Während des russischen Angriffs auf Mariupol ist fast keine Schule in der Stadt unversehrt geblieben. Eine Untersuchung der Menschenrechtsgruppe Charkiv (KHPG)

Wir haben zerstörte Bildungseinrichtungen in Mariupol untersucht und festgestellt, dass mindestens 83% der Schulen in irgendeiner Weise beschädigt wurden. Von direkten Angriffen auf Schulen und Kindergärten berichten auch Einwohner Mariupols selbst.
Mykola Komarovskij, Denys Volocha10. November 2022UA DE EN ES FR IT RU

Світлину для ілюстрації взято з телеграм-каналу mariupolnow Foto zur Illustration aus dem Telegram-Kanal mariupolnow La photo d’illustration provient de la chaîne Telegram mariupolnow Фотография для иллюстрации взята из телеграм-канала mariupolnow

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Schulen und Universitäten sind im Krieg Russlands gegen die Ukraine häufige Angriffsziele. Wenn einzelne Stadtbezirke mit Artilleriefeuer und Bomben attackiert werden, trifft das auch Bildungseinrichtungen, sie werden jedoch ebenso gezielt von Marschflugkörpern und ballistischen Raketen ins Visier genommen.

Der Angriff der russischen Armee auf Mariupol im Frühjahr 2022 führte zu besonders schweren Zerstörungen. Augenzeugen, die die Charkiver Menschenrechtsgruppe (KHPG) befragt hat, berichteten von der russischen Taktik, „quadratweise“ vorzurücken: zuerst wurde ein Stadtviertel gezielt mit Artillerie, Panzern und Marine unter Feuer genommen, danach folgte die Infanterie.

Nach Auskunft des Referats für Bildung im Stadtrat von Mariupol gab es 2021 in der Stadt 63 Schulen. In der Datenbank von T4P über Kriegsverbrechen werden 52 Vorfälle aufgeführt, in denen unmittelbar Zerstörungen schulischer Einrichtungen verzeichnet sind. Somit sind maximal 17% der Schulen in Mariupol unversehrt geblieben. Zu den meisten dieser 11 möglicherweise unbeschädigten Schulen fehlen bisher einfach belastbare Informationen, deshalb kann die Zahl der beschädigten Einrichtungen auch höher sein.

Visualisierung: Sergej Prytkin/KHPG, auf der Grundlage einer Karte von Mapbox Visuel : Serhiy Prytkin/GDKh, à partir d’une carte Mapbox Визуализация: Сергей Прыткин/ХПГ, на основе карты Mapbox

Visualisierung: Sergej Prytkin/KHPG, auf der Grundlage einer Karte von Mapbox

Das folgende Foto zeigt die Kollegschule Nr. 1 im Zentrum von Mariupol. Sie war eine der ersten Bildungseinrichtungen in der Stadt. Offiziell wurde sie 1876 eröffnet. Wie man sehen kann, hat der Bau kein Dach mehr, und ein Teil der Mauer ist eingestürzt. Deshalb wird dieses Gebäude, das zwei Weltkriege überstanden hat, wohl kaum je mehr Schüler aufnehmen können.

Світлина з телеграм-каналу mariupolnow Foto vom Telegram-Kanal mariupolnow Photo issue de la chaîne Telegram mariupolnow Фотография из телеграм-канала mariupolnow

Foto vom Telegram-Kanal mariupolnow

In einigen Fällen wurden Schulen dem Erdboden gleichgemacht. Auf dem nächsten Foto ist zu sehen, was von der Privatschule „Privileg“ übriggeblieben ist.

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Die Besatzungsadministration von Mariupol versucht, einzelne Bildungseinrichtungen wiederaufzubauen. Eine davon ist die Schule Nr. 65 am rechten Ufer von Mariupol. Nach Auskunft von Petro Andrjuschtschenko, dem Berater des Bürgermeisters, wurden „neun Klassen mit je 35-45 Kindern“ für den Unterricht nach dem russischen Lehrplan zusammengestellt.

