Stimmen des Krieges: „Ich blieb im besetzten Gebiet, weil ich den Hund nicht zurücklassen konnte. “

“Acht Personen kamen ins Haus: Burjaten und ein Russe. Sie durchsuchten das ganze Haus. Sie sagten, sie würden Bandera-Leute suchen. Es war, als ob sie wirklich nicht verstanden, dass hier niemand auf sie gewartet hatte. ”
Oleksandr Vasyljev. Übersetzung: Nicole Hoefs-Brinker05. April 2023UA DE EN ES FR IT RU

Наталія Вітковська Natalija Vitkovska Nataliia Vitkovska Наталья Витковская

Natalija Vitkovska

— Ich heiße Natalija Fedorivna Vitkovska. Ich bin Lehrerin an einem Lyzeum. Ich lebe in Borodjanka im Gebiet Kyjiv, hier überstand ich die russische Okkupation.

— Wie war der erste Tag der flächendeckenden Invasion Russlands für Sie?

— Wir haben ein einstöckiges Haus, im ersten Stock ging die ganze Zeit jemand raus und schaute nach, von welcher Seite das Feuer kam und was passierte. Denn auf der einen Seite von uns ist Hostomel, aber die Russen kamen von der anderen Seite — aus dem Norden. Wir hörten Donner, Geräusche von Flugzeugen und dann begannen die Explosionen. Wir organisierten in der Familie Wachen, um zu sehen, von woher was geflogen kam. Die Sache ist die, dass wir ein einstöckiges Haus haben, unser Enkel war da noch bei uns, er ist zwei Jahre alt. Wir liefen jedes mal in den Keller, wieder hochzukommen war schwierig, deshalb hielten wir Wache, um zu wissen, wann es gefährlich wird und wir in den Keller müssen.

Wir haben auch für alle Fälle Metallschutz an den Fenstern angebracht und mit den Nachbarn einen gemeinsamen Chat gehabt, um Informationen auszutauschen. Aber im Großen und Ganzen hat der nichts genutzt, weil Licht und Verbindung fast sofort weg waren. Außerdem hat sich mir der erste Tag auch deswegen eingeprägt, weil wir in der Hoffnung aus dem Haus gingen, Lebensmittel zu kaufen, aber die Geschäfte waren praktisch schon leer. Deshalb haben wir einfach weiter im Keller gesessen und nach draußen geschaut, um zu wissen, was vor sich geht, wo es donnert und von woher etwas geflogen kam.

— Wie begann die Okkupation für Sie?

— Die Okkupation begann mit Bränden. Ich erinnere mich, dass meine Kollegin am 7. März schrieb, dass durch ihre Straße schon Besatzer laufen und die Wohnungen kontrollieren. Das war der letzte Schriftwechsel, weil es schon keine Verbindung mehr gab. Zu uns kamen die Besatzer dann am 9. März, so eine Mini-Säuberungs-Kolonne und einige Fahrzeuge, auf denen Scharfschützen saßen. Acht Personen kamen ins Haus: Burjaten und ein Russe. Sie durchsuchten das ganze Haus. Sie sagten, sie würden Bandera-Leute suchen. Ich fragte sie, wozu sie überhaupt in die Ukraine gekommen seien, aber sie ließen sich auf fast keine Diskussion ein.
Aber wir hatten ein Gespräch mit einem russischen Offizier und der wollte erneut wissen, wo die 'Nazis' sein, und wie unser Alltag ist. Und wir fragten wieder, wozu sie gekommen seien. Wir versuchten zu erklären, dass wir nicht befreit werden müssten und dass niemand bei uns hier russische Muttersprachler diskriminiert. Ich sagte, dass ich selbst mal Russisch unterrichtet habe. Aber sie kamen immer wieder auf Bandera und auf Nationalisten. Es war, als ob sie wirklich nicht verstanden, dass hier niemand auf sie gewartet hatte.

Es gab drei Wellen. Bei der ersten liefen sie in Kolonnen durch Borodjanka und kamen nicht mehr zu uns zurück. Und ungefähr um den 15., 20. März kam die zweite Welle. Die waren schon nicht mehr wie aus dem Ei gepellt wie bei der ersten Welle, sondern etwas schäbig.

