Der Europäische Gerichtshof wird die Klage zum Fall Oleksij Kysseljov, des ehemaligen Schiffskommandanten der ‚Slavutytsch‘, behandeln

Russen entführten den Offizier in Henytschesk, Gebiet Cherson. Sie folterten ihn und zwangen ihn, sich selbst zu belasten. Menschenrechtsaktivisten sind sich sicher, dass es im Fall Kysseljov alle Merkmale eines gewaltsamen Verschwindenlassens gibt.
Maryna Harieieva24. September 2023UA DE EN ES FR IT RU

Олексій Кисельов. Фото: “Кримський процес” Алексей Киселев. Фото: “Крымский процесс”

Oleksyj Kysseljov. Foto: Krymskij prozess

Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof (EMGH) wird den Antrag der Ukraine im Fall Oleksyj Kysseljov behandeln. Er war seinerzeit Kommandant des ukrainischen Schiffs „Slavutytsch“ und wurde von Russen entführt.

Dies berichtete am 14. September die Menschenrechtsorganisation „KrymSOS“.

Am 28. November 2022 reichten die Menschenrechtsaktivisten von „KrymSOS“ Klage beim EMGH ein.

Wie der Anwalt Serhij Sajez betont, ist Oleksyj Kysseljov der erste der bekannten Fälle, die „die Verfolgung von Einwohnern der Krim durch russische Behörden demonstrieren, die das besetzte Territorium nach 2014 verlassen und sich für den aktiven Widerstand gegen die Besatzer organisiert haben“. Der Jurist bemerkte auch, dass der Fall Kysseljov alle Merkmale einer gewaltsamen Entführung aufweist.

Serhij Sajez zählte eine ganze Reihe von Rechtsverletzungen auf, die die Russen gegen Oleksij begangen haben. Es geht um Folter, illegale Freiheitsberaubung, illegale Haussuchung und Diebstahl von Eigentum (des Autos).

„Wahrscheinlich wird man später auch von einem Verstoß gegen das Recht auf ein faires Gerichtsverfahren sprechen können“, sagt der Menschenrechtler.

Der Fall Oleksij Kysseljov

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe berichtete bereits im Februar dieses Jahres über Oleksij Kysseljov. Damals sprach das illegale Bezirksgericht von Dzhankoj auf der zeitweilig besetzten Krim den Offizier schuldig, eine Seeblockade organisiert zu haben und Mitglied des krimtatarischen Noman Çelebicihan-Freiwilligenbataillons zu sein. Oleksij wurde zu achteinhalb Jahren Freiheitentzug verurteilt, mit Verbüßung des ersten Jahres im Gefängnis und der übrigen Zeit in einer Strafkolonie strengen Regimes.

Am 22. Juli 2022 entführten die Russen Oleksij Kysseljov, Kapitän des 1. Ranges, ehemaliger Schiffskommandant der „Slavutytsch“ der ukrainischen Flotte. Nachdem er aus dem Dienst ausgeschieden war, engagierte er sich zunächst gesellschaftlich und als Unternehmer in Sevastopol. Nach der illegalen Besetzung der Krim-Halbinsel begab er sich ins Gebiet Cherson. In den letzten Jahren war er als Freiwilliger aktiv und lebte in Henitschesk.

Oleksij berichtete, dass Vertreter der Russischen Föderation (RF) ihn lange folterten. Bei den so genannten Verhören setzten sie mit Elektroschocks ein und schlugen ihn. Mit den Folterungen wurde schon begonnen, als er widerrechtlich in der Berufsschule Nr. 17 festgehalten wurde, wo eine Abteilung der Russischen Garde stationiert war. Dies dauerte nach Aussage des politischen Gefangenen fünf Tage: Man verlangte von Oleksij, vor der Kamera zu gestehen, dass er Leiter einer Partisanenbewegung sei. Der Offizier weigerte sich jedoch, ein falsches Zeugnis gegen sich selbst abzulegen. Am 27. Juli 2022 wurde der entführte Ukrainer ins Gebäude der so genannten „FSB-Verwaltung Krim“ in Simferopol gebracht, wo russische Geheimdienstmitarbeiter ihn weiter folterten. Erst nach zahlreichen Misshandlungen nahm der so genannte FSB-Ermittler die „offizielle Festnahme“ vor und leitete ein Strafverfahren ein.

