Zivilisten in Gefangenschaft: In Oskil nahmen die Besatzer einen Invaliden wegen seines Taucheranzugs fest
Dieses kleine Blatt ist der größte Wertgegenstand im Haus mitten im niedergebrannten Wald von Oskil. Die kleine Nachricht, die bestätigt: Pavel Leonidovytch — ihr Mann, Vater, Großvater — ist am Leben.
… Pavlo Tolstokoryj aus Oskil im Gebiet Charkiv hat nie in der Armee gedient. Er ist seit seiner Kindheit sehbehindert, ihm fehlt ein Auge. Zu Beginn des großen Krieges war er längst verrentet. Welche Gefahr sollte von ihm für Putins Regime ausgehen? Aber die Besatzer kamen und nahmen ihn mit. Wo sie ihn gefangen halten wissen die Angehörigen bis heute nicht.
In den ersten Tagen der landesweiten russischen Invasion befand sich der Ort in der grauen Zone, praktisch an der Frontlinie. Das rechte Ufer des Flusses Oskil besetzten die Russen schon Mitte März. Von dort schlugen sie sich bis Isjum und zum linken Ufer durch, das ukrainische Truppen bis zum 25. April hielten.
„Wir wurden heftig bombardiert, als ein Ufer des Oskil bereits besetzt war, und bei uns standen unsere Jungs“, berichtet seine Frau Tetjana. Dann begannen sie, unsere Soldaten zu umzingeln, und diese zogen ab. Wir blieben im besetzten Gebiet. Mein Mann wollte nicht weg, er sagte: Was soll man uns denn wegnehmen… Wir hatten auch gar nicht das Geld, um wegzufahren. An dem einen Ufer standen die von der „Volksrepublik Luhansk“ und die Russen. Und bei uns die aus der „Volksrepublik Donezk“. Hier war überhaupt keine Verwaltung. Sie kamen und führten Überprüfungen durch. Sie kamen mit Maschinengewehren, kontrollierten die Dokumente und führten Haussuchungen durch.
Zunächst hatten die Besatzer keine Fragen an Pavlo: Er war schon 58 Jahre alt, war seinerzeit Jäger in der örtlichen Försterei gewesen, arbeitete jetzt nicht mehr und beschäftigte sich mit Hausarbeiten. Aber am 19. Juli um sechs Uhr morgens fuhren mehrere Autos bei der Familie Tovstokoryj vor, ein schwarzer Jeep und ein Militärfahrzeug „Tiger“.
Maskierte Bewaffnete stiegen aus, fragten nach dem Namen. „Er kam gerade aus dem Garten“, erinnert sich Tetjana. Man ließ uns nicht aus dem Haus. Einige Männer liefen los und nahmen eine Haussuchung vor. Einer ging in den Keller. Wegen des Beschusses hatten wir dort all unsere Wertsachen. Unsere Lebensmittel und Dokumente waren alle im Keller. Der Wald hatte stark gebrannt, wir fürchteten, das Haus könnte abbrennen. Sie holten aus dem Keller einen Korb mit Medikamenten, eine Tüte mit Dokumenten und.... einen Taucheranzug. Mein Mann hatte seit seiner Jugend getaucht und Unterwasserjagd betrieben. Ich bat darum, uns wenigstens unsere Unterlagen zum Haus, unsere Pässe und Geburtsurkunden zurückzugeben. Einer sagte: „Halt den Mund und geh ins Haus, sonst kommst du mit uns.“ Ich betete zu Gott, dass sie dem Kind nichts antaten. Es schlief in seinem Zimmer, wo viele Stofftiere sind, und war komplett zugedeckt. Sie ließen das Kind in Ruhe. Ich schrie. Sie zogen meinem Mann einen Sack über den Kopf, fesselten ihm die Hände mit Klebeband, setzten ihn ins Auto und fuhren ab. Aus. Das war’s.
Tetjana zeigt ein paar Fotos ihres Mannes. Wegen der Augenverletzung ließ er sich nicht gerne fotografieren. Eine der Aufnahmen hat ein Freund per Fotoshop bearbeitet und das verlorene Auge eingefügt. „Aber er sieht da nicht ganz echt aus“, sagt Tetjana.
Zunächst versuchte Tetjana, bei den Besatzern etwas über das Schicksal ihres Mannes in Erfahrung zu bringen. Sie begab sich nach Isjum, obwohl auch das nicht einfach war: Den bei der Haussuchung beschlagnahmten Pass hatte man ihr nicht zurückgegeben. Und an den Kontrollposten muss man ständig die Ausweise vorzeigen.
