‚Wir träumen davon, überflüssig zu werden’: Die Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P) präsentiert Ergebnisse von drei Jahren Arbeit

Am 25. März 2025 gab die Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P) die Ergebnisse ihrer dreijährigen Arbeit bekannt: fast 85. 000 dokumentierte Kriegsverbrechen und neun Eingaben beim Internationalen Strafgerichtshof.
09. April 2025UA DE EN FR RU

Foto: Ukraine Crisis Media Center

Die Initiative T4P (Tribunal für Putin) wurde im März 2022 von drei Menschenrechtsorganisationen gegründet — der Charkiver Menschenrechtsgruppe, dem Zentrum für bürgerliche Freiheiten und der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte. Das geschah als Reaktion auf den großangelegten russischen Einmarsch in die Ukraine. Heute sind über 40 Organisationen an der Initiative beteiligt. Sie dokumentieren Verbrechen, die unter die Bestimmungen des Römische Statuts fallen.

„Ziel der Initiative ist es, Gerechtigkeit für alle Menschen zu erreichen, die Opfer dieser Aggression wurden, sowie für die gesamte ukrainische Gesellschaft“, sagt die Geschäftsführerin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, Oleksandra Romantsova.

Oleksandra Romantsova, Geschäftsführerin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten. Foto: Ukraine crisis media center

Die Ermittler von T4P recherchieren anhand offener Quellen, aber auch unmittelbar am Ort des Geschehens. Sie sammeln Fotos und Videobeweise und führen Interviews durch. Sämtliche Informationen werden überprüft, mithilfe von OSINT-Verfahren analysiert und systematisch als Einzelfälle dokumentiert. Dazu gehören auch die größten Angriffe der Russischen Föderation — die Bombardierung des Schauspielhauses von Mariupol, die Sprengung des Staudamms von Kachovka, die Bedrohungen des Atomkraftwerks von Zaporizhzhia sowie Angriffe auf religiöse oder medizinische Objekte, insbesondere auf das Kinderkrankenhaus Ochmatdyt in Kyjiv.

Das Spezifische in der Arbeit von T4P liegt in ihrer territorialen Aufteilung: Jede mitwirkende Organisation ist für eine einzelne Region zuständig. Das gewährleistet ein besseres Verständnis für den lokalen Kontext und eine effizientere Datenerfassung. In etlichen Gebieten hat T4P mehr Kriegsverbrechen dokumentiert als staatliche oder internationale Einrichtungen. Daher verfügt T4P über eine der größten Datensammlungen über den Krieg in der Ukraine. Dennoch liegt die tatsächliche Anzahl einiger Kategorien von Verbrechen wahrscheinlich wesentlich höher als das, was sich bisher festhalten lässt.

„Es gibt noch eine Datenbank, die die Charkiver Menschenrechtsgruppe führt. Da werden jene Fälle erfasst, in denen bereits Strafverfahren eingeleitet wurden. Das sind derzeit über 15.500 Fälle. Man kann also sagen, dass wir in unseren Datenbanken über 100.000 Fälle verzeichnet haben“, sagt Jevhen Sacharov, der Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe.

Foto: Ukraine Crisis Media Center

Mit Stand vom 20. März 2025 hat T4P 84.396 Kriegsverbrechen dokumentiert, die im Laufe der Vollinvasion in die gesamte Ukraine verübt wurden. Zudem wurden mindestens 3.745 Angriffe festgehalten, durch die kulturelle, religiöse und soziale Einrichtungen zerstört oder beschädigt wurden. Dabei handelte es sich vor allem um historische Denkmäler, Gotteshäuser, Krankenhäuser sowie Institutionen der Bildung und Wissenschaft. 17.421 Attacken richteten sich gegen zivile Objekte — Wohnhäuser, Betriebe, Schulen, Kindergärten und andere Institutionen. Eine vollständige Statistik ist auf der offiziellen Website von T4P einzusehen.

