Um welche Kriegsverbrechen handelt es sich bei der Zerstörung des Staudamms beim Wasserkraftwerk von Kachovka

Die Zerstörung des Wasserkraftwerks von Kachovka am 6. Juni 2023 hat die ganze Welt daran erinnert, dass die russische Aggression gegen die Ukraine in ihrer Brutalität nicht hinter dem Geschehen im Zweiten Weltkrieg zurücksteht.
Kostjantyn Sadoja22. Juni 2023UA DE ES FR IT RU

Folgen der von der Zerstörung des Wasserkraftwerks von Kachovka hervorgerufenen Überflutung

Da sich das Wasserkraftwerk auf von Russland besetztem Territorium befand und die Ukraine keine Möglichkeit hatte, aus der Ferne ein so großes Objekt der Infrastruktur zu zerstören, liegt die Verantwortung für die Zerstörung des Damms offensichtlich bei den russischen Truppen. Politiker und Experten haben diese bereits als Kriegsverbrechen bezeichnet. Juristisch betrachtet geht es hier jedoch nicht um ein einzelnes Kriegsverbrechen, sondern um einen ganzen Komplex.

1. Bei der Einstufung der Zerstörung des Wasserkraftwerks von Kachovka als Kriegsverbrechen verweisen die Vertreter der ukrainischen Regierung (1, 2) und der Zivilgesellschaft (3, 4) nacheinander auf Artikel 56 (1) des Zusatzprotokolls zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte von 1977 (Protokoll 1). Nach diesen Bestimmungen dürfen so genannte „Anlagen oder Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten“, zu denen auch Staudämme gehören, keine Angriffsziele werden, selbst dann nicht, wenn sie militärische Objekte sind, wenn ein Angriff gefährliche Kräfte freisetzen und zu schwerwiegenden Folgen für die Zivilbevölkerung führen kann. Artikel 85 (3) des Zusatzprotokolls 1 bezeichnet das „Führen eines Angriffs gegen gefährliche Kräfte enthaltende Anlagen oder Einrichtungen“ als schwere Verletzung des humanitären Völkerrechts, d. h. als Kriegsverbrechen. Obwohl eine solche rechtliche Einschätzung der Situation auf den ersten Blick logisch scheint, ist sie dennoch nicht korrekt. Nach Artikel 49 (1) des Zusatzprotokolls 1 sind Angriffe „Gewaltanwendung gegen den Gegner“, unabhängig davon, ob sie beim Angriff oder bei der Verteidigung erfolgen. Daraus folgt, dass unter einem Angriff auf einen Staudamm in Artikel 56 (1) des Zusatzprotokolls 1 eine Militäroperation verstanden wird, die sich gegen einen Damm richtet, der von der Gegenseite im internationalen militärischen Konflikt kontrolliert wird. Bei den Verhandlungen zum Abschluss des Zusatzprotokolls 1 haben die vertragschließenden Parteien in Artikel 56 (1) bewusst das Wort „Angriff“ aufgenommen und nicht den umfassenderen Ausdruck „Zerstörungen“, damit das hier vorgesehene Verbot nicht Zerstörungen von Einrichtungen und Anlagen betrifft, die sich unter der Kontrolle der betroffenen Konfliktpartei befinden. Einzelne Länder bestanden darauf, da sie aufgrund ihrer geographischen Lage die potentielle Zerstörung von Staudämmen auf ihrem eigenen Territorium als wichtige Schutzmaßnahme gegen eine äußere Aggression ansahen. Folglich kann man die Angriffe russischer Streitkräfte aus der Ferne auf die Staudämme am Fluss Inhulez oder des Damms beim Staubecken von Karlivka als Verstoß gegen Artikel 56 (1) des Zusatzprotokolls 1 betrachten, jedoch nicht die Zerstörung des Staudamms von Kachovka, weil letzterer unter russischer Kontrolle stand.

2. Im Übrigen ist die Zerstörung des Wasserkraftwerks von Kachovka als eine weitere schwerwiegende Verletzung des humanitären Völkerrechts zu betrachten, nämlich als Zerstörung „von Eigentum in großem Ausmaß, die durch militärische Erfordernisse nicht gerechtfertigt ist und rechtswidrig und willkürlich vorgenommen wird“, wie das in Artikel 147 des Genfer Abkommens über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten (IV) und in Artikel 8 (2) (a) (iv) des Römischen Statuts festgehalten ist. Zweifellos ist die Vernichtung der Wasserkraft-Anlage mit einem Wert von Milliarden Grivna ebenso wie die von Tausenden Gebäuden und Häusern und anderem Eigentum durch die folgende Überflutung als Zerstörung in „großem Ausmaß“ anzusehen. Ebenso steht außer Frage, dass hierfür keine militärische Notwendigkeit bestand, etwa im Rahmen des Versuchs, ein mögliches Übersetzen der ukrainischen Streitkräfte über den Dnipro zu verhindern. Wenn dieses Ziel tatsächlich verfolgt wurde, dann hätte dies angesichts der Überlegenheit der russischen Truppen bei Luftwaffe und Raketenausrüstung auch erreicht werden können, ohne das Wasserkraftwerk von Kachovka zu zerstören.