„In Isjum war er nicht. Ich wandte mich an ihre Militärs, sie waren in unserem Dorfrat, und fragte: ‚Warum haben Sie meinen Mann festgenommen? Er ist Rentner, Invalide, er hat nur ein Auge! Warum haben Sie unsere Dokumente beschlagnahmt?‘ Sie hatten alles mitgenommen: Auch meinen Pass, und die Telefone. Einige ‚gute Menschen‘ gaben uns den Rat, uns doch einen russischen Pass ausstellen zu lassen. Ich darauf: ‚Geben Sie mir meinen zurück!‘ Aber mit ihnen kommt man nicht weit….
Im August 2022, noch während der Besatzung, kehrte ein Dorfbewohner zurück, der früher festgenommen worden war. Er berichtete, Pavlo Tovstokoryj in dem berüchtigten Olenivka gesehen zu haben. Aber dieser Zeuge kam kurz danach ums Leben, und Tetjana konnte sich nicht mehr mit ihm treffen.
„Er ist auf eine Mine getreten. Ich habe niemanden mehr, den ich fragen könnte. Aber warum hätte er lügen sollen? Sie haben in also in die ‚Volksrepublik‘ Donezk verschleppt. Das war im August. Und im September wurden wir, Gottseidank, befreit.“
Ein Brief von Pavlo Tovstokoryj kam im Mai letzten Jahres. „Das war lediglich eine kleine Notiz von einigen Zeilen, aber es ist eindeutig seine Handschrift“, beteuert Tetjana.
„Ich habe beim Roten Kreuz angerufen. Sie sagten, dass der Aufenthaltsort des Gefangenen nicht bekanntgegeben werde. Dann kamen wieder lange Zeit keinerlei Nachrichten … Zivilisten werden nicht ausgetauscht.“
Warum haben die Russen gerade Pavlo Tovstokoryj verhaftet? Seine Frau hat den Verdacht, alles sei wegen des Taucheranzugs geschehen, den sie im Keller gefunden hatten.
„Wir haben ja das Wasserkraftwerk von Oskil, das ist in die Luft geflogen…. Vielleicht wollten sie ihm diesen Staudamm anhängen. Das ganze Dorf wusste, dass er seinerzeit getaucht hatte. Es fanden sich ‚gute Menschen‘, die ihnen diesen Tipp gaben. Die Russen sind gerade zu uns gekommen, eben seinetwegen. Sie freuten sich sichtlich, als sie den Taucheranzug fanden … Entschuldigen Sie, er war zu der Zeit schon fast 58. … Seit Kindheit fehlt ihm ein Auge…. Es gibt Kameraden, seine Arbeitskollegen, sie wurden auch festgenommen und verprügelt. Aber sie sind alle zurückgekehrt. Nur mein Mann nicht.“
Ende letzten Jahres erhielt Tetjana Tovstokora eine neue Nachricht: Im russischen Verteidigungsministerium wurde offiziell bestätigt, dass sich P. L. Tovstokoryj im November 2023 in Haft befindet und sich auf dem Territorium der Russischen Föderation aufhält.“ Mehr nicht.
Nach Angaben des Koordinationsstabs für Kriegsgefangene befinden sich derzeit mehr als 8.000 Ukrainer in russischer Gefangenschaft, deren Aufenthaltsort bestätigt wurde. Mehrere zehntausend Menschen, darunter nicht wenige Zivilisten, werden vermisst.
In der Datenbank von T4P wurden während der flächendeckenden russischen Invasion in den besetzten Gebieten 4.320 vermisste Personen verzeichnet. In einer Recherche der Charkiver Menschenrechtsgruppe (ChMG) wird berichtet, dass „nach dem Verschwinden einer Person ihre Angehörigen keinerlei Informationen bekommen konnten, weder bei den lokalen Besatzungsbehörden noch bei offiziellen Vertretern der Russischen Föderation. Die Bestätigung, dass sich ein Vermisster in russischem Gewahrsam befindet, erfolgt oft erst Monate nach seinem Verschwinden, manchmal sogar erst nach einem Jahr. Allerdings gibt auch eine derartige Bestätigung noch keine Auskunft über seinen genauen Aufenthaltsort und seinen Gesundheitszustand.“
Die ChMG hat eine Hotline für Vermisste eingerichtet.
Wenn einer Ihrer Angehörigen vermisst wird oder Sie von Kriegsgefangenen oder inhaftierten Zivilisten Kenntnis haben, die auf besetztem Gebiet vermisst werden, nehmen Sie Kontakt auf über die Nummer 0 800 20 24 02 (gebührenfrei).
Wir können nicht garantieren, dass wir den Aufenthaltsort Ihrer Angehörigen in Erfahrung bringen können. Aber in den Jahren unserer Arbeit haben unsere Experten über 30% der Personen ausfindig machen können, von denen man uns Mitteilung gemacht hatte.