Beschuss der Zivilbevölkerung: T4P hat eine Eingabe an den Internationalen Strafgerichtshof vorbereitet. Presseerklärung
Seit Beginn der flächendeckenden Invasion hat die Initiative „Tribunal für Putin“ ungefähr 48.000 Kriegsverbrechen festgestellt. Der Löwenanteil davon — über 80% — entfällt auf Angriffe auf zivile Objekte und Zivilpersonen. Um den Staatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) auf das immense Ausmaß dieser Verbrechen hinzuweisen und ein Strafverfahren gegen die Täter zu initiieren, hat „Tribunal für Putin“ in einer umfangreichen Eingabe an den IStGH Informationen über den Beschuss von Zivilisten zusammengestellt und strukturiert.
Jevhen Sacharov, Direktor der Charkiver Menschenrechtsgruppe: „Es gab so viele solcher Verbrechen, dass ihre Verfolgung sich über Jahrzehnte hinziehen kann. Aber wo werden in dieser Zeit die Zeugen, die Opfer, die Beweise sein? Deshalb wollen wir die häufigsten und grausamsten Verbrechen herausstellen, bei denen eine strafrechtliche Verfolgung der Täter am dringlichsten ist.“
Statistik
Vom 24.2.2022 bis zum 30.4.2023 hat „Tribunal für Putin“ (T4P) 32.451 Fälle von Beschuss ziviler Objekte sowie der Zivilbevölkerung mit unterschiedlichen Waffengattungen dokumentiert, die meisten davon im Gebiet Charkiv: 7.800. Im Durchschnitt beschießt Russland zivile Objekte in der Ukraine 75 mal pro Tag. Statistische Details dazu kann man in der analytischen Darstellung auf der Website von T4P nachlesen.
Außerdem wurden bis zum 30.4.2023 in der Datenbank von T4P 24.637 zivile Opfer erfasst (Getötete, Verletzte und Vermisste). Die meisten, etwa 90%, waren Opfer von Beschuss. Am schwersten hatte und hat die Zivilbevölkerung in den Grenzgebieten zu leiden, wo die russische Armee vorrücken konnte. Eine vollständige Statistik der zivilen Verluste für diesem Zeitraum, die die Ermittler der Initiative zusammenstellen konnten, findet sich hier.
Im Gebeie Sumy sind die Ermittler von T4P gezwungen, in gefährlichen Regionen, selbst unter Beschuss, zu arbeiten. So suchen sie den einzigen in Betrieb befindlichen Grenzübergang zu Russland auf. Diesen passieren täglich bis hundert unserer Mitbürger, die auf ukrainisches Territorium zurückkehren.
Natalja Jessina, Ermittlerin für Kriegsverbrechen im Gebiet Sumy, Mitglied der Menschenrechtsgruppe Nord: „Die Leute sind verängstigt, sie sind im Stress. Sie meiden Kontakt. Sie konsultieren Psychologen, und vorher werden sie von ukrainischen Geheimdiensten überprüft. Danach lassen sie sich nicht gerne auf eine Dokumentation ein. Dennoch hoffe ich, dass sie später, in einer ruhigeren Situation und wenn sie in Sicherheit sind, in der Lage sein werden, uns von ihren Erlebnissen zu berichten.“
Die Zahl der zivilen Opfer von Beschuss nimmt ständig zu. Natalja Jessina ist der Überzeugung, dass es sich um gezielten Beschuss der zivilen Infrastruktur und von Zivilisten handelt.
Bisher gibt selbst die vollständigste Statistik nicht die reale Sachlage wieder, da in mehreren Regionen lange Zeit nicht ermittelt werden konnte.
Art des Verbrechens
Das Römische Statut hebt vier Verbrechen hervor, die mit dem Beschuss von zivilen Objekten und der Zivilbevölkerung zusammenhängen:
- vorsätzliche Angriffe auf die Zivilbevölkerung
- vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte
- vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte verursachen wird;
- vorsätzliche Angriffe auf Gebäude, die dem Gottesdienst, der Erziehung, der Kunst, der Wissenschaft oder der Wohltätigkeit gewidmet sind, auf geschichtliche Denkmäler, Krankenhäuser und Sammelplätze für Kranke und Verwundete, sofern es nicht militärische Ziele sind.
Viele russische Angriffe enthalten Elemente und eine objektive Komponente all dieser Verbrechen — besonders dann, wenn die Russen unpräzise Waffen einsetzen, Mehrfachraketensysteme und Anti-Schiffs-Raketen.
