Russlands Lüge über Biolabore kann dazu dienen, eigene Verbrechen zu verschleiern

2022 entfaltete Russland eine großangelegte Desinformationskampagne über chemische und biologische Waffen. Sie geht noch auf sowjetische Zeitungspropaganda zurück.
Denys Volocha25. Oktober 2023UA DE EN ES FR IT RU

Дослідження проілюстровано картиною Валерії Осіної The research is illustrated with a painting by Valeria Osina Исследование проиллюстрировано картиной Валерии Осиной

Untersuchung illustriert durch ein Bild von Valerija Osina

Um Lügen zu verbreiten, werden Pseudoexperten und die Technik einer „Faktenwäsche“ eingesetzt. Über die phantastischen amerikanischen Labore haben die Russen mehrere „Dokumentarfilme“ gedreht.

Eine neue Untersuchung analysiert die russische Desinformation im Jahre 2022 über biologische und chemische Waffen. Obwohl die Praxis, derartige Fakes zu verbreiten, nicht neu ist, legt eine Analyse von Google Trends nahe, dass die Russen häufig eine „Präventiv-Propaganda“ starten, bevor sie Spezialoperationen oder militärische Invasionen durchführen: Google verzeichnet einen dramatischen Anstieg von Anfragen nach „Biolaboren der USA“ im August 2006, zwei Monate bevor russische Agenten in London Alexander Litvinenko vergifteten.

Der nächste auffällige Anstieg erfolgte im Juli 2008, bevor Russland in Georgien einmarschierte und einen Teil seines Territoriums besetzte. Im Januar und März 2005 war das Interesse bereits in ähnlicher Weise aufgeflammt. Vorher war unter nicht endgültig geklärten Umständen Viktor Juschtschenko vergiftet worden, der damalige Präsidentschaftskandidat der Ukraine.

Fake-Experten und der „Geist aus dem Reagenzglas“

Russische Medien laden häufig Personen ohne die entsprechende Sachkenntnis dazu ein, das Thema der Biolabore zu kommentieren: politische Kommentatoren, KGB-Leute und Pseudospezialisten. Mit am häufigsten zitiert wird Igor Nikulin, der behauptet, in einer UN-Kommission für Abrüstungsfragen gearbeitet zu haben und sich als Mikrobiologen ausgibt. Allerdings ließen sich bei keiner einzigen journalistischen Recherche Hinweise auf seine Arbeit in den UNO-Strukturen finden. Der ehemalige UN-Spezialist Richard Butler, für den Nikulin gearbeitet haben will, erklärte gegenüber Journalisten, sich nicht an ihn zu erinnern.

Offensichtlich basiert die Desinformationskampagne über „Biolabore in der Ukraine“ auf früheren Verschwörungstheorien über das Lugar-Zentrum in Georgien und anderen postkommunistischen Ländern, sowie auf noch älteren Narrativen sowjetischer Propagandisten über die angeblich künstliche Herstellung des AIDS-Virus. Allerdings ist die „ukrainische Kampagne“ die umfangreichste in der Geschichte: Im März 2022 brachte es eine einzige russische Publikation täglich auf mehrere Dutzend Nachrichten mit Manipulationen zum Thema biologischer Waffen. Um diese Narrative zu verbreiten nutzen die Russen außerdem intensiv die sozialen Netze. Sie drehten Pseudo-Dokumentarfilme (z. B. das „Labor des Teufels“ von Anton Krasovskij) und kreierten sogar spezielle Medien wie den anonymen Telegram-Kanal „Geist aus dem Reagenzglas“, der täglich über „amerikanische Biolabore“ schreibt und Informationen des russischen Verteidigungsministeriums analysiert, Pseudo-Recherchen durchführt und sogar Kurzfilme produziert.

Ein Blick in den Kopf eines Propagandisten — mithilfe von Viktoria Nuland

Die russische Propaganda versucht, harmlose Tatsachen zu verfälschen und sich auf Dinge zu konzentrieren, die im Unterbewusstsein Unruhe auslösen können. Dieses Verfahren wurde und wird systematisch bei der Verbreitung von Fakes über biologische, chemische und nukleare Waffen eingesetzt. Die Tatsache, dass die USA in der Ukraine und in anderen Ländern Forschungseinrichtungen zur Abwehr von biologischen Gefahren finanzieren, wurde seinerzeit öffentlich bekanntgemacht. Über das ganze Jahr 2022 nutzten Mitarbeiter des russischen Verteidigungsministeriums diese Fakten, um der USA und der Ukraine die Entwicklung biologischer Waffen zu unterstellen. Dabei demonstrierten sie wiederholt verschiedene dienstliche Dokumente.