Sie suchten nach einem Ort, um sich aufzuwärmen, schleppten Decken aus den Häusern in die Keller und richteten dort ihre Schlafplätze ein. Aber die dritte Welle — das waren schon komplette Landstreicher. Einfach fürchterlich, mit Worten kaum zu beschreiben. Wie Obdachlose krochen sie durch die Nachbarhäuser. Uns rührten sie weitestgehend nicht an, kontrollierten nur das Haus. Aber einen Nachbarn schlugen sie, weil er nachts am Fenster geraucht hatte. Sie glaubten, dass er auf diese Weise mit dem Rauch der Zigarette, Signale an Partisanen oder an die ukrainischen Streitkräfte senden würde.

— Waren Sie Zeugin von Kriegsverbrechen russischer Soldaten?

— Sie haben geplündert. Zum Beispiel haben sie das Haus eines Nachbarn in der Nova-Straße 7 ausgeräumt. Sie sind auch durch die Fenster in die Häuser geklettert, nahmen das Eigentum mit und luden es in ihre Fahrzeuge.

— Haben Sie gesehen, wie russische Soldaten Zivilisten gefoltert oder getötet haben?

— Nein, denn wir sind so gut wie gar nicht aus dem Haus gegangen und waren immer nur in unserer Straße.

— Warum haben Sie sich nicht aus Borodjanka evakuieren lassen?

— Erstens hatten wir kein Benzin mehr. Mein Mann und ich hatten alles den Kindern gegeben, damit sie wegfahren konnten. Zweitens haben wir einen Hund, einen Alabaj [Zentralasiatischer Herdenschutzhund], den konnten wir nicht zurücklassen. Drittens wollten wir nicht zu irgendjemandem fahren und dessen Essen essen, solange wir noch Besitz und Vorräte hatten. Und das Wichtigste — das ist mein Land, warum sollte ich es jemandem überlassen, der in mein Territorium eindringt?

— Hätten Sie noch vor dem Krieg gedacht, dass es in der gesamten Ukraine zu einer Invasion kommen würde?

— Mir war klar, dass sich die Beziehungen zu Russland verschlechtern, aber dass sie so weit gehen würden, daran habe ich bis zum Schluss nicht geglaubt.

— Hatten Sie sich auf eine mögliche komplette Invasion vorbereitet?

— Einen Tag vor dem Einfall begannen mein Mann und mein Sohn zu sagen, dass wir ein paar Sachen packen müssen und am 24. hatte ich schon ein Not-Köfferchen und alle Dokumente gepackt. Bis dahin war ich nicht besonders vorbereitet.

— Was können Sie über die Bombardierung von Borodjanka durch russische Flugzeuge berichten?

— Das war grausam! Dieses Geräusch von einem Flugzeug, wenn es im Anflug zur Bombardierung ist, habe ich zuvor noch nie gehört. Es war beängstigend, wir liefen in den Keller. Als wir im Keller saßen, erbebte im Inneren alles. Die Bomben fielen 400 Meter von uns entfernt, waren aber sehr stark zu spüren. Meine Schwiegertochter hat sich über ihr Kind gelegt, das war einfach schrecklich, ich kann Ihnen das gar nicht beschreiben. Dann wurden unsere Kinder mit den Enkeln evakuiert und mein Mann und ich passten uns irgendwie an dieses Leben an.

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Borodjanka. Folgen russischer Flugangriffe

— Was wurde aus Ihrem Besitz?

— Der ist teilweise beschädigt. Gott sei Dank steht das Haus noch, aber auf das Dach sind Trümmer geflogen: Der Schiefer ist zerbrochen, der Anbau beschädigt, rundherum sind Risse. Wir können dort schon wohnen, aber durch die Druckwellen sind Spalten neben den Fenstern entstanden. Ich weiß nicht, wie wir den Winter überstehen sollen. Aber im Vergleich mit anderen Betroffenen, die überhaupt alles verloren haben, hat Gott uns geschont.

— Was haben Sie empfunden, als Borodjanka befreit wurde?

— Immenses Glück! Aber die innere Unruhe ist immer noch da. Dass sie hier waren, über unsere Erde getrampelt sind und Elend angerichtet haben.

— Hat sich Ihre Einstellung den Russen gegenüber verändert?

— Auch wenn Freunde von mir dort Verwandte haben, die ich sehr gut kenne und ich nicht weiß, was ich irgendwann mal machen werde, jetzt will ich nicht mit ihnen sprechen. Ich weiß noch nicht, was passieren müsste, dass ich mich mit ihnen wieder an einen Tisch setze. Mir tun die Mütter der russischen Soldaten leid, aber wenn sie andererseits ihre Söhne ziehen haben lassen, um uns zu töten, verdienen sie kein Mitgefühl. Mögen sie zur Hölle fahren.

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