Kann man die zwangsweise Deportation ukrainischer Kinder in die Russische Föderation als Genozid betrachten?

Obwohl Genozid in erster Linie mit Massenmorden assoziiert wird, wurde die Überführung von Kindern aus einer Gruppe in eine andere nicht zufällig in die Definition des Genozid der UN-Konvention aufgenommen.
Mykola Komarovskyj30. März 2023UA DE EN ES FR IT RU

Депортація дітей та дорослих з Маріуполя. Фото: телеграм-канал Петра Андрющенка Deportation von Kindern und Erwachsenen aus Mariupol. Foto: Telegram-Kanal von Petro Andjuschtschenko Déportation d’adultes et d’enfants de Marioupol. Photo : chaîne Telegram de Petro Andriouchenko Депортация детей и взрослых из Мариуполя. Фото: телеграм-канал Петра Андрющенко

Deportation von Kindern und Erwachsenen aus Mariupol. Foto: Telegram-Kanal von Petro Andjuschtschenko

Am Montag, dem 13. März, kam es zu einem wichtigen Ereignis: Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) gab bekannt, dass er zwei Ermittlungsverfahren gegen Russland eingeleitet habe: aus Anlass der Entführung ukrainischer Kinder und wegen der gezielten Angriffe der Russischen Föderation auf Objekte der zivilen Infrastruktur der Ukraine. Am Freitag, dem 17. März, erließ der IStGH zwei Haftbefehle — gegen den russischen Präsidenten Vladimir Putin und gegen die Kinderrechtsbeauftragte der Russischen Föderation Marija Lvova-Belova, und zwar auf Grund des Verfahrens wegen der Deportation ukrainischer Kinder.

Noch im Herbst vergangenen Jahres wurde innerhalb der Charkiver Menschenrechtsgruppe eine spezielle Arbeitsgruppe ins Leben gerufen, die Beweise dafür zusammenstellen soll, dass in Mariupol ein Genozid stattgefunden hat. Ein besonderer Teil dieser Recherchen befasst sich mit der Zwangsdeportation ukrainischer Kinder aus der Stadt. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen dem IStGH vorgelegt werden, wo die zwangsweise Deportation von Kindern aus der gesamten Ukraine untersucht wird. Unserer Auffassung nach gibt es gewichtige Argumente dafür, dass es sich um einen Genozid am ukrainischen Volk handelt.

Zunächst verstößt das russische Vorgehen gegen die Vierte Genfer Konvention (über den Schutz von Zivilpersonen in Kriegszeiten). In Artikel 50 heißt es, dass der Besatzungsstaat „alle notwendigen Maßnahmen ergreifen“ soll, „um die Identifizierung der Kinder und die Eintragung ihrer Familienzugehörigkeit zu erleichtern. Keinesfalls darf sie ihren Personalstatus ändern noch sie in von ihr abhängige Formationen oder Organisationen einreihen.“

Allerdings weisen die Maßnahmen Russlands gegenüber ukrainischen Kindern auf ein weiteres Verbrechen hin, auf das schwerste Verbrechen im Völkerrecht — auf einen Genozid.

Die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 definiert fünf einzelne (selbstständige) Handlungen als Genozid, die in der Absicht begangen werden, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Eine davon ist „die gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“ (Art. II, 5).

Eine inhaltlich gleiche Bestimmung ist in Artikel 6 (e) des Römischen Statuts des IStGH enthalten. Hiernach könnte die russische politische Führung tatsächlich verurteilt werden.

Obwohl der Genozid in erster Linie mit Massenmorden (der physischen Vernichtung) assoziiert wird, wurde die Überführung von Kindern nicht zufällig in diese Akte aufgenommen. Die Autoren der Konvention, die diesen Punkt hier verankert haben, gingen davon aus, dass eine Gruppe vernichtet werden kann, selbst wenn einzelne Mitglieder am Leben bleiben, ohne physisch Schaden zu erleiden. Die zwangsweise Überführung von Kindern in eine andere Gruppe, wo ihnen eine andere Bildung als in ihrer eigenen Gruppe sowie neue Sitten, eine neue Religion und wahrscheinlich auch eine neue Sprache vermittelt werden, käme in der Praxis der Vernichtung der Gruppe gleich. Denn deren Zukunft hängt von der Generation der Kinder ab, die zwangsweise deportiert wurden.

Im Laufe eines Kriegsjahres konnten die Russen ein bestimmtes System der zwangsweisen Überführung ukrainischer Kinder etablieren. Vereinfacht lässt sich ihr Verfahren wie folgt beschreiben:

  1. Überführung ukrainischer Kinder aus besetzten Gebieten nach Russland.
  2. Unterbringung der Kinder an vorübergehenden Aufenthaltsorten (das können Sanatorien sein, Kinderheime, Kinderlager).
  3. Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft an ukrainische Kinder in einem vereinfachten Verfahren.
  4. Adoption durch russische Familien.

Die genaue Zahl der deportierten ukrainischen Kinder festzustellen ist bisher ziemlich schwierig, weil aus verständlichen Gründen mit vielen jeglicher Kontakt abgebrochen ist. Zur Zeit der Publikation dieses Artikels findet sich auf dem ukrainischen Portal „Kinder des Krieges“ die Information, dass mindestens 16.000 ukrainische Kinder deportiert worden seien. Allerdings sind das nur die Kinder, über die man Informationen ausfindig machen konnte. Die tatsächliche Zahl ist unserer Meinung nach wesentlich höher.