Im Laufe von drei Jahren hat T4P in nationalen und internationalen Massenmedien Informationen über Kriegsverbrechen publiziert und darüber hinaus in Aktionen, Performances und vielerlei Bildungs-Materialien darauf hingewiesen.

Dazu gehören

  • der Film „Schatten am linken Ufer“ von Kyjiv Independent, der die Realität in den zeitweilig besetzten Gebieten zeigt,
  • der Film „Stimmen Mariupols“, der die Geschichte von drei Mariupolern erzählt, die es geschafft haben, in der belagerten Stadt ohne Licht und Funkverbindung unter dem vernichtenden Beschuss durch die russländische Luftwaffe zu überleben,
  • der Dokumentarfilm „Geiseln (ohne) Schutz“ über die Schwierigkeiten, mit denen ehemalige Gefangene nach ihrer Rückkehr nach Hause konfrontiert werden,
  • das poetische Projekt „Halt durch! Halt durch!“, das den Schmerz und das Durchhaltevermögen der Ukrainer in russischer Gefangenschaft sowie jener, die auf sie warten, zum Thema hat,
  • die Broschüre „Stimmen der Gefangenen“ mit 50 Geschichten widerrechtlich inhaftierter Zivilisten, deren Zeugnisse das Ausmaß der Menschenrechtsverletzungen verdeutlichen,
  • die „Stimmen des Krieges. Mariupol“, der erste gedruckte Sammelband von Interviews mit Augenzeugen des Kriegs in der Ukraine. Hier schildern 24 Einwohner Mariupols ihre einzigartigen Lebensgeschichten in der belagerten Stadt und ihre Versuche, die Stadt zu verlassen.

Ein weiteres Arbeitsgebiet von T4P ist die internationale Lobbyarbeit. T4P kooperiert mit der UNO, dem Europarat, der OSZE und der EU mit dem Ziel, nachhaltigen internationalen Druck auf die Russische Föderation zu gewährleisten.

Foto: Ukraine Crisis Media Center

In den drei Jahren ihrer Tätigkeit hat T4P dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) neun Eingaben zu folgenden Themen übermittelt:

  1. Gewaltsames Verschwindenlassen in den zeitweilig besetzten Gebieten der Ukraine;
  2. Die Überführung von Kindern aus der Ukraine nach Russland als Beweis für Genozid;
  3. Außergerichtliche Hinrichtungen in Butscha und anderen Teilen der Ukraine;
  4. Grausame Freiheitsberaubung in den von Russland besetzten Teilen des Gebiets Charkiv;
  5. Genozid in Mariupol;
  6. Beschuss der Ukraine als Kriegsverbrechen durch Russland;
  7. Hassrede als Verbrechen gegen die Menschlichkeit;
  8. Untersuchung von Verbrechen gegen die Umwelt;
  9. Folterungen durch russische Militärs in der Ukraine.

Evhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe. Foto: Ukraine Crisis Media Center

„Nicht nur die Verbrechen, auch die Gerechtigkeit kennt keine Verjährung. Ich denke, eben dies muss die Position der Ukraine sein“, sagt Jevhen Sacharov, der Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe.

Julija Bohdan, Direktorin des Zentrums zur Untersuchung der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden (CLEAR), hob die Rolle nationaler Institutionen bei der Ermittlung von Kriegsverbrechen hervor:

„Es ist objektiv notwendig, nationale Gerichtsorgane zur Ermittlung und zur Feststellung von Verbrechen heranzuziehen, die auf Befehl der höchsten militärischen und politischen Führung begangen wurden und die sich im Wesentlichen nicht gegen Soldaten richteten, sondern gegen die Zivilbevölkerung in den zeitweilig besetzten Gebieten. Nur so kann man die objektive Realität wahrnehmen und nicht einen imaginierten Kampf mit einem potentiellen Gegner.“

Julija Bohdan, Direktorin des Zentrums zur Untersuchung der Arbeit der Strafverfolgungsbehörden (CLEAR). Foto: Ukraine Crisis Media Center

Vladlena Padun, Analystin der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte, plädierte für die Schaffung eines internationalen Strafgerichtshofs zur Ahndung des Verbrechens der Aggression gegen die Ukraine:

