Gemeinsamer Aufruf der Vertreter der Koalation „Ukraine. Fünf Uhr morgens“ und der Initiative „Tribunal für Putin“

Die Gesetzentwürfe Nr. 11538 und 11539 blockieren die Untersuchung internationaler Verbrechen in der Ukraine und dürfen nicht angenommen werden.
25. Dezember 2024UA DE ES FR IT RU

Am 5. Dezember 2024 hat die Verchovna Rada — das ukrainische Parlament — die Gesetzentwürfe zur „strafrechtlichen Verantwortung für internationale Verbrechen“ (Nr. 11538 vom 2.9..2024) und zu „Änderungen im Strafgesetzbuch und in der Strafprozessordnung der Ukraine im Zusammenhang mit dem Gesetz zur ‚strafrechtlichen Verantwortung für internationale Verbrechen‘“ (Nr. 11539 vom 2.9.2024) in erster Lesung angenommen.

Als Vertreter von Menschenrechtsorganisationen setzen wir uns seit langem dafür ein, dass die internationalen Verbrechen, die während des Angriffskrieges gegen die Ukraine begangen werden, nicht ungeahndet bleiben. Unserer Auffassung nach wird die Annahme der Gesetzentwürfe Nr. 11538 und 11539 künftigen Ermittlungen nicht nur im Wege stehen, sondern die Chancen für die laufenden Verfahren generell in Frage stellen.

Der in den Gesetzentwürfen verfolgte Ansatz, die Untersuchung internationaler Verbrechen auf nationaler Ebene mit einem separaten Gesetz zu regeln, ist nicht gerechtfertigt. Die Entwürfe haben die Position der Richter, Staatsanwälte und Ermittler ebenso wenig berücksichtigt wie die der Zivilgesellschaft. In Wirklichkeit werden sie zahlreiche effiziente juristische Mechanismen zunichtemachen.

Wir fordern die Abgeordneten der Ukraine dazu auf, den Gesetzentwürfen Nr. 11538 und 11539 aus folgenden Gründen nicht zuzustimmen:

1. Die Entwürfe unterminieren die Ermittlung gegen Schwerverbrechen in der Ukraine. Die Verfahren werden sich in die Länge ziehen, und es wird zu Fehlern und Verstößen gegen die Prozessbestimmungen kommen. Das bedeutet, dass die ohnehin schon überlastete Justiz noch mehr belastet wird, besonders durch die zahlreichen Verfahren, deren Zahl jeden Tag zunimmt.

Wenn die beiden Gesetzentwürfe Nr. 11538 und 11539 angenommen werden, müssen Ermittler, Staatsanwälte und Richter ein neues, eigenes Gesetz auf Fälle anwenden, die nach Annahme der genannten Gesetze stattgefunden haben, während für den Zeitraum davor das Strafgesetzbuch sowie die Strafprozessordnung gelten. Das sind zwei Verfahren, die sich gegenseitig ausschließen. Man müsste lernen, sie parallel anzuwenden, wobei hier jegliche Praxis fehlt. Zudem stellt sich bei Verbrechen, die noch andauern, die Frage, von welchem Zeitpunkt an sie nicht mehr nach dem Strafgesetzbuch, sondern nach dem neuen Gesetz beurteilt werden sollen.

Die Entwürfe enthalten eine unklare Terminologie, die nicht immer mit dem internationalen Recht übereinstimmt, insbesondere nicht mit dem Römischen Statut.

Eine detaillierte Darstellung internationaler Verbrechen, ohne dass zuvor geklärt wird, worin es dabei im Wesentlichen geht, wird nicht zu ihrem besseren Verständnis beitragen, sondern nur mehr Raum für eine freie Interpretation bei der Anwendung schaffen.

Die Folgen einer prozessualen Unstimmigkeit müssen überwunden werden. Andernfalls wirkt sich das negativ auf die Qualität der Untersuchung aus und führt in der Praxis zu neuen Risiken. Es erhöht die Wahrscheinlichkeit von Verstößen, die die Verteidigung nutzen kann, um Urteile anzufechten, was schließlich die Verfahren zum Scheitern bringen kann.

