Zerstörte Häuser und Schicksale im Gebiet Tschernihiv

Eine Frau berichtet, ihre Tochter und zwei Enkel hätten versucht, auf einer angeblich sicheren Straße aus dem besetzten Dorf zu fliehen. Das erwies sich jedoch als Irrtum. Und die Frau hat ihre Tochter und ihre Enkel verloren. Auf die Frage, mit wem sie jetzt zusammenlebt, fängt die Frau an zu weinen. Sie hat niemanden mehr, mit dem sie zusammenleben könnte.
Anna Kortschmar19. Dezember 2022UA DE EN ES FR IT RU

Зруйновані домівки та долі на Чернігівщині [1]

Was in den befreiten Gebieten am meisten in Erstaunen versetzt, sind die Menschen. Die starken, unerschütterlichen Menschen, die weiterleben, trotz all ihrer persönlichen Tragödien. Sie streiten sich, wenn sie bei der Sprechstunde im Gemeinderat Schlange stehen. Sie kaufen Land, um es während des Krieges zu bestellen, sie kochen Tee mit Konfitüre, um sich aufzuwärmen, wenn die Heizung ausfällt, sie treiben Handel in ihrem kleinen Laden, wo sie kürzlich einen Generator eingerichtet haben. Deshalb haben sie keine Angst mehr, wenn der Strom abgeschaltet wird. Sie erschrecken, wenn sie entfernte Explosionsgeräusche hören, obwohl sie wissen, dass das lokale Minenarbeiter bei ihrer Arbeit sind. Sie kehren aus dem Ausland nach Hause zurück und machen sich an die Arbeit. Vielleicht weinen sie manchmal, aber sie leben. Und lachen — aufrichtig, auch verzweifelt. Wenn man aus dem jetzt relativ sicheren Kyjiv kommt, schämt man sich, wenn man zeitweilige Anfälle von Depressionen bekommt, weil der Strom ausfällt oder es wieder einmal zu einem der üblichen Bombenangriffe kommt.

Diese Veröffentlichung handelt von den Menschen und ist für die Menschen. Davon, wie sie überlebt und über das, was sie durchgemacht haben. Am Morgen suchen diese Personen die Juristen der Menschenrechtsgruppe Charkiv auf. Jede hat ihre eigene Tragödie hinter sich. Sie stammen alle aus der Gemeinde Ivanivka im Gebiet Tschernihiv, die am meisten in dieser Region unter der russischen Invasion zu leiden hatte. Die erste ist eine Frau, deren Sohn erschossen wurde, direkt vor ihren Augen. Am ersten Tag der russischen Besatzung drangen sie in den Hof ein und töteten ihn mit dem Maschinengewehr, ohne ein Wort mit ihm gesprochen zu haben. Ihr Sohn war kein Soldat oder Polizist, ja nicht einmal politisch aktiv. Der einzige Grund, ihn zu erschießen war, dass er ein Mann war. Wie auch einige andere, ist sie zu einem Interview bereit. Sie möchte, dass die ganze Welt ihre Geschichte erfährt.

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Eine andere Frau kommt mir ihrer kleinen Tochter. Diese ist ein Jahr und elf Monate alt. Ihr Vater ist vor einem halben Jahr ums Leben gekommen. Er war einfach nur auf die Straße gegangen. Er wurde erschossen, weil er Ukrainer war. Die Frau streichelt die Tochter und gibt ihr „staatliche“ Süßigkeiten von Tisch der Angestellten des Gemeinderats. Auf den ersten Blick macht sie einen ganz gewöhnlichen, attraktiven, glücklichen Eindruck — solange man nicht weiß, was in den Dokumenten in ihrem Dossier steht.

Eine weitere Frau berichtet, wie ihre Tochter und zwei Enkel versuchten, aus einem besetzten Dorf zu fliehen. Sie wählten eine scheinbar sichere Straße, was sich jedoch als Irrtum erwies. Die Frau hat ihre Tochter und ihre Enkel verloren. Auf die Frage, mit wem sie jetzt zusammenlebt, fängt sie an zu weinen. Sie hat niemanden mehr, mit dem sie zusammenleben könnte.

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Die Opfer zeigen Fotos ihrer getöteten Angehörigen, die die Polizei gemacht hat. Einige waren selbst bei der Exhumierung anwesend. Man kann sich schwer vorstellen, was sie durchmachen, wenn sie diese Aufnahmen ansehen, und wie sie sie den Ermittlern zeigen sollen, ohne zu weinen. In einigen Fällen haben Nachbarn ihre Verwandten im Ggemüsegarten begraben, aber nicht sofort, sondern erst, sobald die Russen es erlaubten. „Gut, dass es in diesem März noch kalt war…“ sagt ein Mann.

Als nächste kommt eine 76-jährige Oma. Sie macht die ganze Zeit über Scherze, die den ganzen Gemeinderat zum Lachen bringen. Während des Artilleriebeschusses war die Frau schwer verletzt worden. Auch darüber macht sie Witze. Sie sorgt die ganze Zeit bei allen für Zerstreuung, und die Dorfbewohner berichten: „Sie tanzt sogar häufig auf der Straße. Das ganze Dorf kennt sie, und alle Kinder im Ort lieben sie.“

Eine andere Verletzte berichtet begeistert, dass die Russen ihren Mann zur Behandlung nach Belarus gebracht hätten, und die belarusischen Ärzte ihnen die Entlassungsbescheinigung auf Ukrainisch ausgestellt und dazu noch mit der Überschrift „Slava Ukraine“ (Ruhm der Ukraine) versehen hätten, um ihre Solidarität mit dem ukrainischen Volk zu demonstrieren.

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Eine weitere Verletzte, deren Bein wie durch ein Wunder durch ausländische Chirurgen gerettet werden konnte, beklagt sich hingegen: Der Traumatologe im Ort lehne es ab, ihre eine Behindertenbescheinigung auszustellen, weil sie nach seiner Meinung nicht behindert sei. In Wirklichkeit, meint die Frau, wolle er einfach Geld dafür bekommen.

Unsere Juristen und Ermittler arbeiten in dem Dorf bis zum Einbruch der Dunkelheit und sogar im Dunkeln, weil während der Sprechstunde mehrfach der Strom abgestellt wurde. Im Gemeinderat ist es sehr kalt, da es keine Heizung gibt. Während der Kämpfe im Dorf sind die Fenster alle kaputt gegangen und wurden noch nicht wieder ersetzt. Als eine russische Granate das Nachbargebäude zerstörte, einen Klub, hielt das Gebäude des Gemeinderats stand.

Auf die Frage, warum bis jetzt noch keine neuen Fenster eingesetzt wurden, erklärt die Dorfvorsteherin, dass man im Gemeinderat keine Fenster anbringen könne, wenn viele Dorfbewohner das in ihrem eigenen Haus noch nicht könnten. Offensichtlich sorgt sich diese Frau wirklich um ihre Gemeinde. Sie selbst hat auch eine persönliche Tragödie hinter sich, spricht aber nur ungern darüber.

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Nach der Sprechstunde besichtigen die Ermittler die Zerstörungen, um sie zu dokumentieren. Eine Fahrt durch die Gemeinde nimmt ziemlich viel Zeit in Anspruch. Die sechs Ortschaften zu besuchen, in denen es die meisten Zerstörungen gegeben hat, erfordert fast einen ganzen Tag. Auf den ersten Blick scheinen die Schäden nicht so erheblich, aber in Wirklichkeit sind 271 Häuser vollkommen und ebenso viele weitere sind teilweise zerstört. Natürlich wurde in einem halben Jahr durch die Bemühungen der Menschen vieles repariert, aber es ist kaum möglich, alles wiederherzustellen. Es gibt Häuser, die einfach nicht mehr bewohnbar sind.

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Die Menschen im Dorf begleiten das Auto der Ermittler mit Neugier, sie stellen allerdings keine Fragen: Sie wissen, dass es Gäste aus Charkiv sind. Sie begegnen ihnen mit Wohlwollen und bewirten sie mit heißem Tee und Kartoffeln.

Schließlich treffen wir am späten dunklen Abend auf dem Weg nach Tschernihiv auf einen Kontrollposten. Während einer der Soldaten die Dokumente der Ermittler genau überprüft, machen die andern mit Begeisterung eine Schneeballschlacht. Durch den gefrierenden Regen ist die Straße von einer Eisschicht bedeckt, sie rutschen aus, lachen und spielen weiter. Bei ihrem Anblick — ebenso wie bei dem aller anderen aus dem Gebiet Tschernihiv — wird deutlich: Unser Land ist unbesiegbar. Wir haben gelernt, aus dem Vollen zu leben, selbst zu Kriegszeiten. Sogar nach all den Tragödien, die sie erlebt haben.

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