Infolge der Foltern versagte die rechte Hand des Offiziers, auch die linke Hand zu benutzen fiel ihm schwer, er konnte kaum einen Kugelschreiber länger in der Hand halten. Er bat mehrfach um ärztliche Hilfe. „Meine Rippen sind gebrochen, Gelenke an Armen und Beinen verrenkt, ein Zahn ist abgebrochen. Wir haben Klage bei der Ermittlungsabteilung des Südlichen Militärbezirks eingereicht. Ohne den geringsten Erfolg. Zu meiner Klage wegen der Folterungen werden keine Ermittlungen durchgeführt“, schrieb Oleksij in einem Brief.

Nach den Genfer Konventionen ist die Unterlassung medizinischer Hilfeleistung für ukrainische Bürger, die die Russische Föderation unbegründet in Gefängnissen inhaftiert, der Folter gleichzusetzen und verletzt das Recht auf Leben. Wie der Menschenrechtsbeauftragte feststellte, „wird ukrainischen Bürgern, die die Russische Föderation illegal gefangen hält, systematisch medizinische Hilfe verweigert“.

Außer der unmenschlichen Behandlung waren auch die Aussagen der so genannten „Zeugen“ zweifelhaft, und Kysseljov selbst bestritt seine Schuld. Die Beweise der so genannten Anklage waren ebenfalls fragwürdig. Ein Artikel der Charkiver Menschenrechtsgruppe berichtet ausführlicher über die absurden Beschuldigungen einer Seeblockade, die man gar nicht hätte durchführen können.

Auch die Vertretung des ukrainischen Präsidenten in der Autonomen Republik Krim verurteilte das haltlose Urteil. Dort sprach man von einem fabrizierten Verfahren und stellte fest, dass der ohne Rechtsgrundlage festgenommene Offizier nicht nur gefoltert, sondern dass ihm auch medizinische Hilfe verweigert wurde, weshalb er gezwungen war, in einen Hungerstreik zu treten.

Gewaltsames Verschwindenlassen und die unsichtbaren Gefangenen des Kreml

Wenn man über widerrechtlich festgenommene Zivilisten spricht, sind auch die Fälle des gewaltsamen Verschwindens einzubeziehen. Dies betont Jevhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe.

„In vielen Fällen wissen wir nicht, wo sich unsere gefangenen Zivilisten befinden und unter welchen Bedingungen sie festgehalten werden“, so Jevhen Sacharov. Nach seiner Aussage befasst sich die Charkiver Menschenrechtsgruppe mit etwa 200 Fällen gefangener Zivilisten und Soldaten. Nur in fünf Fällen liegt eine offizielle Information vor, und man weiß genau, wo sich die Gefangenen aufhalten.

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„In weiteren 48 Fällen wissen wir inoffiziell, wo sich die Gefangenen befinden“, so Jevhen Sacharov.

Menschenrechtler haben mehrfach hervorgehoben, dass eine illegale Inhaftierung ohne Gerichtsbeschluss ebenso wie eine gewaltsame Entführung ohne Bekanntgabe des Aufenthaltsorts der Person eine grobe Menschenrechtsverletzung darstellt und vorläufig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit eingestuft werden kann.

In der von der Menschenrechtsinitiative „Tribunal für Putin“ (T4P) erstellten Datenbank sind derzeit ungefähr 5.000 zivile Gefangene verzeichnet, die widerrechtlich festgenommen wurden oder vermisst werden. Allerdings kann die tatsächliche Zahl mehr als doppelt so hoch sein. Die von der Charkiver Menschenrechtsgruppe dokumentierten Fälle, die Zahl der Fälle gewaltsamen Verschwindenlassens, die Vorbereitung und Gleichartigkeit der Szenarien können das große Ausmaß an Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeugen, die Vertreter der Russischen Föderation auf ukrainischem Territorium begangen haben. Details zu den gewaltsamen Entführungen in den zeitweilig besetzten Gebieten der Ukraine, die dort seit Beginn der flächendeckenden Invasion bis Ende März 2023 stattfanden, kann man in dem kürzlich bei der Charkiver Menschenrechtsgruppe veröffentlichten Artikel nachlesen.

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