Überlegungen zu den Möglichkeiten, einen Genozid nachzuweisen, und Einladung zur Diskussion

Die jüngste Entwicklung und das Vorgehen der Besatzungstruppen, die Raketenangriffe auf zivile Ziele und Objekte kritischer Infrastruktur, vorsätzliche Tötungen in großem Umfang — dies alles ergibt ein Bild von geplanten, fanatischen Maßnahmen, die einem einzigen Zweck dienen: dem Genozid.
Mychajlo Romanov29. November 2022UA DE EN ES FR IT RU

© Kharaim Pavlo, Shutterstock © Kharaim Pavlo, Shutterstock © Kharaim Pavlo, Shutterstock © Kharaim Pavlo, Shutterstock © Kharaim Pavlo, Shutterstock © Kharaim Pavlo, Shutterstock © Kharaim Pavlo, Shutterstock

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Der Krieg, der bereits acht Monate andauert, stellt mit jedem neuen Tag die Frage nach dem Genozid, der am ukrainischen Volk begangen wird. Der Kriegsverlauf, die russischen Entscheidungen, das Vorgehen der Besatzungstruppen, die Raketenangriffe auf zivile Ziele sowie auf die kritische Infrastruktur ohne jeglichen militärischen Zweck, totale, gravierende Verletzungen der Normen des humanitären Völkerrechts und der Regelungen für die Kriegsführung — dies alles ergibt insgesamt das Bild von geplanten, fanatischen Maßnahmen, deren Ziel in einem Genozid besteht. Zusätzliches Öl ins Feuer gießt noch die Rhetorik der russischen Propaganda, die offene Aufrufe zur Vernichtung der Ukrainer verbreitet.

Anscheinend ist das von den russischen Machthabern verkündete Ziel des Einmarschs in die Ukraine (nämlich, die von niemandem anerkannten Republiken zu schützen) nicht nur längst durch die Zeit widerlegt, sondern auch durch den Verlauf und die Entwicklung des Geschehens. Kampfhandlungen, Zerstörungen und Morde an Zivilisten in den Gebieten Kyjiv, Tschernyhiv, Sumy, Charkiv, Zaporizhzhia, Cherson, Mikolajiv und anderen ukrainischen Gebieten haben nicht das Geringste mit diesem angeblichen „Schutz“ zu tun. Es lässt sich beim besten Willen kein Zusammenhang mit den Gebieten Donezk und Luhansk herstellen.

Die zahlreichen Morde, Folterungen, Entführungen und Deportationen von Ukrainern sind nicht mit dem Bestreben zu erklären, auf dem Schlachtfeld Vorteile zu erreichen. Dasselbe gilt auch für die Raketenangriffe auf Städte, die keinen Bezug zum Kampfgeschehen haben. Es handelt sich um ausgesprochene Terrorakte, da sie kein anderes Ziel haben, als die Zivilbevölkerung der Ukraine zu terrorisieren und massivem Druck auszusetzen.

All dies lässt auf einen ganz bewussten, gezielten Vorsatz seitens der russischen Führung schließen, auch wenn das Vorgehen nicht immer strategisch geplant ist und sich oft spontan ergibt. Gerade das Systematische des Vorgehens, die wiederholten Handlungen, ihre Brutalität und Unverfrorenheit sprechen für ein einziges mögliches Ziel. Und zwar Genozid.

Unbestritten bleibt, dass es sich bei dem Krieg, den umfangreichen Truppenbewegungen, dem Einsatz von Waffen, der Einbeziehung anderer Länder (insbesondere Belarus) und der Konfrontation fast mit der ganzen Welt um bewusste und keine zufälligen Maßnahmen handelt. Sie erfolgen im vollen Bewusstsein der Situation und aller dadurch ausgelösten Folgen. Hier sind ohne Zweifel alle Merkmale für einen Vorsatz gegeben.

Allein in der Tatsache, dass diese Handlungen systematisch, wiederholt und intensiv begangen werden, was zu einer steigenden Opferzahl und wachsender Anspannung führt, sehen wir ein alarmierendes und schwerwiegendes Merkmal.

Der internationale Strafgerichtshof (im Folgenden IStGH), der für die schwersten Verbrechen zuständig ist, die die gesamte internationale Gemeinschaft in Sorge versetzen, untersucht unter anderem auch Verbrechen des Genozids.

Das Römische Statut als Grundsatzdokument, das nicht nur die Rechtsprechung bestimmt, sondern auch einzelne Merkmale für die Tatbestände formuliert, die in die Zuständigkeit des IStGH fallen, lässt den Schluss zu, dass es keine eindeutigen Kriterien für diese Verbrechen gibt. Das rechtliche Instrumentarium, solche Verbrechen als Genozid zu bestimmen, ist nicht exakt genug. Deshalb sind die Bestimmungen des Römischen Statuts nicht über jeden Zweifel erhaben und vermitteln keine Vorstellung von den Merkmalen für solche Taten.