3. Außer der Abwendung vermuteter Angriffsaktionen durch ukrainische Truppen versuchten jene, die das Wasserkraftwerk zur Explosion brachten, offensichtlich dem Personal, dem Eigentum und den Positionen des ukrainischen Militärs auf dem rechten Ufer und den Inseln an der Dnipro-Mündung unmittelbaren Schaden zuzufügen, indem die zerstörerische Wasserkraft dorthin gelenkt wurde. Insofern kann die durch die Zerstörung des Kraftwerks ausgelöste Überflutung als Angriff im Sinne von Artikel 49 (1) des Zusatzprotokolls 1 gewertet werden. Dieser Angriff ist eindeutig willkürlich, da die Überflutung allen Menschen und Objekten Schaden zufügt, die von ihr erfasst werden, unabhängig davon, ob die Menschen Kombattanten oder Zivilpersonen sind und ob es sich um militärisches oder ziviles Eigentum handelt. Diese Willkür ist nicht mit einem militärischen Vorteil zu begründen. Die durch die Zerstörung des Staudamms hervorgerufene Überflutung konnte den Russen nur einen begrenzten militärischen Vorteil bringen, etwa dadurch, dass sich die ukrainischen Positionen um einige Kilometer entfernen mussten oder ukrainische Soldaten zu Schaden kamen, der aber nicht von größerer Bedeutung sein konnte. Dies stünde in keinem Verhältnis zu der Gefährdung Tausender Menschen und ziviler Objekte. Daher lässt sich schlussfolgern, dass hier ein Kriegsverbrechen vorliegt in Form eines vorsätzlichen Angriffs in Kenntnis davon, dass dieser „Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen oder die Beschädigung ziviler Objekte zur Folge haben wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“ (Artikel 85 (3) (b) Zusatzprotokoll 1, Artikel 8 (2) (b) (iv) Römisches Statut).

4. Wenn man die durch die Zerstörung des Wasserkraftwerks von Kachovka ausgelöste Überflutung als Angriff russischer Militärs auf Personal, Eigentum und Positionen der ukrainischen Truppen betrachtet, darf nicht ignoriert werden, dass der Angriff auch Schäden für die Umwelt bewirkte. Nach Einschätzungen von Experten handelt es sich hier um die Zerstörung des Ökosystems einer ganzen Region. Ein solcher Schaden steht eindeutig in keinem Verhältnis zum erwartbaren militärischen Vorteil. Folglich kann mit guten Gründen noch von einem weiteren Kriegsverbrechen gesprochen werden — vom vorsätzlichen Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser „weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“ (Artikel 8 (2) (b) (iv) des Römischen Statuts).

5. Nach den Normen des humanitären Völkerrechts muss eine Besatzungsmacht die Bevölkerung auf den besetzten Gebieten vor den Folgen des Krieges schützen. Im Zusammenhang mit der Zerstörung des Wasserkraftwerks von Kachovka hätten die russischen Soldaten demnach die Bewohner der besetzten Territorien, deren Leben durch die Überflutung gefährdet werden konnte, rechtzeitig evakuieren müssen. Da eine solche Evakuierung nicht stattfand, ist der Tod jener, die durch die Überflutung auf besetztem Gebiet ums Leben kamen, als vorsätzlicher Mord zu qualifizieren (Artikel 147 der Genfer Konvention IV, Artikel 8 (2) (a) (i) Römisches Statut). Denn nach internationalem Recht besteht ein Vorsatz zum Mord dann, wenn sich eine Person dessen bewusst ist, dass ihre Handlung oder Unterlassung zum Tod eines Menschen führen kann.

6. Schließlich ist die Tatsache, dass russische Soldaten die Evakuierung von Einwohnern aus überfluteten Ortschaften des linken Ufers behinderten, als unmenschliche Behandlung einzustufen (Artikel 147 der Genfer Konvention IV, Artikel 8 (2) (a) (ii) Römisches Statut). Denn Menschen zu zwingen, an Orten zu bleiben, in denen Gefahr für ihr Leben und ihre Gesundheit besteht, ist ein Angriff sowohl auf ihre Gesundheit als auch auf ihre Menschenwürde und erfüllt damit den Tatbestand einer unmenschlichen Behandlung.

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