60. 000 Ukrainer wurden zum Krieg Russlands gegen die Ukraine zwangsmobilisiert

Niemand kennt die Zahl der Menschen die in den besetzen Gebieten des Donbas zwangsmobilisiert und als russisches „Kanonenfutter“ im Krieg gegen die Ukraine getötet wurden.
Halya Coynash23. August 2023UA DE EN ES FR IT RU

“Мобілізація” на окупованому Донбасі. З відеоролика “Донбаські реалії” “Mobilization” in occupied Donbas. From the Donbas Realii video “Мобилизация” на оккупированном Донбассе. Из видеоролика “Донбасские реалии”

„Mobilisierung“ im besetzten Donbas. Aus einem Video von „Donbass-realija“

Ende Juli 2023 erklärte Andrij Tschernjak von der ukrainischen militärischen Aufklärung in einem Interview, dass im besetzten ukrainischen Territorium 55.000-60.000 Menschen gewaltsam mobilisiert und an die Front geschickt worden seien, um am Krieg Russlands gegen die Ukraine teilzunehmen. Die Männer wurden auf der Straße oder in den wenigen Betrieben, die noch funktionierten, aufgegriffen und ohne jegliche Ausbildung an die Front geschickt. Und dies, obwohl man ihnen versichert hatte, dass sie in der zweiten oder dritten Verteidigungslinie eingesetzt würden. Im Gespräch mit „Donbass-realija“ betont Tschernjak, dass hier wahrscheinlich die Ukrainer aus der besetzten Krim nicht mitgerechnet sind, die entweder illegal einberufen wurden oder unter die angebliche Teilmobilisierung fielen, die Präsident Putin am 21. September 2022 verkündet hatte.

Mitteilungen über eine Zwangsmobilisierung tauchten seit Anfang 2022 auf. Es hieß, dass in den von Russland kontrollierten „Volksrepubliken Donezk und Luhansk“ (im Folgenden: besetzter Donbas) Männer, auch Studenten, auf der Straße, bei der Arbeit oder zu Hause aufgegriffen wurden. In ihrer kürzlich erschienenen Untersuchung wiesen die „Novyny Donbasu“ (Donbas-Nachrichten) darauf hin, dass vermutlich bewusst nicht über Verluste von Soldaten aus den besetzten Gebieten informiert werde und dass eine eindeutig beabsichtigte Differenz in den Angaben über die höchste Altersgrenze bei der Zwangsmobilisierung bestehe.

Die „Teilmobilisierung“ in Russland sollte angeblich nur Wehrpflichtige der Reserve betreffen. Dies war anscheinend eine Lüge. Im besetzten Donbas, wohin alle Männer im wehrpflichtigen Alter geschickt wurden, war die Situation eine andere. In den Marionetten-„Republiken“ Russlands wurde auch die Gesundheitsprüfung abgeschafft. Mobilisiert wurden Männer, die aus medizinischer Sicht eindeutig von einer Einberufung hätten befreit werden müssen.

Russland hat Teile der Gebiete Donezk und Luhansk, die vor 2022 nicht besetzt waren, unter seine Kontrolle gebracht und wendet dort vermutlich die gleichen Zwangsmethoden an. Im Mai teilte die stellvertretende Verteidigungsministerin Anna Maljar mit, dass Russen Razzien auf besetztem Territorium durchführen und die Festgenommenen in dieselben Feldlager bringt, in denen auch verurteilte Straftäter ausgebildet werden, die aus russischen Strafkolonien entlassen und zum Kampfeinsatz gegen die Ukraine geschickt wurden.

Lokale Gruppen berichten laut Novyny Donbasu in den sozialen Netzen, dass Männer so gut wie nie eine Entlassung von der Front erreichen können, auch dann nicht, wenn sie schon über 50 sind. Bei diesen Gruppen heißt es, dass Männer dieser Altersgruppe nur zwei „Chancen“ hätten, nach Hause zu kommen — in Leichensäcken oder wenn sie einen Invaliden-Status nachweisen können, was alles andere als einfach ist.

Vor kurzem lag das Höchstalter für die Mobilisierung in Russland bei 50 Jahren, in den von Russland geschaffenen und kontrollierten Donbas-„Republiken“ hingegen bei 55 Jahren. Auch in Russland wird es in Zukunft schrittweise heraufgesetzt. Das galt aber nicht für die Territorien, die sich nach russischer Lesart Russland im September 2022 „angeschlossen“ haben. Dort wurden auch Männer im Alter von über 50 Jahren zwangsweise eingezogen. Diesbezügliche Hinweise von Angehörigen der Zwangsmobilisierten, die nicht einmal Fronturlaub bekommen, in Appellen an Putin oder die russischen „Statthalter“ im besetzten Donbas blieben ebenso erfolglos wie alle anderen Versuche, ihre Rückkehr zu erreichen. Eine Ausnahme gibt es offenbar nur bei Studenten, die laut „Novyny Donbasu“ ihre Rückkehr nach Hause mit Appellen durchsetzen konnten.