Differenzierendes Merkmal gerade für Genozid ist die gezielte Absicht der Schuldigen, eine bestimmte nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche auszulöschen. Die übrigen Kennzeichen entsprechen weitgehend denen für andere Verbrechen. Ausgangspunkt bei der juristischen Qualifizierung der Taten, die der Besatzer-Staat auf ukrainischem Territorium begeht, ist die Bestimmung des Personenkreises, auf den sich der rechtliche Schutz durch die Normen des humanitären Völkerrechts und des Römischen Statuts bezieht. Wenn man die ethnischen und kulturellen Besonderheiten der Ukraine berücksichtigt, kommt es unserer Auffassung nach der Wahrheit am nächsten, wenn man sagt, dass reale und potentielle Opfer des Genozids während des Krieges jene Menschen sind, die sich als Teil des Volks/der Nation des unabhängigen Staats der Ukraine identifizieren (wir verwenden hier die Begriffe Volk und Nation synonym).

Unter den Bedingungen des Krieges Russlands gegen die Ukraine ist die Frage, gegen wen sich die Absicht der Personen richtet, die Massenmorde, Folterungen, Entführungen und Vergewaltigungen (sowohl an Kombattanten als auch an Nicht-Kombattanten) begehen, zwar einerseits rhetorisch, erfordert andererseits jedoch Beweise.

Wenn man der Regel folgt, dass eine Schuld zweifelsfrei zu beweisen ist, muss sich der Nachweis eines Genozids sich auf die Darlegung konzentrieren, dass sich die Gründe, Motive und Absichten bei den in Frage stehenden Handlung nicht anders erklären lassen und dass eine Person das inkriminierte Verbrechen genau mit diesem Ziel begangen hat. Eines der wichtigsten Kennzeichen für die Absicht, ein solches Verbrechen zu begehen, sehen wir in dem systematischen und planmäßigen verbrecherischen Vorgehen des Besatzerstaats auf ukrainischem Territorium.

Hier sind nicht einzelne Taten von besonderem Belang, sondern das systematische und methodische Vorgehen des Besatzerstaats. Dabei ist die gesamte Kette seiner Maßnahmen einzubeziehen, angefangen mit der Propaganda innerhalb Russlands sowie des besetzten Territoriums, dann das Vorgehen der Besatzungstruppen, die Methoden der Kriegsführung, der Einsatz verbotener Waffen, die Einrichtung von Filtrationslagern (deren Ziel gerade darin besteht, die Menschen nach ihrer nationalen Identifizierung zu segregieren — Personen mit proukrainischer Einstellung bestehen die „Filtration“ nicht), die Deportation von Kindern aus ukrainischem Territorium, der unfreiwillige „Übergang“ zur russischen Staatsbürgerschaft, die Durchführung von „Referenden“ in den besetzten Territorien. All die aufgeführten Handlungen müssen in ihrer Gesamtheit beurteilt werden, da sie vom Bestehen eines gezielten Vorgehens zum Zweck der Vernichtung der gesamten Bevölkerung auf den besetzten und umkämpften Territorien zeugen, soweit sie sich als ukrainisch identifiziert.

Zugleich reicht es nicht aus, sich ausschließlich auf die nationalen Konstruktionen hinsichtlich des Bestehens eines unmittelbaren Vorsatzes zu stützen (jemand war sich des widerrechtlichen Charakters seiner Handlungen und ihrer Folgen bewusst und wünschte sie). Das nationale Modell ermöglicht nicht, die Standards für einen zweifelsfreien Beweis anzuwenden, da dieses Modell schon endet, bevor es überhaupt zur Vernichtung der geschützten Gruppe von Personen gekommen ist. Die Bestimmungen des ukrainischen Strafgesetzes machen es sehr schwer, in einzelnen Vorgängen das Bestehen eines Vorsatzes, einen Genozid zu begehen, nachzuweisen. Deshalb sind wir der Auffassung, dass die begangenen Verbrechen betrachtet und bewiesen werden müssen als eine Vielzahl von Taten, die die gemeinsame Absicht verbindet, einen Genozid zu begehen.

Es ist wichtig zu beachten, um welche Personengruppe es gehen muss. Nach dem Römischen Statut kann sich ein Genozid gegen eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe von Personen richten. Die Bevölkerung der Ukraine ist heute ziemlich vielfältig, hier leben Menschen mit unterschiedlichen religiösen Überzeugungen, die verschiedene Sprachen sprechen und verschiedenen Ethnien angehören. Dies ist zu berücksichtigen. Die Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung, ein bedeutender Teil jedenfalls, identifiziert sich mit der ukrainischen Nation als politisch-territorialer Einheit. Das sind die Personen, die sich als Ukrainer verstehen — als Bürger des unabhängigen Staats der Ukraine. Sie machen die Bevölkerung der Ukraine aus und bilden ihre Nation. Obwohl sich diese Menschen aus unterschiedlichen Gründen keineswegs immer proukrainisch positionieren, bilden sie alle die nationale Integrität der Ukraine. Deshalb sind wir der Auffassung, dass der Genozid gegen die Ukrainer mit dem Wunsch verbunden ist, einen wesentlichen Teil der nationalen Gruppe dieser Menschen zu vernichten. Und gerade im Hinblick auf diese Gruppe gilt es, den Tatbestand eines Genozids zu beweisen.

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