Widerstand gegen die unrechtmäßige Deportation und Zwangsumsiedlung ukrainischer Kinder: Rückkehr und Justiz
Vom Februar 2022 bis August 2023 fielen mindestens Tausende ukrainischer Kinder einer unrechtmäßigen Deportation oder Zwangsumsiedlung durch die Russische Föderation zum Opfer. Darunter sind Waisen und Kinder ohne elterliche Fürsorge, Kinder mit Behinderungen, Kinder, die von ihren gesetzlichen Vertretern getrennt waren sowie Kinder, die ihre Eltern in Folge des militärischen Konflikts verloren hatten. Unter dem Vorwand einer sog. Evakuierung, eines Erholungsaufenthalts oder medizinischer Behandlung wurden sie in mindestens 57 Regionen der Russischen Föderation (RF) verschleppt. In 19 dieser Regionen wurden 380 Kinder zwangsweise an russische Familien übergeben. Ukrainische Kinder wurden auch nach Belarus transportiert (das Land wird als Teil eines Unionsstaats mit Russland gesehen) sowie auf die besetzte Krim-Halbinsel und ins russisch besetzte Südossetien in Georgien.
Unrechtmäßige Deportationen von Kindern aus der Ukraine begannen bereits nach der Besetzung der Krim und nachdem die organisierten Kampfgruppen im Donbas unter eine effiziente Kontrolle gestellt worden waren. Es werden keinerlei Informationen über die Opfer unrechtmäßiger Verschleppungen und Adoptionen bekannt, da die RF entgegen ihren Verpflichtungen keine Auskunft über ihren Aufenthaltsort und oder über widerrechtliche Änderungen ihres rechtlichen Status erteilt und die Rückführung dieser Kinder torpediert.
Anfang September 2023 konnten mithilfe ukrainischer Nichtregierungsorganisationen, Regierungsbehörden und unabhängiger Medien 386 Kinder aus russisch kontrollierten Gebieten zurückgebracht werden. Die bestehenden Methoden der Rückführung sind jedoch wenig effizient und zeitaufwendig. Russische Akteure missbrauchen die vulnerable Situation der Kinder und ihrer gesetzlichen Vertreter. Die RF lehnt es ab, Waisen und Kinder ohne elterliche Betreuung zurückzuführen. Angesichts dieser Sachlage und der Gefahr, dass die Kinder zu Opfern anderer internationaler Verbrechen werden, muss ein einheitliches Rückführungsverfahren entwickelt und implementiert werden.
In Übereinstimmung mit den Schlussfolgerungen der Experten des Moskauer OSZE-Mechanismus und der Internationalen unabhängigen Kommission zur Untersuchung von Verstößen in der Ukraine bestehen wir darauf, dass eine unrechtmäßige Deportation und Zwangsumsiedlung nicht im besten Interesse des Kindes erfolgt. Zudem geht sie einher mit zahlreichen Verstößen gegen die Genfer Konvention über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten und gegen das Zusatzprotokoll (I) über den Schutz von Opfern internationaler bewaffneter Konflikte sowie gegen die UN-Kinderrechts-Konvention. Im Einzelnen geht es um das Recht auf Bewahrung der Identität, darunter der Staatsbürgerschaft, das Recht auf Bildung, den Schutz vor unmenschlicher Behandlung, die Meinungsfreiheit, die Rechte auf seinen Namen, auf Familie und Familienzusammenführung, auf Praktizierung der eigenen Kultur und auf Nichtdiskriminierung.
Unserer Auffassung nach weisen einzelne Aktionen der RF bei der Russifizierungs— und Militarisierungspolitik ukrainischer Kinder Merkmale von Kriegsverbrechen auf (unrechtmäßige Deportation und Zwangsumsiedlung, ungerechtfertigte Verzögerung bei der Rückführung, Propagierung, sich freiwillig den Streitkräften des gegnerischen Staats anzuschließen). Außerdem gibt es Anzeichen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Deportation und Zwangsumsiedlung, diskriminierende Verfolgung) und Genozid (gewaltsame Überführung ukrainischer Kinder in die russische nationale Gruppe).
Die Maßnahmen der RF mit dem Ziel einer unrechtmäßigen Deportation, Zwangsumsiedlung, Russifizierung und der Weigerung, die Kinder zurückzuführen, wurden mehrfach von der internationalen Gemeinschaft verurteilt. Am 27. April 2023 erkannte die Parlamentarische Versammlung des Europarats in der Resolution 2491 (2023) an, dass Merkmale eines Genozids gegen die ukrainische Nation vorlägen. Am 17. März 2023, stellte die zweite Vorermittlungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) wegen der unrechtmäßigen Deportation von Kindern aus besetzten ukrainischen Gebieten nach Russland Haftbefehle gegen den russischen Präsidenten Vladimir Putin sowie gegen die Kinderrechtsbeauftragte der RF Maria Lvova-Belova aus.