Manchmal werden die Kinder von ihren Eltern während der so genannten Filtrationsverfahren getrennt. Als Beispiel sei die Geschichte des ukrainischen Jugendlichen Oleksandr Radtschuk aus Mariupol erwähnt. Im März 2022 brachten russische Soldaten den zwölfjährigen Oleksandr und seine Mutter Snizhana aus Mariupol heraus. Bei der Filtration wurde die Mutter festgenommen und in ein so genanntes Filtrationslager gebracht. Damals sah Oleksandr seine Mutter zum letzten Mal. Die Russen erlaubten dem Kind nicht, Verwandte anzurufen, und sagten, eine neue Familie in Russland werde Oleksandr adoptieren. Wie durch ein Wunder gelang es dem Jungen jedoch, seine Großmutter zu kontaktieren und der Deportation zu entgehen. Seine Großmutter berichtet, dass die russischen Mitarbeiter der Sozialdienste sie von ihrer Absicht, den Enkel zurückzuholen, abbringen wollten. Sie behaupteten, das würde schwierig, man müsste dafür zahlreiche Dokumente vorweisen und bürokratische Prozeduren durchlaufen.

Олександр Радчук і його бабуся Людмила Сірик. Фото: Суспільне Чернігів Oleksandr Radtschuk und seine Großmutter Ljudmila Siryk. Foto: Suspilne Tschernihiv Oleksandr Radtchouk et sa grand-mère Liudmila Siryk. Photo : Suspilne Tchernihiv Александр Радчук и его бабушка Людмила Сирык. Фото: Суспільне Чернігів

Oleksandr Radtschuk und seine Großmutter Ljudmila Siryk. Foto: Suspilne Tschernihiv

Kürzlich veröffentlichte die Yale-Schule für öffentliche Gesundheit (Yale School of Public Health) eine umfangreiche Untersuchung über die vorübergehenden Aufenthaltsstätten für Kinder. Demnach besteht in der Russischen Föderation 43 Kinderlager, in denen sich ukrainische Kinder befinden. In 32 dieser Lager werden die Kinder in speziellen Klassen einer Umerziehung unterzogen. Dazu gehört der Unterricht in der russischen Version von Geschichte, Kultur und Gesellschaft. In einigen Fällen kommt auch noch Wehrerziehung dazu. Es steht außer Frage, dass diese Maßnahmen dazu dienen sollen, die ukrainischen Kinder in die russische Gesellschaft zu integrieren.

Wie bereits erwähnt, ist ein wichtiges Moment die vereinfachte Erteilung der russischen Staatsbürgerschaft an ukrainische Kinder. Am 30. Mai 2022 verabschiedete der russische Präsident Putin den Erlass Nr. 330, demzufolge Waisenkinder, Kinder ohne elterliche Fürsorge und geschäftsunfähige Personen, die Bürger der Ukraine oder der so genannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk sind, in vereinfachten Verfahren die russische Staatsbürgerschaft erhalten können. Mit der Unterzeichnung dieses Erlasses hat der russische Präsident auf höchster politischer Ebene offiziell die Politik der zwangsweisen Überführung ukrainischer Kinder nach Russland bestätigt.

Der letzte Schritt ist die Adoption ukrainischer Kinder durch russische Familien. Bezeichnend ist hier das Verhalten der Kinderrechtsbeauftragten der Russischen Föderation Maria Lvova-Belova, die den Jugendlichen Filipp aus Mariupol adoptiert hat. In ihrem Telegram-Kanal verkündete sie am 21. September 2022 offen, dass ihr Adoptivsohn Filipp die russische Staatsbürgerschaft bekommen habe. Die Beauftragte schrieb, dass „dieses Ereignis für meinen Adoptivsohn aus Mariupol ein Beweis dafür ist, dass er jetzt ‚bei uns‘ ist, in unserem Land, unserer Gesellschaft, unter seinen Altersgenossen.“ Aus mehreren Quellen geht hervor, dass Familien, die Kinder aus der Ukraine adoptieren wollen, zusätzlich „ideologische Vorbereitungskurse“ absolvieren müssen.

Die Adoption des ukrainischen Jungen durch die Kinderrechtsbeauftragte ist eindeutig als „Werbung“ oder sogar als offene Propaganda in der russischen Bevölkerung zu verstehen. Darauf hat auch das Institut zur Erforschung des Krieges (ISW) hingewiesen. In seinem Bericht vom 16. November 2022 heißt es, dass russische Quellen und Vertrauenspersonen offen für die Zwangsadoption ukrainischer Kinder in russischen Familien werben. Bekannte russische Militärblogger starteten im November 2022 eine mehrteilige Dokumentarserie über ukrainische Kinder aus dem Donbas, die von russischen Familien adoptiert wurden. Dort heißt es, russische Beamte hätten allein im Jahr 2022 über 150.000 Kinder aus dem Donbas evakuiert.

Daher ist das Vorgehen der Russischen Föderation keineswegs als zufällig oder chaotisch zu betrachten. Es handelt sich um ein systematisch eingeführtes und funktionierendes Verfahren. Es gibt also schwerwiegende Gründe für die Annahme, dass dieses Vorgehen die teilweise oder vollständige Vernichtung der ukrainischen nationalen Gruppe zum Ziel hat. Deshalb ist es als Genozid zu qualifizieren.

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