„Wir hoffen aufrichtig, dass mithilfe des Europarats, der Europäischen Union und weiterer Staaten Europas sowie der ganzen Welt bereits in nächster Zeit ein Tribunal eingerichtet wird. Sein Ziel wird nicht nur darin bestehen, Gerechtigkeit für die Ukraine zu erreichen. Es wird auch darum gehen, gemeinsame internationale Rechtsgrundsätze für die gesamte Welt zu etablieren. Positiv ist, dass die Ukraine viele Staaten für diese Initiative gewinnen konnte. So wird ein neuer Mechanismus entstehen, um Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen, und es wird ein wichtiger Präzedenzfall geschaffen: Das Böse bleibt nicht ungestraft.“

Vladlena Padun, Analystin der Ukrainischen Helsinki-Union für Menschenrechte. Foto: Ukraine Crisis Media Center

Die Organisation Truth Hounds, die zur Initiative T4P gehört, nutzt in ihrer Arbeit das Prinzip der universalen Jurisdiktion, wodurch es möglich ist, internationale Verbrechen unabhängig vom Ort des Geschehens zu ahnden. Bis heute hat die Organisation bereits fünf Eingaben an die zuständigen Organe anderer Länder übermittelt, um entsprechende Strafverfahren einzuleiten.

„Russland begeht nicht erst seit 2022 Kriegsverbrechen, sondern bereits seit 2014. Die fehlende Verantwortlichkeit und die zu erwartende Straflosigkeit bewirken nur immer weitere Verbrechen. Deshalb kommt es uns auf ein Ergebnis an, das demonstriert, dass Täter selbst nach zehn bis 15 Jahren noch zur Verantwortung gezogen werden können. Das könnte der Prävention zugutekommen und die Anzahl der heutigen Vergehen verringern“, so Sera Koslijeva, die juristische Direktorin von Truth Hounds.

Sera Koslijeva, juristische Direktorin von Truth Hounds. Foto: Ukraine Crisis Media Center

Ein wichtiger Aspekt beim Einsatz für Gerechtigkeit ist die Wiederherstellung der Rechte der Opfer. Dies betrifft besonders die Zivilisten, die aus ihrer gesetzwidrigen Gefangenschaft im Zuge der Militäraggression gegen die Ukraine zurückkehren. Ihre Rechte schützt das ukrainische Gesetz „Zum sozialen und rechtlichen Schutz von Personen, bei denen festgestellt wurde, dass ihnen infolge der Militäraggression gegen die Ukraine die Freiheit entzogen wurde, sowie von ihren Familienmitgliedern.“ Ihor Koteljanez, der Leiter der Vereinigung von Angehörigen politischer Gefangener des Kremls, hält fest, dass dieses Gesetz bereits vor der Voll-Invasion verabschiedet wurde und dass seine heutige Fassung die neuen Realitäten nicht berücksichtigt. Insbesondere enthält es diskriminierende Ansätze, da nur bestimmte Opfer-Kategorien einbezogen sind.

„Wir müssen unser Gesetz mit den Bestimmungen der Genfer Konventionen in Einklang bringen und den Rahmen der staatlichen Unterstützung erweitern“, sagt Ihor Koteljanez. Die Hilfe muss allen Zivilisten zuteil werden, die Opfer illegaler Inhaftierung wurden, und nicht nur jenen, die gesellschaftlich aktiv waren.“

Ihor Koteljanez, Leiter der Vereinigung von Angehörigen politischer Gefangener des Kreml. Foto: Ukraine Crisis Media Center

„Wir träumen davon, überflüssig zu werden. Alle Menschenrechtsaktivisten sehnen sich nach dem Tag, an dem man sie wird entlassen können“; sagt Oleksandra Romantsova, die Geschäftsführerin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten.

Während der Veranstaltung stellte T4P auch eine Broschüre mit den Ergebnissen ihrer Arbeit vor, die auf Englisch und Ukrainisch zugänglich ist.

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