Am Anfang der Invasion zerstörten die Russen zwei Schulen in Charkiv pro Tag

Die Charkiver Menschenrechtsgruppe hat zahlreiche Angriffe auf Bildungseinrichtungen im Gebiet Charkiv dokumentiert. Ihre Zerstörung kann einschneidende Folgen für die Entwicklung der Region haben
Mykola Komarovskyj, Denys Volocha03. Juli 2023UA DE ES FR IT RU

Коридор школи в Ізюмі. © Денис Волоха / ХПГ Le couloir d’une école à Izioum. © Denys Voloha / GDHK Коридор школы в Изюме. © Денис Волоха / ХПГ

Korridor der Schule in Isjum. © Denys Volocha / KHPG

Vor über zwei Jahren waren in den Schulen und Kindergärten des Gebiets Charkiv Kinderstimmen zu vernehmen, und in den Universitäten brodelte ein aktives Studentenleben. Infolge des Einmarschs der Russischen Föderation wurden viele dieser Institutionen beschädigt. Einige werden nie mehr Schüler und Studenten aufnehmen können, sie sind vollständig zerstört. In einigen dieser Einrichtungen haben die Besatzer ihre Truppen stationiert.

Bereits früher hat die Charkiver Menschenrechtsgruppe festgestellt, dass 87% der Schulen in Mariupol durch den massiven russischen Angriff auf die Stadt zerstört oder beschädigt wurden. In dieser Untersuchung demonstrieren wir die Folgen des Krieges für Bildungsinstitutionen im Gebiet Charkiv.

2022 wurden im Gebiet Charkiv so häufig Bildungsinstitutionen durch Kriegshandlungen betroffen, dass im Durchschnitt an jedem Kriegstag eine Schule bzw. ein Kindergarten oder ein anderes Objekt zerstört wurde. In den ersten drei Kriegsmonaten wurden täglich mindestens zwei Bildungseinrichtungen zerstört.

Insgesamt wurden vom 24.2.2022 bis 15.6.2023 374 Beschädigungen von Bildungseinrichtungen im Gebiet Charkiv dokumentiert.

Ilustración: Sergiy Prytkin / Grupo de derechos humanos de Járkiv Illustration : Serhiy Pritkine / GDHK

Illustration: Serhij Prytkin / KHPG

Schulen

Seinerzeit haben wir schon erläutert, warum Schulen so häufig Zielscheiben der russischen Armee werden: Die Besatzer gehen davon aus, dass sie von den ukrainischen Streitkräften als Stabsquartiere genutzt werden und greifen sie bedenkenlos mit Artillerie und Raketen an.

Selbst wenn in einigen Fällen Bildungseinrichtungen, die von Zivilisten geräumt worden waren, tatsächlich durch die ukrainische Armee genutzt wurden, kann das keinesfalls die willkürlichen und derart massiven Attacken von russischer Seite rechtfertigen.

Ilustración: Sergiy Prytkin / Grupo de derechos humanos de Járkiv Illustration : Serhiy Pritkine / GDHK

Illustration: Serhij Prytkin / KHPG

Zudem wählen die Besatzungstruppen selbst häufig Schulen für ihre Militärbasen aus. Ermittler der Charkiver Menschenrechtsgruppe haben im Dorf Vasylenkove in einer Schule Spuren einer Stationierung russischer Truppen vorgefunden. Im Keller lagen Kisten und Hülsen verschossener Artilleriemunition sowie Belege über Einkäufe für russisches Militär. Vermutlich war die Artilleriebesatzung der russischen Einheit unmittelbar neben dem Schulgebäude stationiert und provozierte damit einen Gegenschlag der ukrainischen Seite.

Die erwähnte Schule gilt als eine der ältesten der Region. Sie wurde vor über 100 Jahren im Jahre 1911 erbaut.

У школі розташовувалася база окупантів. © Денис Волоха В школе расположилась база оккупантов. © Денис Волоха

In der Schule war eine Militärbasis der Besatzer stationiert. © Denys Volocha

Сліди окупантів у шкільному підвалі © Оксана Комарова Следы оккупантов в школьном подвале © Оксана Комарова

Spuren der Besatzer im Keller der Schule © Oksana Komarova

Die Nutzung von Schulen als Militärobjekte haben wir ausführlicher in einer eigenen Publikation über lebende Schutzschilde behandelt.

Einer der bekanntesten Vorfälle in den Kämpfen um Charkiv ist die russische Besetzung der Charkiver Schule Nr. 134. Am 27. Februar 2022 drang eine Gruppe russischer Soldaten, die offenbar einer Spezialeinheit der Zentrale der militärischen Nachrichtendienstes (GRU) angehörten, mit mehreren Panzerfahrzeugen des Typs „Tiger“ in die Stadt ein. Die Russen verbarrikadierten sich in der Schule Nr. 134 in der Schevtschenkostraße, einer der Hauptverkehrsadern von Charkiv. Nach Erinnerung ukrainischer Soldaten, die den Kampf aufnahmen, waren die Russen organisatorisch und psychologisch gut vorbereitet. Deshalb war die Besetzung der Schule wahrscheinlich Teil einer Spezialoperation, die eine bedeutende ukrainische Stadt unter Kontrolle bringen sollte.

