Hilfe für die Menschen und Dokumentation der Verbrechen Russlands: Die Arbeit der Charkiver Menschenrechtsgruppe im Jahre 2022

Jevhen Sacharov, der Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe, erinnert an die Herausforderungen von 2022 und betont, wie wichtig die Menschenrechtsarbeit zu Kriegszeiten ist.
Jevhen Sacharov31. Januar 2023UA DE EN ES FR IT RU

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Im Jahre 2022 hat sich die Menschenrechtsarbeit in der Ukraine kolossal verändert.

Russland einen großangelegten Krieg entfesselt, um den ukrainischen Staat und alle, die ihn verteidigen und unterstützen, auszulöschen. Zu diesem Zweck verfolgt man eine Strategie der verbrannten Erde: Jede Stadt, die sich gegen die russischen Angriffe zur Wehr setzte, wurde bereits am zweiten Tag mit Bomben und Luftschlägen traktiert, die die Zivilbevölkerung und zivile Ziele ins Visier nahmen. Das gilt für Mariupol, Charkiv, Ochtyrka, Mykolajiv, Cherson, Sjevjerodonezk, Bachmut, Isjum, Kupjansk und weitere Orte. Die Folge waren zigtausend getötete und verletzte Zivilpersonen, zigtausende zerstörte Gebäude, Millionen Flüchtlinge.

Wie die gesamte Zivilgesellschaft in der Ukraine machten sich auch Menschenrechtsorganisationen sofort daran, der Armee sowie Zivilpersonen Hilfe zu leisten. Das ehrenamtliche Engagement bei uns ist einzigartig.

Aber Menschenrechtler haben ihre eigenen, spezifischen Aufgaben. Bereits eine Woche nach Kriegsbeginn begannen wir, die Verbrechen zu dokumentieren, um Informationen für die weitere Ermittlung zu sammeln und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, die Personen, die verbrecherische Befehle erteilt oder ausgeführt haben. Die Organisationen, die der Initiative “Tribunal für Putin” (T4P) angehören, haben das gesamte Land unter sich aufgeteilt und stellen nach einem einheitlichen Muster Daten in ihren Regionen zusammen, die dann in eine gemeinsame Datenbank eingetragen werden. Nach dem heutigen Stand wurden über 30.500 mutmaßliche Kriegsverbrechen erfasst. Eine Statistik findet sich auf unserer Seite t4pua.org in sieben Sprachen.

Die Datenbank basiert auf offenen Quellen und unmittelbaren Kontakten mit Opfern und Zeugen. Den Opfern wird Rechtshilfe geleistet. Anwälte der Charkiver Menschenrechtsgruppe haben nationalen Justizorganen etwa 1.000 Strafanzeigen übermittelt, Verfahren wurden eingeleitet, und die Betroffenen wurden als Geschädigte anerkannt. 350 dieser Verfahren beziehen sich auf die hohe Zahl von Getöteten und Verletzten durch Bombardements, Luftangriffe, Minen und Schusswaffen. Darüber hinaus geht es um ungesetzliche Freiheitsberaubung, Entführung von Zivilpersonen und Folterungen. Diese Verbrechen haben bei der Untersuchung Priorität. Im Gebiet Charkiv unterstützen wir hierbei die Ermittlungsabteilung des SBU: Auf Grund dieser Fälle werden Anträge bei internationalen Gerichten vorbereitet.

Vor allem kommt es jedoch auch darauf an, weltweit darüber zu berichten, was sich in der Ukraine abspielt. Von unserer siebensprachigen Website war schon die Rede. Vieles erscheint auch auf der Website der Charkiver Menschenrechtsorganisation. Seit März letzten Jahres interviewen wir Opfer und Zeugen von Verbrechen, die wir in der Rubrik “Stimmen des Krieges” veröffentlichen. Bis jetzt liegen uns etwa 120 Interviews auf Ukrainisch vor, 60 auf Russisch und Englisch. Und in Kürze werden diese Stimmen in neun Sprachen vorliegen.

Ebenso wichtig wie juristische Unterstützung ist für die meisten traumatisierten Menschen auch psychologische Hilfe. Die Charkiver Menschenrechtsgruppe hat ein psychologisches Zentrum in Charkiv eröffnet, und seit Jahresbeginn gibt es solche Zentren auch in Kyjiv und Lviv. Wir planen, dass jemand, der zu uns kommt, die Hilfe erhält, die er benötigt, sei es rechtliche, psychologische, soziale oder medizinische. In Charkiv funktioniert das bereits: Die Sprechzimmer von Juristen und Psychologen liegen nebeneinander, und wir haben eine Vereinbarung mit medizinischen Einrichtungen und einem Büro für gerichtsmedizinische Gutachten, um gegebenenfalls Personen dorthin verweisen zu können, die diese Hilfe benötigen.

In diesem Zusammenhang ist es sehr sinnvoll, die befreiten Gebiete regelmäßig aufzusuchen, um über Verbrechen zu recherchieren und den Opfern Hilfe zu leisten. Seit September sind drei Gruppen von Mitarbeitern der Charkiver Menschenrechtsgruppe fast täglich im Gebiet Charkiv unterwegs.

Dieses Modell soll auch in den Gebieten Kyjiv und Lviv realisiert werden.

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe führt derzeit fünf soziale und humanitäre Unterstützungsprogramme für mehrere Gruppen durch:

  1. Familien in einer schwierigen sozialen Situation (kinderreiche Familien, Familien mit Toten, Verletzten und Kranken, Familien, die ihr Eigentum verloren haben, die evakuiert werden mussten usw.).
  2. Verurteilte Straftäter in Haftanstalten: Dort gab es auch vor dem großangelegten Krieg erhebliche Probleme, mit dem Krieg haben sie sich noch verschlimmert.
  3. Mitwirkung im Programm “Geben wir der Ukraine Wärme und Licht zurück”.
  4. Hilfe für Familien, in denen es Tote oder Verletzte gibt — 1.000 Familien sollen unterstützt werden (180 haben schon Unterstützung erhalten).
  5. Hilfe für 2.000 Familien mit zivilen Todesopfern: Die Hälfte des Nobelpreises 2022 für Memorial wird auf Beschluss des Vorstands von Memorial International der Charkiver Menschenrechtsgruppe zu diesem Zweck überlassen.

Anmerkung: Die Charkiver Menschenrechtsgruppe ist einer der ältesten und bekanntesten Menschenrechtsorganisationen in der Ukraine. In individuellen Verfahren leistet sie rechtliche Unterstützung, und auf staatlicher Ebene engagiert sie sich für die Förderung von Freiheit und Menschenrechten. Im März 2022, angesichts des Einmarschs Russlands in die Ukraine, hat die Charkiver Menschenrechtsgruppe mit anderen Organisationen die Initiative T4P ins Leben gerufen, um Kriegsverbrechen zu dokumentieren.

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