Woher kommt die Grausamkeit auf russischer Seite?

Eine in der Ukraine tätige Psychologin nennt drei Gründe für den notorischen Sadismus bei russischen Truppen an. Sie erklärt, warum ukrainische Opfer häufig nicht die Therapie bekommen, die sie bräuchten.
Denys Volocha23. Mai 2023UA DE EN ES FR IT RU

Олена Грибанова, психолог-супервайзер Харківської правозахисної групи Olena Grybanova, Psychologin und Supervisorin der Charkiver Menschenrechtsgruppe Olena Grybanova, psicóloga-supervisora del Grupo de derechos humanos de Járkiv Olena Gribanova, psychologue-superviseuse du Groupe de Défense des Droits humains de Kharkiv Елена Грибанова, психолог-супервайзер Харьковской правозащитной группы

Olena Grybanova, Psychologin und Supervisorin der Charkiver Menschenrechtsgruppe

„Mich kann man mit keiner Arbeit in Angst und Schrecken versetzen, aber angesichts dessen, womit ich bei der Supervision mit ukrainischen Kollegen zu tun bekomme, empfinde ich als Mensch, trotz zwanzigjähriger Berufserfahrung, manchmal doch Horror“, sagt die Krisenpsychologin Olena Grybanova. Sie hat viel Erfahrung in der Arbeit mit Menschen, die Katastrophen durchgemacht haben, kann aber nicht ruhig darüber sprechen, was sie in der Ukraine erlebt hat.

„Ich sehe hier nicht einfach Gewalt — ich sehe, dass diese Gewalt an Sadismus grenzt. Als Psychologin mit einem bestimmten analytischen Ansatz interessiere ich mich besonders dafür, woher diese Dämonen stammen: aus welchen Bereichen des Unbewussten kommen die Dämonen der Gewalt hervor, die einen Menschen dazu bringen, so etwas zu tun“, kommentiert Olena, die noch während der Proteste in ihrer Heimat Belarus viel Gewalt zu sehen bekam.

Was bringt die russischen Soldaten dazu, so grausam vorzugehen? Nach Auffassung von Olena Grybanova gibt es für den Sadismus auf russischer Seite drei wesentliche Gründe.

  1. Kompensation eines persönlichen inneren Minderwertigkeitskomplexes.
  2. Extreme Machtbefugnisse ohne klare Grenzen.
  3. Einwirkung durch Propaganda.

„Ehrlich gesagt, hat niemand den russischen Chauvinismus abgeschafft“, ergänzt Olena. „Anscheinend waren die Menschen bis dahin normal, gingen arbeiten, kümmerten sich um ihre Kinder, besuchten die Ukraine, wo sie mit Brot und Salz begrüßt wurden, alle lebten normal. Und plötzlich haben sie den Verstand verloren: Jetzt kommen sie in die Ukraine und bringen friedliche Menschen um. Noch 2019, nach meiner Rückkehr aus St. Petersburg, sagte ich meinen Angehörigen: ‚Wisst Ihr, in Russland riecht es nach Krieg‘. Niemand glaubte mir, alle dachten, dass mit meinem Kopf etwas nicht stimmt. In der Tat war das damals schon zu spüren. Etwa daran, dass ständig irgendein Volkswagen herumfuhr mit der Aufschrift ‚Nach Berlin‘, ‚Wir können es wiederholen‘. Überall diese Propaganda. Überall diese Aufschriften: ‚Russland ist dem ganzen Planeten voraus‘, ‚Russland ist groß‘. Überall wird künstlich diese Pseudogröße, dieser dumme Nationalstolz aufgebläht.“

Olena Grybanova greift ein Wort Arthur Schopenhauers auf: “Die wohlfeilste Art des Stolzes hingegen ist der Nationalstolz“ und zieht eine Parallele zwischen Sicherheitskräften, die belarusische Protestierende verprügelten, und russischen Soldaten, die gekommen sind, um Ukrainer zu töten: „Dieser Typ Mensch ist geistig wenig entwickelt, in der Regel vom Land, ohne weitere Perspektiven. In der Schule nicht besonders gut. Er hatte keine Aussichten auf ein Universitätsstudium, darauf, später mal in Minsk oder einer anderen Großstadt zu leben. Und dann gab man ihm einen Schlagstock und sagte: ‚Komm, schlag die Bösewichter, weil sie alles hier verderben, dann wird es dir gut gehen.‘ Als ich in der Ukraine all diese Momente des Sadismus gegen völlig unschuldige Menschen analysierte, zeigten sich mir diese Tendenzen auch.“

