Das russische Auskunftsbüro über Kriegsgefangene ist ein Fake. Eine internationale Reaktion ist gefordert
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Sagen wir es offen — das russische Regime hat die Arbeit der Organisation zur Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) im Sinne ihrer satzungsgemäßen Ziele faktisch lahmgelegt. Eine Ausnahme macht hier allerdings der Moskauer Mechanismus: Seit Beginn der Vollinvasion der Ukraine sind unabhängige Expertenberichte über wesentliche Probleme der „menschlichen Dimension“ ein wichtiges Instrument, um auf massive und systematische Verstöße hinzuweisen, insbesondere gegen lebenswichtige Forderungen des humanitären Völkerrechts.
Vor kurzem, im September 2025, wurde erneut ein Bericht des Moskauer Mechanismus veröffentlicht, der sich mit der Situation ukrainischer Kriegsgefangener in der Russischen Föderation und den besetzten Gebieten befasst. [1] Dieses Dokument beschreibt zutreffend, wie die Rechte ukrainischer Kriegsgefangener verletzt werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass der Bericht dieses wichtige Problem auf internationaler Ebene festgehalten hat.
Die Mission hat festgestellt, dass die Russische Föderation systematisch ukrainischen Kombattanten den Status des Kriegsgefangenen verweigert und sie als Personen ausgibt, die wegen „Widerstands gegen die Militärische Spezialoperation festgenommen“ wurden. Dieselbe Kategorisierung wird oft auch bei Festnahmen ukrainischer Zivilisten angewandt. Das verwischt die Grenze zwischen Kriegsgefangenen und festgenommen Zivilpersonen, die unter unterschiedliche rechtliche Bestimmungen des humanitären Völkerrechts fallen, und ermöglicht es, Kriegsgefangene wegen der Teilnahme an Kampfhandlungen strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. [2]
Zugleich gibt es in dem erwähnten September-Bericht der OSZE-Experten einen wichtigen Aspekt, der eine Reaktion unsererseits erforderlich macht.
In den Kapiteln „General observations“ und „General conclusions“ kommen die Experten zum Schluss, dass „das Russische Nationale Informationsbüro (NIB) nicht völlig transparent ist, was den Informationsaustausch über Kriegsgefangene einschränkt“. [3]
Natürlich kann von Transparenz in der Tätigkeit russischer Organe nicht die Rede sein. Es kommt auf etwas anderes an — dieses Experten-Urteil erweckt den Eindruck, als hätte die russische Seite gemäß der Forderung der Dritten Genfer Konvention ein vollwertiges nationales Informationsbüro eingerichtet, das immerhin funktioniert, wenn auch nicht besonders effizient.
Die Experten weisen in dem Bericht darauf hin, dass die Russische Föderation im Februar 2022 ein Nationales Informationsbüro (eine Auskunftsstelle für die Angelegenheiten Kriegsgefangener) eingerichtet habe. Es verfüge allerdings über keine Website und man könne keinerlei Information dazu finden, abgesehen von einer Telefonnummer.
Hat denn die Russische Föderation tatsächlich eine der Kernforderungen der Dritten Genfer Konvention erfüllt und ein Nationales Informationsbüro (eine Auskunftsstelle für die Angelegenheiten Kriegsgefangener) eingerichtet — eine der wichtigsten Institutionen auf nationaler Ebene, die die Erfassung von Personen regeln soll, die unter dem Schutz der Konvention stehen?
Noch im Sommer 2024 haben ukrainische Menschenrechtsaktivisten nach Konsultationen mit dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes erklärt, dass in Russland de facto kein nationales Auskunftsbüro existiert, sondern lediglich eine „Hotline“ des Verteidigungsministeriums. Einer der Autoren dieses Artikels hat dieses Problem auf einer Konferenz in Kyjiv am 26. Juni 2024 öffentlich gemacht. [4]
Es gibt mehrere Gründe zu behaupten, dass die Kreml-Imitation den Forderungen der Dritten und Vierten Genfer Konvention nicht entspricht und ein Nationales Informationsbüro nicht ersetzen kann.
Erstens gibt es keinerlei Bestätigungen dafür, dass das russische Verteidigungsministerium von der Regierung ermächtigt wurde, ein solches Informationsbüro einzurichten. Das nationale Informationsbüro im Sinne der Konventionen muss national sein, nicht nur eine reine Behörde, und die Verantwortung für die Erfüllung der Forderungen der Konventionen trägt der Staat, nicht einzelne staatliche Behörden oder Beamte (Art. 12 der Konvention).