Die Russen stießen auf heftigen Widerstand mehrerer ukrainischer Einheiten. Schließlich wurden sie eingekesselt und kamen in einem mehrstündigen Kampf ums Leben (mit Ausnahme zweier Soldaten, die gefangen genommen wurden). Danach konnte die russische Armee nicht weiter ins Stadtinnere von Charkiv vordringen, jedoch wurde die Stadt weiterhin ständig beschossen.

© Жером Барбоса © Жером Барбоса

© Jérôme Barbosa

Auch andere Schulen wurden intensiv unter Beschuss genommen. Im Sommer 2022 wurde das Charkiver Lomonossov-Gymnasium Nr. 46 von einer Rakete getroffen. Der Hauptteil des Gebäudes wurde vollständig zerstört.

Харківська гімназія №46 імені М. В. Ломоносова. © ХПГ Харьковская гимназия №46 имени М. В. Ломоносова. © ХПГ

Charkiver Lomonossov-Gymnasium Nr. 46. © KHPG

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Kinder aus verschiedenen Ortschaften einer Gemeinde besuchen oft Schulen im Gebiet Charkiv. Die Zerstörung dieser Schulen erschwert es vielen Kindern, eine elementare Bildung zu erhalten, was sich auf die Entwicklung der Region negativ auswirken kann.

Ein Beispiel dafür ist das Lyzeum von Tscherkaska Losova, eines der beiden Gymnasien in der Gemeinde Malodanyliv. Zum 1. Januar 2020 lebten in der Gemeinde 13.356 Personen. Auf dem Foto, das von einer Drohne gemacht wurde, ist zu sehen, was von diesem Lyzeum noch übrig ist.

Черкаськолозівський ліцей. © ХПГ Черкассколозовской лицей. © ХПГ

Lyzeum von Tscherkaska Losova. © KHPG

Черкаськолозівський ліцей. © ХПГ Черкассколозовской лицей. © ХПГ

Lyzeum von Tscherkaska Losova. © KHPG

Die Staatlichen elektronischen Datenbank hat im Gebiet Charkiv 818 Schulen verzeichnet. Während des Krieges wurden 30% von ihnen zerstört oder beschädigt.

Universitäten

Da Universitäten vorwiegend im Gebietszentrum liegen, das die Russen nicht einnehmen konnten, geht es in allen dokumentierten Fällen darum, dass Universitätsgebäude durch Artilleriebeschuss und Raketen beschädigt wurden.

Am Morgen des 5. Februar 2023 richteten die russischen Streitkräfte einen Schlag gegen Charkiv. Die Beketov-Universität für Kommunalwirtschaft wurde beschädigt. Das war nicht der erste Angriff auf diese Einrichtung, allerdings hatte der Bau bisher keine nennenswerten Zerstörungen davongetragen.

Харківський національний університет міського господарства імені О. М. Бекетова. Джерело світлини: telegraf.com.ua Харьковский национальный университет городского хозяйства имени О.М. Бекетова. Источник фотографии: telegraf.com.ua

Charkiver Nationale Beketov-Universität für Kommunalwirtschaft. Quelle: telegraf.com.ua

Im März 2022 griffen russische Truppen mit dem Mehrfachraketen-System Grad das Gelände des Charkiver Instituts für Physik und Technologie an. Gerade auf dem Gelände dieses wissenschaftlichen Zentrums befindet sich die nukleare Forschungseinrichtung „Neutronenquelle“. Während des Beschusses waren 37 nukleare Brennelemente im Kern der Anlage geladen. Im Laufe des Jahres 2022 wurde diese Anlage mehrfach von der russischen Armee beschossen.

Die russische Propaganda hat bereits Anfang März erklärt, dass die ukrainische Seite den Reaktor angeblich vermint habe, ohne dafür auch nur den geringsten Beleg vorzuweisen. Sollte das nukleare Objekt beschädigt werden, wollten die Russen offensichtlich den Ukrainern die Schuld zuweisen, wie das ihre übliche Taktik ist.

Die Forschungsanlage „Neutronenquelle“ wurde mit Unterstützung der USA erbaut als Gegenleistung für den Verzicht der Ukraine auf hochangereichertes Uran, das vertragsgemäß an Russland überlassen worden war. Die Anlage wurde 2021 in Betrieb genommen, ein paar Monate vor Beginn der flächendeckenden Invasion.

Харківський фізико-технічний інститут Харьковский физико-технический институт

Charkiver Institut für Physik und Technologie

Гендиректор Фізтеху Микола Шульга стоїть поруч з приміщенням Джерела нейтронів. Світлина: Сашко Бринза / Mediaport Гендиректор Физтеха Николай Шульга стоит рядом с помещением Источника нейтронов. Фото: Сашко Брынза / Mediaport

Der Generaldirektor des Instituts für Physik und Technologie Mykola Schulga steht neben dem Gebäude „Neutronenquelle“. Foto: Saschko Brynsa / Mediaport

Das Polytechnische Institut Charkiv war mehrfachen Angriffen ausgesetzt. Am 22. Juni 2022 wurde die Sportanlage „Polytechnik“ teilweise zerstört. Zwei Monate danach traf eine Rakete das Lehrgebäude U4. Eine Mitarbeiterin des Wachpersonals wurde getötet.

