samjilov und Server Sekirjajev zu 13 Jahren.

Im Berufungsverfahren wurde die Haftstrafe für Salijev auf 15 Jahre herabgesetzt. Allerdings gab dasselbe Gericht dem Revisionsantrag des Staatsanwalts gegen den einzigen Freispruch eines ukrainischen politischen Gefangenen statt. Später wurde Ernes Ametov zu elf Jahren Haft verurteilt, vermutlich weil er sich geweigert hatte, Falschaussagen gegen andere zu machen.

Seitdem hat Russland dieselben Gespräche, „Experten“ und „geheimen Zeugenaussagen“ genutzt, um Oleh Fedorov und Ernest Ibrahimov zu 13 Jahren Haft zu verurteilen.

Alle Männer wurden als politische Gefangene anerkannt, deren Freilassung insbesondere die EU, das US-State Department, Human Rights Watch (HRW) und Frontline Defenders fordern. In einer Erklärung nach Urteilen im September 2020 erklärte HRW, das Urteil demonstriere „ein weiteres Mal, wie entschlossen die russischen Machthaber dabei vorgehen, die krymtatarischen Aktivisten und ihre Familien zu zwingen, für ihre Haltung zu bezahlen, und wie sie das Gesetz und die Gerichte zu diesem Zweck unterminieren werden.“

Artikel teilen