Aus den Eingaben der Ehefrauen an Putin usw. wird deutlich, dass ihnen nicht bekannt ist, wohin ihre Männer geschickt wurden und ob sie überhaupt noch leben. Die russischen „Behörden“ im besetzten Donbas stellen keinerlei Informationen über die Zahl der Männer aus den „Republiken“ zur Verfügung, die in Kampfhandlungen getötet wurden. Es gibt auch keine Angaben darüber, wie viele von der Front zurückgekehrt sind und wie viele noch dort sind.

Die „Volksrepublik Donezk“ hat offenbar tatsächlich bis zum 22. Dezember 2022 Angaben über „offizielle Verluste“ veröffentlicht. Seit diesem Zeitpunkt gibt es dazu keine offiziellen Verlautbarungen mehr. Die Angaben und Schätzungen von „Mediazona“ und dem russischen Dienst des BBC, wo von mindestens 11.500 gefallenen Soldaten die Rede ist, beziehen sich vermutlich nur auf jene, die offiziell in den russisch kontrollierten „Republiken“ als „Soldaten“ registriert waren. Die Zwangsmobilisierten sind hier wahrscheinlich nicht einbezogen. Seit Beginn der flächendeckenden russischen Invasion in die Ukraine wurde vielfach berichtet, dass Russland gerade deshalb Einwohner des besetzten Donbas als „Kanonenfutter“ einsetzt, weil sie nicht in die offizielle Statistik aufgenommen werden müssen.

Im März 2023 wurde bekannt, dass Russland die Mobilisierung junger Ukrainer in besetzten Gebieten intensiviert, sobald sie 18 Jahre alt sind. Jungen Männern im Alter von 16-17 Jahren wurde untersagt, das besetzte Gebiet zu verlassen. Jugendliche wurden gezwungen, Verträge zu unterschreiben und dann an die Front geschickt. Eine ähnliche Taktik wurde in Russland auch 2014-15 angewendet: Viele junge Männer wurden damals in die Ukraine geschickt und kamen ums Leben.

Moskau wird zweifellos die Pseudo-„Wahlen“ in den besetzten Gebieten und damit einhergehende Maßnahmen, die Ukrainer zur Annahme der russischen Staatsbürgerschaft zwingen sollen, nutzen, um in allen Territorien solche Schritte durchzusetzen, auch in den besetzten Teilen der Gebiete Cherson und Zaporizhzhia.

Jede Form einer Zwangsmobilisierung oder gewaltsamen Einberufung verstößt gegen internationales Recht. Menschenrechtsgruppen untersuchen solche Verstöße und übermitteln dem Internationalen Strafgerichtshof bereits seit der russischen Invasion der Krim und ihrer Annexion 2014 die Belege dazu.

Die Generalstaatsanwaltschaft der Ukraine wertet alle Aktivitäten im Zusammenhang mit einer Mobilisierung von Ukrainern zur Teilnahme am Krieg Russlands gegen die Ukraine als Kriegsverbrechen. Verfahren zu Zwangseinberufung oder -mobilisierung wurden bereits ans Gericht übergeben oder werden noch untersucht. Sie fallen unter Artikel 438 des Strafgesetzbuchs der Ukraine (Verstoß gegen Gesetze und Regeln des Krieges).

Ein zusätzliches Problem ist, wie mit Zwangsmobilisierten umzugehen ist. Von Anfang an wurde deutlich kommuniziert, dass jeder Ukrainer, der sich in Gefangenschaft begibt, als Opfer russischer Kriegsverbrechen betrachtet wird. Sich unter Kriegsbedingungen in Gefangenschaft zu begeben ist aber keineswegs einfach, da die Russen jemanden, der sich ergeben will, erschießen oder inhaftieren und foltern werden, wenn sie seiner habhaft werden. In den letzten Monaten hat Russland das Zustellungsverfahren eines Einberufungs— oder Mobilisierungsbescheides erheblich verkompliziert, und sich der Einberufung zu entziehen ist schwierig. Zurzeit betrifft das in erster Linie die besetzte Krim, aber dieselbe Gefahr wird auch allen anderen ukrainischen Gebieten drohen, solange der Feind nicht vertrieben ist.

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