Als sie im belarusischen Katastrophendienst arbeitete, bis sie wegen Differenzen mit den Vorgesetzten entlassen wurde, untersuchte die Psychologin das Wesen der Masse und wie sie auf das Bewusstsein einwirkt. Sie ist sich sicher, dass der „Herdeninstinkt“, wie seinerzeit in der Sowjetunion, auch die heutige russische Gesellschaft bestimmt und die Russen dazu bringt, die Augen vor den massenhaften Verbrechen zu verschließen, die ihre Armee in der Ukraine und in anderen Ländern begeht.

„Psychologen haben so einen Ausdruck: ‚Begib dich nicht in die Masse, wenn man dir nichts dafür bezahlt.‘ Das bedeutet, dass man nicht Teil der Masse werden darf, wenn man seine Individualität nicht einbüßen will.“

„Ein Mensch, dem man Machtbefugnisse gibt und der diesen Befugnissen für sich keine Grenzen setzt und keine Verantwortung trägt, kann zu einem Gewalttäter, zu einem Tier werden, das keine übergeordneten moralischen Kriterien kennt und Gut und Böse nicht unterscheidet. Ich denke, das ist eine schwerwiegende Frage, über die sich bis heute viele Wissenschaftler und Philosophen den Kopf zerbrechen, Philosophen, Psychologen, Psychiater und so weiter“; resümiert Olena Grybanova.

Allerdings gilt es nach ihrer Auffassung auch darauf zu achten, wie man die Traumata von Menschen behandelt, die Verbrechen der russischen Armee zum Opfer fielen. Das Wort „Opfer“, das überall im postsowjetischen Raum Anwendung findet, schätzt Olena nicht: Sie plädiert für eine andere Bezeichnung: „Menschen, die die traumatisierenden Folgen eines bestimmten Ereignisses überwunden haben.“ „Ein Opfer denkt immer, dass von ihm nichts abhängt. Wer etwas zu überwinden vermochte, weiß immer, dass er selbst auch etwas tun kann.“

Ілюстрація: Марія Крикуненко / Харківська правозахисна група [психологія людина абстракція мозок думки психотерапія психаітрія мислення колективна травма війна] Ilustración: Maria Krykunenko / Grupo de derechos humanos de Járkiv Illustration : Maria Krikounenko / Groupe de Défense des Droits humains de Kharkiv Иллюстрация: Мария Крикуненко / Харьковская правозащитная группа

Illustration: Marija Krykunenko / Charkiver Menschenrechtsgruppe

Olena Grybanova nennt zwei wesentliche Gründe, die die Ukrainer daran hindern, das Trauma effizient zu bekämpfen:

  1. Die große Anzahl der Traumatisierten. Der Krieg hat so viele Menschen in Mitleidenschaft gezogen, dass es einfach nicht genügend qualifizierte Krisenpsychologen für alle gibt, die in verständlicher Sprache helfen könnten. Man kann sogar von einem „kollektiven Trauma“ sprechen.
  2. Das Fehlen organisierter Hilfe. Die Ukrainer können eine einmalige Beratung erhalten, allerdings gibt es wenig Stellen, wo man ihnen hilft, ihr Problem umfassend zu lösen. Im Wesentlichen braucht eine Person mindestens einige Sitzungstermine mit einem Spezialisten, um sich über die Ursache der Probleme zumindest ansatzweise klar werden zu können.

„Da ist ein Fisch, aber keine Angel“, sagt Olena. „Wie viele Ukrainer sind nach Polen ausgereist und wie viele zurückgekommen? Selbst in gefährdete Gebiete. Warum? Sie kamen nach Polen und blieben ein Jahr dort, sie fanden keine Arbeit, es gibt keine. Die Sozialhilfe ist ausgelaufen. Und wie sollten sie weiterleben? Meiner Meinung nach macht das den Leuten Angst.“

In der Ukraine können die Opfer von Kriegsverbrechen in den Büros der Charkiver Menschenrechtsgruppe umfassende Hilfe bekommen. Wenn Sie oder Ihre Bekannten humanitäre, psychologische oder rechtliche Hilfe benötigen, können Sie sich dorthin wenden; auf der Website finden Sie die Kontaktadressen.

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