Maksym Revjakin, Experte der Charkiver Menschenrechtsgruppe und Co-Autor der Eingabe: „Für die Ermittlung ist das das schwierigste Verbrechen; der Beschuss geht entweder vom Territorium der Russischen Föderation oder von besetztem Gebiet aus. Selbst bei der Erhebung der Beweise sind die Möglichkeiten unserer Sicherheitsorgane begrenzt, ihnen fehlt der Zugang zu Zeugen oder zu materiellen Beweismitteln. Sogar wenn bei einem bestimmten Verbrechen ermittelt wird, können sie die Schuldigen nicht zur Verantwortung ziehen, da diese sich in Russland aufhalten. Bis Juni 2023 waren nur fünf Urteile gegen Personen bekannt, die Beschuss zu verantworten hatten. Dabei handelt es sich um Kriegsgefangene. Unsere Sicherheitsorgane können die Schuldigen also nur in Einzelfällen unter Anklage stellen, wenn eine Person, die einen Beschuss durchgeführt oder einen entsprechenden Befehl erteilt hat, in Gefangenschaft geraten ist.“
Waren sich die russischen Soldaten dessen bewusst, dass sie zivile Objekte angriffen?
Nach dem Römischen Statut muss ein Verbrechen vorsätzlich und bewusst begangen werden. Hatten die Besatzungstruppen die Absicht, die Zivilbevölkerung anzugreifen?
„Wir haben in offenen Quellen die Angaben zu russischen Militäreinheiten analysiert, die sich auf ukrainischem Gebiet befanden, und haben Informationen über deren Führungspersonal gefunden. Wir gehen davon aus, dass sie sich aufgrund subjektiver äußerer Umstände darüber im Klaren sein mussten, dass solche Angriffe die Zivilbevölkerung und zivile Objekte schädigen würden, infolge direkter Absicht, Gleichgültigkeit oder Leichtsinn. Wenn jemand den Befehl erteilt, aus Raketenwerfern einen dichtbevölkerten Ort. wo viele Menschen leben, unter Feuer zu nehmen, dann muss er sich dessen bewusst sein, dass der Radius des Schadens über 400-500 Meter beträgt und dass somit außer dem militärischen Ziel auch die Zivilbevölkerung getroffen wird“, so Maksym Revjakin.
Russische Militärs setzen häufig unpräzise Waffen ein. Sie kennen die technischen Besonderheiten dieser Waffe und das Ausmaß des Schadens, den sie bewirkt. Darüber hinaus lagen in der Nähe des Einschlags oft gar keine militärischen Ziele. Somit galt der Angriff der Russen gerade der Zivilbevölkerung.
Weiteres Procedere bei der Eingabe
Maksym Revjakin: „Um eine Anzeige beim IStGH zu erstatten, müssen wir ein bestimmtes Quantum an Informationen zusammenstellen, die allen Anforderungen entsprechen, die der IStGH mit Eurojust hinsichtlich der Dokumentation von Kriegsverbrechen, der Methodologie und der Speicherung der Angaben usw. entwickelt hat. Danach werden wir alles analysieren und es im Büro des Staatsanwalts des IStGH einreichen. Wir erklären, dass wir über Kenntnisse zu Kriegsverbrechen verfügen und übermitteln dem IStGH als Beispiele anonymisierte Fälle mit verschlüsselten persönlichen Daten. Wenn sich das Büro des Staatsanwalts für einen Fall interessiert, geben wir ihm Zugang zu unserer Datenbank oder zu einzelnen interessierenden Fällen. Der IStGH wird selbst entscheiden, in welchen Fällen er ermitteln wird. Wir haben keine Möglichkeiten, ihn zu beeinflussen.“
Jevhen Sacharov: „Im vorigen Stadium des Krieges hat die Charkiver Menschenrechtsgruppe dem IStGH bereits eine Eingabe über russische Verbrechen zugeleitet. In unserer Datenbank waren damals 16.800 zivile Opfer von Verbrechen erfasst. Wir haben drei Eingaben verfasst: Über Gewaltverbrechen während des militärischen Konflikts, über Vermisste sowie auch über Ukrainer, in Strafvollzugsanstalten in Gebieten verblieben waren, die nicht ukrainisch kontrolliert sind. Jetzt werden wir Eingaben einreichen und die Fälle synchron präsentieren. Zu jeder Eingabe gibt es einen vollständigen Satz von Fällen, die eine Vorstellung vom Ausmaß, von der Art und der Geographie des Verbrechens vermitteln. Das wird ab Ende August im Laufe der nächsten Monate erfolgen. Unser Hauptziel ist es, die Täter zur Verantwortung zu ziehen und die Opfer dieser Verbrechen zu schützen und zu unterstützen.“
Der vollständige Text der Eingabe findet sich in der Online-Bibliothek der Charkiver Menschenrechtsgruppe.
Diese Veranstaltung ist die erste in einer Reihe von Eingaben an den IStGH von der Initiative „Tribunal für Putin“. Die nächste findet am 28. August um 11 Uhr in Kyjiv statt, Bogdan-Chmelnizkyj-Str. 8/16 (Medienzentrum Ukraina / Ukrinform). Thema der Veranstaltung: Der Genozid in Mariupol. Juristische Beweisgründe für ein internationales Verbrechen.
Die Eingabe wurde mit Unterstützung der US-Botschaft in der Ukraine vorbereitet.