Zweitens erfüllt die russische Imitation nicht die Funktionen, wie sie Artikel 122 der Dritten Genfer Konvention vorsieht, und stellt nicht die von diesem Artikel vorgesehene Information über alle Personen zur Verfügung, die unter den Schutz der Konvention fallen, und gibt dementsprechend diese Auskunft auch nicht an die Ukraine weiter. Vor allem teilt sie nichts über den Gesundheitszustand Schwerverletzter und Kranker mit, nennt keine Adressen, an die man Briefe an die Gefangenen richten könnte, und übermittelt keine persönlichen Wertgegenstände von Kriegsgefangenen.
Es gibt noch einen weiteren wichtigen Aspekt des Problems. Das russische Imitat existiert beim Verteidigungsministerium und nennt sich „Auskunftsbüro für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen“. Damit hat es nicht einmal formal einen Bezug zu ukrainischen Zivilpersonen, die die Besatzer der Freiheit beraubt haben. Gleichzeitig verlangt Art. 136 der Genfer Konvention zum Schutz der Zivilbevölkerung in Kriegszeiten (Vierte Konvention) von den Konfliktparteien, nationale Auskunftsbüros über die Angelegenheiten von Zivilpersonen einzurichten, dessen Aufgaben denen des Büros für Kriegsgefangene entsprechen.
Derzeit hat die Russische Föderation Tausenden ukrainischen Zivilisten widerrechtlich die Freiheit entzogen. Diese Personen werden in Haftanstalten unter schweren Bedingungen festgehalten, häufig incommunicado, ohne Gerichtsbeschluss. Mit ihnen befasst sich ein Expertenbericht nach dem Moskauer Mechanismus vom April 2024. [5] Ein nationales Auskunftsbüro, das sich mit Zivilpersonen befasst, existiert in Russland nicht, und das „Auskunftsbüro für die Angelegenheiten Kriegsgefangener“ ist mit diesen Funktionen nicht beauftragt.
Die Expertengutachten nach dem Moskauer Mechanismus über die Lage von Zivilpersonen und Kriegsgefangenen sind bereits veröffentlicht. Im Zusammenhang damit, dass sie zur Kenntnis genommen und auf internationaler Ebene sowie von Rechtsorganen berücksichtigt werden, besteht die Gefahr, dass das russische Regime die Ergebnisse der Experten nutzt, um das informationelle Vakuum zu rechtfertigen, in dem sich die ukrainischen Gefangenen befinden.
Wir bitten die Staaten, die entsprechende Vollmachten haben, den Moskauer Mechanismus zu aktivieren und detaillierte Ermittlungen zu initiieren, um das Fehlen tatsächlicher Auskunftsbüros über Kriegsgefangene und Zivilisten in der Russischen Föderation zu untersuchen. Wir appellieren ebenso an Menschenrechtsinstitutionen und Monitoring-Missionen, sich mit dieser Frage zu befassen.
[1] Report on Possible Violations and Abuses of International Humanitarian and Human Rights Law, War Crimes and Crimes Against Humanity, Related to the Treatment of Ukrainian POWs by the Russian Federation (Report über mögliche Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht, zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hinsichtlich der Behandlung ukrainischer Kriegsgefangener durch die Russische Föderation).
[2] The Mission found that the Russian Federation systematically denies members of the Ukrainian armed forces hors de combat POWs status, designating them instead as “persons detained for countering the special military operation.” The same designation is used for detained Ukrainian civilians. This blurs the line between POWs and civilian detainees, subjected to different legal regimes under IHL, and opens the door for criminal prosecution of POWs for mere participation in hostilities.
[3] The Russian National Information Bureau (NIB) is not fully transparent, limiting the exchange of information about POWs.
[4] “Vermisst — Problem der Suche und Identifizierung. Das Wichtigste aus der Diskussion. 2.7.2024. Zentrum für bürgerliche Freiheiten.
[5] Доклад о нарушениях и злоупотреблениях международного гуманитарного права и права прав человека, военных преступлениях и преступлениях против человечности, связанных с произвольным лишением свободы украинских гражданских лиц со стороны Российской Федерации. 25.04.2024. Bericht über Verstöße und Verletzungen des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte, über Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Zusammenhang mit willkürlichen Festnahmen ukrainischer Zivilisten durch die Russische Föderation. 25.4.2024.