Angesichts der Vulnerabilität von Kindern als Opfern eines militärischen Konflikts und des Ausmaßes an widerrechtlichen Handlungen, die die RF im Hinblick auf ihre unrechtmäßige Deportation, Zwangsumsiedlung und die ungerechtfertigte Verzögerung ihrer Rückführung begangen hat, betonen wir, dass folgende Beschlüsse nachhaltig zu unterstützen sind:
- Durch gemeinsamen diplomatischen Druck der Vertreter der internationalen Gemeinschaft ist die RF zu zwingen, ihre Verpflichtungen nach Artikel 78 des Zusatzprotokolls (I) zu den Genfer Konventionen zu erfüllen und unverzüglich ein vollständiges Verzeichnis von Namen und Aufenthaltsort aller ukrainischer Kinder vorzulegen, die unrechtmäßig in die RF deportiert oder in ein von ihr kontrolliertes Gebiet zwangsumgesiedelt wurden. Hierbei ist der rechtliche Status jedes Kindes anzugeben und insbesondere auf Fälle einer Adoption oder Vormundschaft sowie auf Änderungen persönlicher Angaben hinzuweisen.
- Die Resolution der UN-Vollversammlung zu den internationalen Verbindlichkeiten hinsichtlich der Rückführung ukrainischer Kinder ist zu verabschieden, mit deutlichen Forderungen an Russland, die Ukraine und die Mitgliedstaaten der vier Genfer Konventionen hinsichtlich des gemeinsamen Artikels 1.
- Auf Grund der verabschiedeten Resolution (s. Punkt 2) ist ein einheitlicher transparenter juristischer Mechanismus für die Rückkehr ukrainischer Kinder zu schaffen. Hierzu sollten eine dritte Seite ernannt und eine Reihe verbindlicher internationaler Verträge zwischen der Ukraine und der RF unterzeichnet werden. Die dritte Seite, ob nun ein Staat oder eine Staatengruppe, eine internationale Organisation oder irgendein anderes für die Parteien akzeptables Subjekt, wird als Vermittler sowie als Garant für die Einhaltung der Vereinbarungen fungieren.
- Bei jedem abgestimmten Rückführungsverfahren ukrainischer Kinder ist ein individueller Ansatz zu implementieren. In jedem Einzelfall ist eine unabhängige und unparteiische Einschätzung des Kindeswohls zu treffen. Sichere Lebens— und Entwicklungsbedingungen sowie das Wohlergehen jedes Minderjährigen müssen garantiert werden, wie sie durch den individuellen Ablauf der Rückkehr bestimmt werden.
- Auf nationaler und internationaler Ebene ist die Untersuchung internationaler Verbrechen zu fördern, die russische Agenten gegen ukrainische Kinder bei ihrer unrechtmäßigen Deportation und Zwangsumsiedlung begangen haben. Dabei sollte man sich auf die Opfer konzentrieren und zusammenarbeiten, um eine einheitliche, universale Jurisdiktion zu erreichen, Anzeigen von Opfern bei den zuständigen Organen zu erleichtern und das Prozedere verständlicher zu machen.
- Beweismittel müssen gesichert, und das Recht auf Wahrheit ist zu gewährleisten, insbesondere durch die Arbeit unabhängiger internationaler Kommissionen, Monitoring-Missionen und andere Mechanismen. So sollen Fälle unrechtmäßiger Deportation und Zwangsumsiedlung, gewaltsamer Übergabe in russische Familien, ungerechtfertigter Verzögerungen bei der Rückführung und andere widerrechtliche Taten festgestellt und verifiziert werden, die mit den genannten internationalen Verbrechen gegen ukrainische Kinder einhergehen.
- Es ist alles zu tun, damit Personen zur Verantwortung gezogen werden, die internationale Verbrechen begangen haben, insbesondere durch die Umsetzung der Entscheidungen und durch Kooperation mit dem IStGH.
- Für ukrainische Kinder, Opfer illegaler Deportation und Zwangsumsiedlung ist eine gerechte Kompensation des Schadens durch die RF sicherzustellen, unter anderem auch durch Konfiskation und Umwidmung eingefrorener Guthaben der hierfür Verantwortlichen.
- Die zuständigen internationalen Regierungs— und Nichtregierungs-Organisationen müssen gemeinsame Anstrengungen unternehmen, um der Ukraine kurzfristig alle erforderliche Hilfe zur Verfügung zu stellen, darunter organisatorische, informationelle, rechtliche, materiell-technische und finanzielle, um sie bei der Identifizierung, Rückkehr, Rehabilitierung und Reintegration ukrainischer Kinder zu unterstützen.
Gegenseitige Bemühungen, eine effiziente und qualifizierte Vermittlungs-Arbeit, die Konsolidierung der Menschenrechtsbewegung und die Schaffung eines einheitlichen Bewertungsmaßstabes für die Rückkehr ukrainischer Kinder und die folgende Anklage der Schuldigen können zur Umsetzung der genannten Beschlüsse auf nationaler wie internationaler Ebene beitragen. Dies würde auch die Wiederherstellung der internationalen Rechtsordnung gewährleisten sowie einen dauerhaften Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit.