Das Gute und die Wahrheit müssen sich verteidigen können: Nobelpreisrede von Ales Bialiatskij

Nobelpreisrede von Ales Bialiatski, Friedensnobelpreisträger von 2022, vorgetragen von Natalija Pintschuk am 10. Dezember in Oslo.
18. Dezember 2022UA DE EN ES FR IT RU

Наталія Пінчук, дружина Олеся Біляцького © Nobel Prize/YouTube Natalja Pintschuk, die Ehefrau von Ales Bialiatskij © Nobel Prize/YouTube Natallia Pinchuk, wife of Ales Bialiatski © Nobel Prize/YouTube Natalia Pintchouk, épouse d’Ales Bialiatski © Nobel Prize/YouTube Наталья Пинчук, жена Алеся Беляцкого © Nobel Prize/YouTube

Eure Königlichen Majestäten, Eure Königlichen Hoheiten, Verehrte Mitglieder des Nobelkomitees, verehrte Gäste!

Ich freue mich sehr, hier zu Ehren der Verleihung des Friedensnobelpreises 2022 an die Laureaten sprechen zu dürfen. Unter ihnen ist auch mein Mann Ales Bialiatski.

Leider kann er die Auszeichnung nicht persönlich in Empfang nehmen. Er ist in Belarus unrechtmäßig inhaftiert. Deshalb stehe ich auf diesem Podium.

Ich möchte dem norwegischen Nobelpreiskomitee meine tiefe Dankbarkeit aussprechen:

Seine Entscheidung hat Ales in seinem Engagement bestärkt, an seinen Überzeugungen festzuhalten, und allen Belarusen die Hoffnung zu geben, dass sie im Kampf für ihre Rechte auf die Solidarität der demokratischen Welt zählen können, egal wie lange der Kampf dauern wird.

Vielen Dank an alle, die Ales, seine Freunde und seine Sache in all den Jahren unterstützt haben und ihn weiterhin unterstützen.

Ich möchte dem Zentrum für bürgerliche Freiheiten und Memorial International ganz herzlich zu der wohlverdienten Auszeichnung gratulieren. Ales und wir alle wissen, wie wichtig und riskant es ist, die Mission zu erfüllen, für die Menschenrechte einzustehen, insbesondere in der tragischen Zeit des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine.

Nicht nur Ales wird im Gefängnis festgehalten, sondern auch Tausende Belarusen, Zehntausende von Unterdrückten, die im gesamten Land zu Unrecht wegen ihres zivilgesellschaftlichen Engagements und aufgrund ihrer Überzeugung inhaftiert sind. Hunderttausende wurden gezwungen, aus dem Land zu fliehen, nur weil sie in einem demokratischen Staat leben wollen. Leider führen die Behörden in Belarus seit Jahren einen Krieg der Staatsmacht gegen ihr eigenes Volk, seine Sprache, seine Geschichte und seine demokratischen Werte. Ich sage dies hier mit größtem Schmerz und Wachsamkeit, denn die heutigen politischen und militärischen Ereignisse bedrohen die belarusische Eigenstaatlichkeit und Unabhängigkeit.

Leider entscheiden sich die staatlichen Behörden dafür, das Gespräch mit der Gesellschaft ausschließlich in der Sprache der Gewalt zu führen — mithilfe von Granaten, Schlagstöcken, Elektroschockern, endlosen Verhaftungen und Folter. Von einem nationalen Kompromiss oder einem Dialog kann nicht die Rede sein. Verfolgt werden Mädchen und Jungen, Frauen und Männer, Minderjährige und ältere Menschen. In den belarusischen Gefängnissen regiert das entmenschlichte Gesicht des Systems, diejenigen die davon träumten, freie Menschen zu sein, trifft es besonders hart!

Angesichts dieser Situation ist es kein Zufall, dass die Behörden Ales und seine Mitstreiter vom Menschenrechtszentrum “Viasna” aufgrund ihrer demokratischen Überzeugungen und ihrer Menschenrechtsaktivitäten verhafteten: Im Gefängnis sind heute Marfa Rabkova, Valiantsin Stefanovich, Uladzimir Labkovich, Leanid Sudalenka, Andrei Chapiuk und andere Verteidiger der Menschenrechte.

Gegen viele Menschenrechtsaktivisten wird nach wie vor ermittelt, sie sind dem Zorn der Staatsanwaltschaft ausgesetzt, während andere gezwungen wurden, den Weg ins Exil zu gehen. Aber niemand kann das Menschenrechtszentrum “Viasna-96”, das von ihm und seinen Mitarbeitern vor über 25 Jahren gegründet worden war, “erobern, aufhalten oder anhalten”.

Ales konnte den Wortlaut seiner Rede aus dem Gefängnis nicht übermitteln, aber es gelang ihm, mir einige Sätze mitzuteilen. Daher werde ich seine Gedanken mit Ihnen teilen - sowohl die neuesten als auch zuvor aufgezeichnete. Es handelt sich um Fragmente früherer Reden, Schriften und Überlegungen. Hier sind seine Gedanken zur Vergangenheit und Zukunft von Belarus, zu den Menschenrechten, zum Schicksal von Frieden und Freiheit.

Ich übergebe also das Wort an Ales:

— Es hat sich so ergeben, dass gerade diejenigen Menschen, die die Freiheit am meisten schätzen, ihrer Freiheit beraubt werden. Ich erinnere mich an meine Freunde — Menschenrechtsaktivisten aus Kuba, Aserbaidschan, Usbekistan. Ich erinnere mich an meine geistliche Schwester Nasrin Sotoudeh aus dem Iran. Ich bewundere Kardinal Joseph Zen aus Hongkong. Tausende von Menschen sitzen derzeit in Belarus aus politischen Gründen hinter Gittern, und sie alle sind meine Brüder und Schwestern. Nichts kann den Durst der Menschen nach Freiheit löschen.

Ganz Belarus sitzt heute im Gefängnis. Journalisten, Politologen, Gewerkschaftsaktivisten sind inhaftiert, unter ihnen viele meiner Bekannten und Freunde... Die Gerichtsurteile fallen wie am Fließband, Verurteilte werden in Strafkolonien transportiert und neue Wellen politisch Verfolgter füllen ihre Zellen.

Dieser Preis gehört all meinen Freunden, die sich für die Menschenrechte einsetzen, allen Bürgerrechtlern, Zehntausenden von Belarusen, die Schläge, Folter, Verhaftung und Gefängnis erleiden mussten.

Diese Auszeichnung gehört Millionen belarusischer Bürgerinnen und Bürger, die sich auf der Straße und im Internet für ihre Bürgerrechte eingesetzt hatten. Sie verweist deutlich auf die dramatische Situation und den Kampf für die Menschenrechte in diesem Land.

Kürzlich trug sich folgender Dialog zu:

— Wann kommst Du frei? — fragten sie mich.

— Ich bin bereits frei, in meiner Seele, lautete meine Antwort.

Meine freie Seele schwebt über dem Kerker und über dem Ahornblatt der Landesgrenzen von von Belarus.

Ich schaue in mich hinein, und meine Ideale haben sich nicht verändert, haben ihren Wert nicht verloren, sind nicht verblasst. Sie sind immer bei mir, und ich hüte sie, so gut ich kann. Sie sind wie aus Gold gegossen, immun gegen Rost.

Wir wollen unsere Gesellschaft harmonischer, gerechter und auf die Bedürfnisse ihrer Söhne und Töchter abgestimmt gestalten. Wir wollen ein unabhängiges, demokratisches Belarus schaffen, das frei von fremden Zwängen ist. Wir träumen davon, dass es ein Land voller Wärme ist, in dem es sich zu leben lohnt.

Das ist eine edle Idee, die ganz mit Vorstellungen der globalen zivilisierten Welt übereinstimmt. Wir träumen nicht von etwas Besonderem oder Außergewöhnlichem, wir wollen uns einfach nur “Menschen nennen”, wie es unser Klassiker Janka Kupala einst formulierte. Das bedeutet Respekt für uns selbst und für andere, es bedeutet Menschenrechte, eine demokratische Grundordnung, die Anerkennung der belarusischen Sprache und unserer Geschichte.

Schon früh begann ich, mich kritisch mit der sowjetischen Realität auseinanderzusetzen. Unter anderem sah ich mich mit einer starken Einschränkung des Gebrauchs der belarusischen Sprache konfrontiert, mit der Politik einer Ent-Belarusisierung, die damals betrieben wurde und auch heute noch betrieben wird. Die ehemalige koloniale Abhängigkeit der Belarus ist weiterhin Realität. Und als Folge davon ist die Existenz der Belarusen als Volk noch immer bedroht.

Es ist ein dramatischer Fehler, die Menschenrechte von den Werten Identität und Unabhängigkeit loszulösen. Ich engagiere mich seit 1982 in der unabhängigen Untergrundbewegung, und zwar seit einem Alter von 20 Jahren. Ziel dieser Bewegung war es, ein demokratisches, unabhängiges Belarus zu schaffen, in dem die Menschenrechte geachtet werden. Ohne Demokratie kann es Belarus nicht geben, und ohne ein unabhängiges Belarus kann es keine Menschenrechte geben. Und die Zivilgesellschaft sollte über ein Maß an Unabhängigkeit verfügen, dass es ihr erlaubt ist, die Sicherheit der Menschen vor dem Missbrauch durch die Staatsgewalt zu garantieren.

Ich glaube, weil ich weiß, dass die Nacht enden und der Morgen folgen wird. Ich weiß, dass das, was uns unbewusst antreibt, ist Hoffnung und ein Traum.

Martin Luther King hat für seinen Traum mit seinem Leben bezahlt, er wurde erschossen. Ich bezahle für meinen Traum weniger, aber dennoch ist ein Preis zu zahlen, den ich kein bisschen bereue. Schließlich ist mein Traum all die Opfer wert. Meine Ideale stehen im Einklang mit den Idealen meiner älteren Freunde und geistigen Mentoren - dem Tschechen Václav Havel und dem Belarusen Vasil Bykaŭ. Beide gingen durch große Lebensprüfungen, beide brachten ihre Nation und ihre Kultur voran, beide kämpften bis zu den letzten Minuten ihres Lebens für Demokratie und Menschenrechte.

Es ist unmöglich, dass auf einem leeren Feld sofort eine gute Ernte heranreift. Das Feld muss gut gedüngt werden, Steine sollten entfernt werden... Und was die kommunistische Regierung in Belarus 70 Jahre lang getan hat, lässt sich als verbrannte Erde bezeichnen...

In den späten 1980er Jahren gab es Zeiten, in denen sich alle buchstäblich von Angesicht zu Angesicht kannten ... Aber in den frühen 1990er Jahren kamen Tausende und Zehntausende hinzu...

Am 9. August 2020 fanden in Belarus Präsidentschaftswahlen statt. Massive Fälschungen trieben die Menschen auf die Straße. Gut und Böse standen in einem Duell gegenüber. Das Böse ist gut bewaffnet. Und auf der Seite des Guten ist allein ein friedlicher Massenprotest, wie ihn das Land noch nie erlebt hatte, zu dem sich Hunderttausende vereinigten.

Als Reaktion setzten die Behörden den repressiven Mechanismus von Folter und Mord in Gang — Raman Bandarenka, Witold Aschurak und viele fielen ihm zum Opfer.

Dies ist die höchste und unbeschreibliche Stufe der Unterdrückung in all ihrer Grausamkeit. Die Menschen sind unvorstellbarer Folter und Leid ausgesetzt.

Menschen werden über Monate und Jahre in Zellen und Gefängnissen festgehalten, die an öffentliche Toiletten zu sowjetischen Zeiten erinnern. Ich bin grundsätzlich dagegen, dass Frauen im Gefängnis sitzen, aber stellen Sie sich vor, wie es ihnen im Gefängnis Belarus ergeht, der Zweigstelle der Hölle auf Erden!

Lukaschenkas Äußerungen bestätigen, dass seine Vollstrecker einen Freibrief erhalten haben, um die Menschen durch das Schüren von Angst und die Einschüchterung aufzuhalten.

Aber die Bürger von Belarus verlangen Gerechtigkeit. Sie fordern, dass diejenigen, die Massenverbrechen begangen haben, bestraft werden. Sie fordern freie Wahlen. Belarus und die belarusische Gesellschaft werden nie wieder so sein wie früher, als den Menschen Hände und Füße gebunden waren. Sie sind aufgewacht...

Heute zeigt sich der anhaltende Kampf zwischen Gut und Böse in der gesamten Region fast in Reinform. Der kalte Wind aus dem Osten prallt auf die Wärme einer europäischen Renaissance.

Es reicht nicht aus, gebildet und demokratisch zu sein, es reicht nicht aus, menschlich und barmherzig zu sein. Wir müssen in der Lage sein, unsere Errungenschaften und unser Vaterland zu verteidigen. Nicht umsonst war im Mittelalter der Begriff des Vaterlandes mit dem Begriff der Freiheit verknüpft.

Ich weiß genau, welche Ukraine Russland und Putin gefallen würde — eine abhängige Diktatur.

Genau wie die heutige Belarus, wo die Stimme des unterdrückten Volkes nicht zu hören ist.

Russische Militärstützpunkte, die vollumfängliche wirtschaftliche Abhängigkeit, eine kulturelle und sprachliche Russifizierung — darin liegt die Antwort, auf wessen Seite Lukaschenka steht.

Die belarusischen Behörden sind nur in dem Maße unabhängig, in dem Putin es zulässt. Daher ist es notwendig, gegen die “Internationale der Diktaturen” zu kämpfen.

Ich bin als Menschenrechtsaktivist Anhänger des gewaltlosen Widerstands. Ich bin von Natur aus kein aggressiver Mensch, ich bin stets darauf bedacht, mich entsprechend zu verhalten. Ich erkenne jedoch an, dass das Gute und die Wahrheit in der Lage sein müssen, sich selbst zu verteidigen.

So gut ich kann, bewahre ich den Frieden in meiner Seele, ich hüte ihn wie eine zarte Blume und vertreibe die Wut. Und ich bete, dass die Wirklichkeit mich nicht dazu zwingt, die längst vergrabene Axt auszugraben und die Wahrheit mit der Axt in der Hand zu verteidigen. Frieden. Möge der Friede in meiner Seele verweilen.

Und am 10. Dezember wiederhole ich für alle: “Habt keine Angst!” Das waren die Worte, die Papst Johannes Paul II. in den 1980er Jahren während seiner Pilgerreise in das kommunistische Polen aussprach. Mehr hatte er damals nicht gesagt, aber sie genügten. Ich glaube daran, weil ich weiß, dass auf den Winter stets der Frühling folgt.

Dies waren Zitate von Ales Bialiatski. Und ich beende die Rede mit den Ausrufen seiner Seele:

Freiheit für das belarusische Volk! Freiheit für Viasna! Lang lebe Belarus!



© The Nobel Foundation 2022

Quelle des belarusischen Originals.

Übersetzung: Felix Ackermann, Stimmen aus Belarus, Erstveröffentlichung.

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