„Mahlzeiten für die Kinder gibt es nicht. Strom liefert ein Generator, deshalb muss der Unterricht praktisch ohne jede digitale Technik auskommen. Die Absolventen sollen Diplome der ‚Volksrepublik Donezk‘ erhalten und danach ein Studium an russischen Hochschulen beginnen“, so Andrjuschtschenko. Er ergänzt, dass die Eltern der Schüler gezwungen würden, „den Müll wegzuräumen, die Fenster mit Folie abzudecken und den Anschein von Ordnung zu erwecken.“

На першому фото можна побачити, як виглядала будівля школи №65 до початку “відновлення”. Зокрема, у третій поверх влучив снаряд. Фото з телеграм-каналу mariupolnow Auf dem ersten Foto ist zu sehen, wie die Schule Nr. 65 vor Beginn des Wiederaufbaus aussah. Das zweite Stockwerk war von einer Granate getroffen worden. Foto aus dem Telegram-Kanal mariupolnow La première photo montre le bâtiment de l’école N°65 avant le début de la restauration. Le deuxième étage a été touché par un obus. Photo issue de la chaîne Telegram mariupolnow На первом фото можно увидеть, как выглядело здание школы №65 до начала “восстановления”. В частности, в третий этаж попал снаряд. Фото из телеграм-канала mariupolnow

Auf dem ersten Foto ist zu sehen, wie die Schule Nr. 65 vor Beginn des Wiederaufbaus aussah. Das zweite Stockwerk war von einer Granate getroffen worden. Foto aus dem Telegram-Kanal mariupolnow

Neben dieser Schule haben die Besatzer eine Lenin-Büste aufgestellt, der in der abwegigen Vorstellung Putins angeblich die „Ukraine gegründet“ hat.

Anscheinend verkörpert das Lenin-Denkmal den ersten aus einer Reihe historischer Mythen, die man den Schülern in Mariupol beibringen will. Die frühere ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Ljudmyla Denisova berichtet, dass in ihr vorliegenden russischen Methodik-Handbüchern erläutert wird, wie den Kindern zu vermitteln ist, dass die Krim zu Russland gehöre sowie andere Behauptungen, mit denen die russische Propaganda und Putin selbst ständig manipulieren.

© Андрющенко Time © Andrjuschtschenko Time © Andriouchenko Time © Андрющенко Time

© Andrjuschtschenko Time

Die Schule Nr. 65 wurde mehrfach im russischen Fernsehen erwähnt, wo es hieß, dass bis zum 1. September drei Schulen und drei Kindergärten instandgesetzt worden seien. Zur Eröffnung der Schule sind der Leiter der „Volksrepublik Donezk“ sowie ein Vertreter der Partei „Einiges Russland“ gekommen.

Wenn man das Ausmaß der Zerstörungen bedenkt, liefert der Wiederaufbau einiger Schulen zwar ein paar schöne Fernsehbilder, wird sich jedoch nicht wesentlich auf die Bildungsprobleme in Mariupol auswirken.

Auf unserer Karte ist zu sehen, welche Schulen in Mariupol betroffen waren.

Auch höhere Bildungseinrichtungen in Mariupol wurden schwer beschädigt. Die Menschenrechtsgruppe Charkiv hat drei Fälle festgehalten, in denen Universitäten getroffen wurden.

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So sieht das Gebäude der Staatlichen Technischen Pryasowske-Universität aus. Vor dem Krieg haben dort jährlich Hunderte von Spezialisten ihr Studium abgeschlossen.

Стопкадр із відео на каналі “Работа в интернете” Standbild aus einem Video im Kanal „Arbeit im Internet“ Capture d’écran d’une vidéo de la chaîne « Travail sur internet » Стопкадр из видео на канале “Работа в интернете”

Standbild aus einem Video im Kanal „Arbeit im Internet“

Das Foto oben zeigt einen der neuen Blocks der medizinischen Fakultät Nr. 3 der Donezker Nationalen Medizinischen Universität. Sie war 2017 nach Mariupol und in zwei weitere Städte im Gebiet Donezk umgezogen.

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Beschädigt wurde auch die Staatliche Universität von Mariupol. Kürzlich wurde bekannt, dass die Besatzer den Lehrbetrieb dort wiederaufnehmen wollen und mit der Anwerbung von Studenten begonnen haben.

Zu vorschulischen Einrichtungen haben wir sieben Vorfälle verzeichnet.