Eine genaue Analyse der Gesetzentwürfe auf Ukrainisch finden Sie hier.

2. Im Falle ihrer Annahme können die Gesetzentwürfe Nr. 11538 und 11539 als verfassungswidrig beurteilt werden. Das bedeutet, dass die Einführung dieser Gesetze nicht sicherstellt, dass sie auf Dauer in die Rechtspraxis Eingang finden.

Die Verfassung der Ukraine stärkt das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und bestimmt, dass Gesetze auf Grundlage der Verfassung angenommen werden und mit ihr übereinstimmen müssen. Ihre Realisierung erfordert Rechtssicherheit, was bedeutet, dass Rechtsnormen anzuwenden sind, ohne willkürlich ausgelegt werden zu können.

Nach den allgemeinen Grundlagen des ukrainischen Strafgesetzbuchs ist nur dieses bei Strafverfolgung rechtlich relevant, und jegliche Änderungen daran werden vorgenommen, nachdem diese Gesetzeskraft erlangt haben.

Folglich ist es in der Ukraine nicht vorgesehen, eine strafrechtliche Verantwortung anders zu bestimmen oder zu präzisieren als durch Änderungen im geltenden ukrainischen Strafgesetzbuch. Die Verabschiedung eines eigenen Gesetzes, das parallel zum geltenden Strafgesetz bei einer bestimmten Kategorie von Verbrechen Anwendung finden sollte, könnte die Rechtssicherheit in der Praxis beeinträchtigen und Ermittler, Staatsanwälte und Richter bei der Umsetzung gesetzlicher Normen vor erhebliche Probleme stellen.

Das hält auch das wissenschaftliche Fachgutachten der Rada fest, das bei der Behandlung des Gesetzentwurfs offensichtlich nicht berücksichtigt wurde.

Die Zweifel daran, ob der Entwurf verfassungskonform ist und der ukrainischen Gesetzgebung entspricht, werden eine Verbesserung der ukrainischen Gesetzgebung über die Verfolgung internationaler, während des Krieges begangener Verbrechen weiter hinauszögern. Statt auf diese Frage wird man sich auf die Durchsetzung des Gesetzes selbst konzentrieren.

Diese Probleme in den Gesetzentwürfen können nicht zwischen der ersten und der zweiten Lesung korrigiert werden, weil sie wesentliche Punkte betreffen. Das Reglement des Parlaments lässt eine so fundamentale Umarbeitung von Gesetzentwürfen zwischen den ersten beiden Lesungen nicht zu. Zudem waren die Autoren der beiden Gesetze auch vorher einer Diskussion nicht zugeneigt, deshalb wäre kaum mit einer Einigung über einschneidende Änderungen zu rechnen, schon gar nicht in der kurzen Zeit, die für Korrekturen vor der zweiten Lesung verbleibt.

Dies alles steht im Widerspruch zu den Zielen, die sich der Staat setzt, sowie zu den hohen Erwartungen der ukrainischen Gesellschaft, die mehrheitlich der Auffassung ist, dass eine gerechte Strafe Priorität haben muss und verlangt, dass die Prozesse beginnen und so schnell wie möglich durchgeführt werden. Die Schwächung des nationalen Systems durch diese Gesetzentwürfe wird zunehmende Zweifel an seinen Fähigkeiten wecken und den Opfern den Mut nehmen, bei den Justizorganen Hilfe zu suchen.

Wir appellieren an die Abgeordneten der Ukraine, den Gesetzentwurf Nr. 11538 und den damit zusammenhängenden Entwurf Nr. 11539 vom 2.9.2024 abzulehnen und gründliche Diskussionen dazu wieder aufzunehmen. Es gilt, einen optimalen Weg für die Implementierung der Bestimmungen des Römischen Statuts in der ukrainischen Gesetzgebung zu finden.

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