Dmitrij Kisselev, einer ihrer Gurus, hat die Methodik der Propaganda wie folgt beschrieben: „Was können Sie über das Gras sagen, das neben Ihrem Haus wächst? Ein normaler Mensch wird antworten, es sei grün. Und kann man sagen, dass es flach und scharf ist? Wenn wir Propaganda betreiben, werden wir den Schwerpunkt auf diese Merkmale legen, die zwar nicht relevant, aber auch nicht zu bestreiten sind. Und wenn wir davon ausgehen, dass das Gras scharf ist, können wir sagen, dass es z. B. gefährlich ist. Man kann sich damit verletzen.“

Eines der häufigsten Beispiele für diese Technik sind Zitate der Stellvertretenden US-Außenministerin Viktoria Nuland. Auf einer Anhörung im US-Kongress sagte sie, in der Ukraine gebe es biologische Forschungseinrichtungen, und die USA machten sich Sorgen, dass sie unter russische Kontrolle geraten könnten. Sie setzte sofort hinzu, dass sie im Falle einer Anwendung chemischer oder biologischer Waffen in der Ukraine sicher sei, dass allein Russland dahinterstehen könnte. Allerdings nutzt die russische Propaganda diese Aussage bis heute unter Schlagworten in der Art wie: „Amerikanische Diplomatin räumt Existenz biologischer Waffen in der Ukraine ein.“

Wer verbreitet die russischen Fakes im Westen?

Bei den Recherchen wurden Kommentare zu Mitteilungen der New York Times zur Ukraine bei Facebook analysiert. Dabei wurden Dutzende von Kommentaren entdeckt, die von Fake-Accounts stammten und die die Desinformation über die „biologischen Waffen in der Ukraine“ weiterverbreiteten.

Unter den Propagandisten russischer Narrative über biologische Waffen finden sich häufig Anhänger von Verschwörungstheorien. In einem Video unter dem Titel: „Erschreckende russische Mitteilung: Ukrainische Biolabore entwickeln spezielle biologische Waffe für ethnische Säuberungen“ behauptet Ariyana Love, die sich als Ärztin ausgibt, dass „russische Informationen immer zutreffend“ gewesen seien. Danach referiert sie so ziemlich alle nur möglichen Narrative der russischen Propaganda über die Ukraine. In einem dreizehnminütigen Video erinnert sie nicht nur an die Biolabore, sondern auch an die „ukrainischen Nazis“, an das „Asov“-Regiment und die angebliche „ethnische Säuberung“ an Russen in der Ukraine seit 2014. Außerdem sei in der Ukraine angeblich Covid-19 entwickelt worden. Es fällt schwer zu glauben, dass ein Mensch im Ernst einen so konzentrierten Unsinn von sich geben kann.

Vermutlich ist Ariyana Love in Wirklichkeit keine Ärztin. Auf ihrer persönlichen Website bezeichnet sie sich als „Doktor der Naturheilkunde“, als „Recherche-Journalistin“ und als „Botschafterin des guten Willens.“ Naturheilkunde ist eine pseudowissenschaftliche Praxis, die als medizinisch nicht bewiesen gilt. Ariyana Loves öffentliche mediale Tätigkeit betrifft im Wesentlichen Verschwörungstheorien zum Thema Covid-19. Angesichts der zahlreichen Fehler in ihren Erklärungen ist ihre biologische und medizinische Expertise fragwürdig. Von einer entsprechenden Ausbildung ist nirgendwo die Rede. In Wirklichkeit hat sie Kunst und Kinematographie studiert.

Die amerikanische NGO Judicial Watch hat offiziell von ihr angefragte und erhaltene Dokumente über die Zusammenarbeit der Ukraine mit den USA zur Nichtweiterverbreitung von Waffen veröffentlicht. Der Vertreter der Organisation hat ein recht emotionales Video aufgezeichnet unter dem Titel „Gefährliche Untersuchungen in Biolaboren, die in der Ukraine finanziert werden.“ In Wirklichkeit geht es hier um ein altes Programm für biologische Sicherheit (BTRP), das in vielen Ländern seit mehreren Jahrzehnten existiert.

Judicial Watch selbst ist eine konservative Organisation, die früher schon für die Verbreitung von Fakes bekannt war. Die Russen haben die von ihr veröffentlichten Dokumente jedenfalls als Gelegenheit genutzt, erneut Fakes über „Biolabore“ zur Sprache zu bringen. Der Kanal „Geist aus dem Reagenzglas“ führte sogar eine „Ermittlung“ auf Grund dieser Dokumente durch. Das ist eines der Beispiele für die „Wäsche von Desinformation“ — die Propaganda versucht, eigene Narrative als etwas auszugeben, was ein anderer verkündet.

„Möglicherweise ist die Propaganda auch nicht imstande, selbständig einen Krieg hervorzurufen, aber sie katalysiert ihn, macht ihn mitunter sogar unabwendbar. Man muss verstehen, dass die Verbreitung von Desinformation, so armselig und primitiv sie auch sein mag, häufig ein Vorbote massiver Verbrechen ist. Desinformation muss ernstgenommen werden, weil sie unmittelbar den Tod vieler Menschen provoziert. Heute kann man fast mit Sicherheit sagen, dass die russische Propaganda ein Bestandteil der genozidalen Politik Russlands gegen die Ukrainer ist, ohne die diese Politik einfach nicht möglich gewesen wäre“, heißt es in der Untersuchung.

Der vollständige Text der Untersuchung „Russische Fakes über Biolabore 2022: Worte, die Handlungen verschleiern“ ist in der Online-Bibliothek für Menschenrechte der Charkiver Menschenrechtsgruppe auf Ukrainisch und Englisch zugänglich.

Die Publikation wurde auf Grund einer Arbeit verfasst, die von der amerikanischen Civilian Research & Development Foundation (CRDF Global) gefördert wurde. Meinungen, Ergebnisse und Schlussfolgerungen der Publikation sind Eigentum des Autors (der Autoren) und decken sich nicht notwendig mit CRDF Global.

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