Darüber, wie Schulen und Kindergärten zerstört wurden, wird viel berichtet, auch von Einwohnern Mariupols selbst, denen es gelang, die Stadt zu verlassen.

„Die Raschisten sagten, sie würden eine Asov-Stellung bombardieren. In Wirklichkeit waren die ersten ‚Militärobjekte‘, die sie ins Visier nahmen, eine Schule und ein achtstöckiges Gebäude, das sich unweit von einer Basis der Territorialverteidigung befand“, berichtete der Mariupoler Vitalij Bandruschkiv.

Dass gerade Schulen zu den ersten Angriffszielen gehörten, bestätigt auch Nicole Derekleeva aus Mariupol, die die Stadt mit ihrem jüngeren Bruder unter Beschuss verlassen hat:

„Als der russische Präsident seine Ansprache hielt, habe ich nicht geschlafen, daher habe ich davon aus den Nachrichten erfahren. In Sekundenschnelle verfärbte sich der Himmel vor meinen Augen in helles Orange. Dann folgte eine heftige Explosion. Wie später bekannt wurde, ist am Morgen eine Rakete in die Schule in der Nähe unseres Hauses eingeschlagen. Ich erinnere mich, dass ich erschrocken bin und mir Tränen in die Augen traten. Damals begriff ich, dass uns etwas Furchtbares bevorsteht. Aber ich konnte mir nicht ausmalen, wie schlimm es werden sollte.“

Vira Kamjanezka, die gezwungen war, russische „Filtrationslager“ zu passieren, erinnert sich, dass eine Schule zerstört wurde, in der sich zuvor Kinder aufgehalten hatten.

Andrij Potaenko, der Mariupol am 24. März verließ, wurde Zeuge, wie russische Panzer einen Kindergarten unter Beschuss nahmen.

„Er [der Panzer] fuhr hinter das Haus und fing an, einen Kindergarten zu beschießen. Dann fuhr er weg, irgendwohin, und von der anderen Seite näherte sich ein anderer Panzer, hielt unmittelbar neben unserem Haus und nahm direkt den Kindergarten unter Feuer. Unsere Männer, die damals noch in dem Haus lebten, fragten: „Was wollen die denn? In diesem Kindergarten ist schon seit Tagen niemand mehr“, sagt Potaenko.

Systematische Angriffe auf Bildungseinrichtungen gab es während des russischen Einmarschs nicht nur in Mariupol. Im Gebiet Charkiv wurden 252 solcher Angriffe verzeichnet. Daraus wird klar, dass die russische Armee Schulen, Universitäten und Kindergärten bewusst und gezielt angreift. Manchmal setzt sie dafür teure Langstreckenraketen ein.

Die Russen versuchen, solche Angriffe damit zu erklären, dass in Schul- und Universitätsgebäuden die ukrainische Armee stationiert sei. In Einzelfällen haben ukrainische Streitkräfte tatsächlich solche Gebäude für die Versorgung ihrer Stäbe oder für andere Zwecke genutzt. Aber das rechtfertigt in keinem Fall die gezielten Angriffe auf alle Bildungseinrichtungen durch die russische Armee.

Solche Angriffe können nicht mit einer legitimen militärischen Notwendigkeit erklärt werden. Offensichtlich ist der ukrainischen Armee ja inzwischen die Taktik der Russen bekannt, Gebäude von Bildungseinrichtungen zu zerstören. Deshalb ist es wenig wahrscheinlich, dass Militärs in großem Umfang in Schulen untergebracht werden, wohl wissend, dass der Gegner sie in erster Linie angreifen wird.

Zudem haben Vertreter russischer militärischer Einheiten ihre Stäbe selbst in Zivilobjekten untergebracht. Jelena Jachontova, eine Einwohnerin von Mariupol, erinnert sich, dass in dem Kindergarten, in dem sie als Erzieherin gearbeitet hatte, im März 2022 Einheiten Kadyrovs stationiert waren.

Gezielte oder ungelenkte Attacken auf Zivilobjekte, insbesondere auf Bildungseinrichtungen, stellen nach dem Völkerrecht ein Kriegsverbrechen dar. Seit Beginn des russischen Einmarschs dokumentiert die Initiative T4P derartige Vorfälle und teilt ihnen nach dem Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs eine vorläufige Einstufung zu.

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