Спорткомплекс ХПІ після ракетної атаки. © ХПГ Спорткомплекс ХПИ после ракетной атаки. © ХПГ

Sportanlage des Charkiver Polytechnischen Instituts. © KHPG

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Infolge des Beschusses der Stadt wurde die Staatliche Wissenschaftliche Korolenko-Bibliothek von Charkiv beschädigt. Das Gebäude wurde von dem bekannten Architekten Alexej Beketov erbaut. Die Bibliothek befindet sich dort seit 1901. Das Bibliotheksgebäude wurde als Architektur-Denkmal für die Zeit der Jahrhundertwende (vom 19. zum 20. Jahrhundert) anerkannt.

Харківська державна наукова бібліотека імені В. Г. Короленка. Джерело фото: Суспільне Харьковская государственная научная библиотека имени В.Г. Короленко. Источник фото: Суспільне

Charkiver Staatliche Wissenschaftliche Korolenko-Bibliothek. Foto: Suspilne

„Im gesamten Gebäude ist ein erheblicher Teil der Fenster zerstört sowie fast der gesamte Lichtschacht über dem Atrium, der das Dach der Bibliothek zierte. Zahlreiche Druckwellen haben die Innentüren zerschlagen. Durch ständigen Beschuss begannen die Decken in den Arbeitsräumen abzubröckeln. Die Fassaden sind ebenfalls beschädigt. Das größte Problem ist, dass das Heizungssystem der Bibliothek zerstört ist“, so die Direktorin der Bibliothek Natalja Petrenko über die Schäden.

Auf einer speziellen Website des Kulturministeriums wird die Spendensammlung für den Wiederaufbau der Korolenko-Bibliothek fortgesetzt.

© Суспільне © Суспільне

© Suspilne

Vorschulische Bildungseinrichtungen

Ebenso wie die höheren Bildungseinrichtungen waren auch Kindergärten in Charkiv von Raketenangriffen und Luftschlägen der russischen Armee betroffen.

Auf dem folgenden Foto sind die Zerstörungen des Kindergartens Nr. 109 in Nordsaltivka zu sehen — das ist der Bezirk, der im Krieg am meisten zerstört wurde. Während der Besetzung des Gebiets Charkiv wurden Wohnviertel regelmäßig unter Beschuss genommen.

Ясла-садок №109 м. Харкова © ХПГ Ясли-садик №109 г. Харьков © ХПГ

Kinderkrippe und Kindergarten Nr. 109 in Charkiv. © KHPG

Wie bei den Schulen hat auch die Zerstörung von Kindergärten im Gebiet Charkiv mitunter schwerwiegende Folgen für die Entwicklung der Kinder, wenn die zerstörten Kindergärten die einzigen in der gesamten Ortschaft waren.

Дитячий садок у Слобожанському (Липецька громада Харківщини). © ХПГ Детский сад в Слобожанском (Липецкая община Харьковщины). © ХПГ

Kindergarten in Slovbozhansk (Gemeinde Lipezk im Gebiet Charkiv). © KHPG

In den letzten Jahren wurde in der Ukraine eine Reform der Verwaltung einschließlich der lokalen Selbstverwaltung durchgeführt. Die lokalen Behörden erhielten weitreichendere Kompetenzen. Die Bildung von Kindern ist für die Bevölkerung von Dörfern und Kleinstädten eine vorrangige Aufgabe. Daher haben sich die lokalen Behörden häufig zu Investitionen in die Rekonstruktion von Schulen und Kindergärten entschlossen. Zur gemeinsamen Finanzierung wurden staatliche Stiftungen und ausländische Geldgeber herangezogen. So waren viele Schulen im Gebiet Charkiv kurz vor Beginn des russischen Einmarschs instandgesetzt und renoviert worden.

Deshalb sind die Zerstörungen von Bildungseinrichtungen gerade in der Provinz besonders schmerzlich für die lokale Bevölkerung: Sie haben nicht mehr die Möglichkeit, ihre Kinder in eine Schule oder einen Kindergarten in der Nähe zu schicken, in die die Gemeinde in den letzten Jahren am meisten investiert hatte, um sie zu renovieren.

Schulen und andere Einrichtungen der Bildung und Wissenschaft sind nach dem humanitären Völkerrecht „geschützte“ Objekte. Ein gezielter Angriff auf solche Institutionen ist, sofern sie kein militärisches Ziel darstellen, ein Kriegsverbrechen.

Ergänzungen: Im Laufe der Recherchen richteten wir eine Anfrage an die Charkiver Gebietsverwaltung. Daraufhin wurden uns die folgenden offiziellen Daten zur Zerstörung von Bildungseinrichtungen übermittelt:

Angaben der Gebietsverwaltung Charkiv zum 24.5.2023

 

Zerstört

Beschädigt
Kindergärten

19

246

Schulen

45

290

Universitäten  

22

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