Russland braucht fiktive Referenden auf besetztem Territorium, um Ukrainer gewaltsam als Kanonenfutter mobilisieren zu können

Russland plant Pseudo-Referenden in den besetzten Gebieten Donezk, Luhansk, Cherson und Zaporizhzhia für die Feiertage. Es will diese Gebiete offenbar umgehend zum „Teil der Russischen Föderation“ erklären.
Halya Coynash27. Oktober 2022UA DE EN ES FR IT RU

“Мобілізація” в окупованому Донбасі. Скріншот із YouTube „Mobilisierung“ im besetzten Donbas. Screenshot von YouTube ’Mobilization’ in occupied Donbas. Screenshot from YouTube Movilización en el Donbas ocupado. Captura de pantalla de YouTube « Mobilisation » dans le Donbass occupé. Capture d’écran de YouTube “Мобилизация” в оккупированном Донбассе. Скриншот с YouTube

„Mobilisierung“ im besetzten Donbas. Screenshot von YouTube

Ivan Fjodorov, der Bürgermeister von Melitopol, äußerte die Prognose, dass die Russen in den besetzten Teilen der Gebiete Zaporizhzhia und Cherson bald eine „ausgesprochene Menschenjagd“ einleiten würden. Er rät allen Einwohnern von Melitopol, die im Einberufungsalter sind, das Gebiet schnellstens zu verlassen. Wer sich weigert, in den Tod zu gehen, würde es mit tschetschenischen Streitkräften zu tun bekommen, die sich einem Rückzug entgegenstellen. Deshalb sei es besser, so schnell wie möglich das Weite zu suchen.

Obwohl Fjodorov konkret auf Putins Erlass zur „Teil“-Mobilisierung verwies, war dies nur die logische Fortführung einer anderen bedrohlichen Entscheidung. Russland will auf den besetzten Teilen der Gebiete Donezk, Luhansk, Cherson und Zaporizhzhia an den Feiertagen Pseudoreferenden durchführen, in der eindeutigen Absicht, diese Gebiete umgehend zu einem „Teil der Russischen Föderation“ zu erklären. Dieser Schritt wurde von der OSZE und allen demokratischen Ländern zu Recht abgelehnt, juristisch habe er keine Bedeutung. Er wird aber zweifellos nicht nur für massive Drohungen für den Fall von „Angriffen auf russisches Territorium“ genutzt werden, sondern auch als Vorwand, um eine große Zahl von Ukrainern gefangen zu nehmen und in Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine in den Tod zu schicken.

Dazu gehen bereits Mitteilungen aus Mariupol und anderen Teilen der Gebiete Donezk und Luhansk ein, die zu Beginn des großangelegten Einmarschs Russlands in die Ukraine besetzt wurden. Petr Andrjuschtschenko, Berater des Bürgermeisters von Mariupol, ließ am 17. September wissen, dass zwei junge Männer der Jahrgänge 2003 und 2004 im Krankenhaus gestorben seien. Sie hatten Verbrennungen von über 80% ihres Körpers erlitten. „Beide sind in einem russischen Panzer verbrannt. Nach der Besetzung waren sie in die Armee der Invasoren als ‚Brandinspektoren‘ eingezogen worden, im Rahmen einer geheimen Mobilisierung.“ Andjuschtschenko empfiehlt dasselbe wie der Bürgermeister von Melitopol. „Sie können weiterhin die geheime Mobilisierung leugnen und in russischen Panzern verbrennen. Oder aber auf die Stimme der Vernunft hören und sich an einen sicheren Ort begeben.“

Aber für eine Evakuierung aus Mariupol könnte es schon zu spät sein. Am 18. September teilte Andrjuschtschenko mit, dass in Manhusch bereits gewaltsam mobilisiert würde. Er äußerte die Vermutung, dass in Mariupol damit Anfang Oktober begonnen würde. Das war jedoch noch vor Bekanntgabe der Pseudoreferenden und Putins „Teilmobilisierung“.

Andrjuschtschenko zweifelt nicht daran, dass die so genannten Referenden auch in Mariupol abgehalten werden. Etliche Unterschriften werden nach dem in Russland bewährten Muster gesammelt: Wenn man nach den russischen Bombardements der Stadt etwas instand setzen lassen will, dann solle man das vorliegende Formular unterschreiben. Jedoch geht er davon aus, dass der „Großteil des ‚Referendums‘ im Büro der (in Russland herrschenden) Partei Einiges Russland durchgeführt wird. Die Partei wird alle elektronischen Daten zu allen Einwohnern von Mariupol zur Verfügung haben, die auch nur ein einziges Mal humanitäre Hilfe erhalten haben — somit über alle Einwohner der Stadt, die Russland während der Belagerung systematisch zerstört hat. Mit dieser Datenbank braucht man nicht einmal so zu tun, als suchte man Wohnhäuser auf, um Unterschriften zu sammeln. Das lässt sich im Büro von ‚Einiges Russland‘ erledigen.“

Das fiktive Resultat solcher Pseudo-Referenden ist jedenfalls schon im Voraus bekannt. Andrjuschtschenko schreibt, dass nicht weniger als 80% für den Anschluss an Russland stimmen werden, aber nicht mehr als 87%. „Warum, ist unbekannt, aber das ist eine Tatsache.“

In den Gebieten, die seit 2014 unter russischer Kontrolle sind (die so genannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk) wurden von Anfang an Männer einberufen. Gesundheitliche Probleme wurden nicht berücksichtigt, eine reguläre Ausbildung fand nicht statt. Russland setzte die Männer als Kanonenfutter ein, Verluste mussten hier nicht verzeichnet und den Familien keine Kompensationszahlungen geleistet werden.

Am 14. Juni traten die Frauen einiger Männer aus der so genannten Volksrepublik Donezk mit einem Aufruf an die Öffentlichkeit. Sie erklärten, sie hätten keinerlei Kontakt zu ihren Männern. Seit ihrer Mobilisierung, also seit sie am 24. Februar 2022 von ihren Arbeitsplätzen weggeholt worden waren, hätten sie nichts von ihnen gehört. Seit dieser Zeit hatten sich die Frauen erfolglos bemüht, in Erfahrung zu bringen, wo sie sich befinden und ob sie überhaupt noch lebten. Die Vertreterin dieser Frauen sagte, etwa die Hälfte dieser Männer sei in schlechter gesundheitlicher Verfassung gewesen. Eine medizinische Kommission habe es nicht gegeben. Erst in der zweiten Aprilhälfte, zwei Monate nachdem die Männer weggebracht worden waren, räumten die so genannten Republiken offen ein, dass für die Personen, die mobilisiert werden sollten, medizinische Untersuchungen abgeschafft worden waren. Es ist jedoch klar, dass sich niemand darum gekümmert hat, ob die Menschen, die gewaltsam von der Arbeit weggebracht und in einzelnen Fällen auch einfach von der Straße weggeholt wurden, überhaupt kampftauglich waren.

Serhij Hajdaj, der Leiter der Gebietsverwaltung Luhansk, berichtete am 13. August von „neuen Methoden der gewaltsamen Mobilisierung“. So wurden etwa ältere Personen in Wohnblocks mit irreführenden Aussagen dazu gebracht, dass sie über Männer in wehrfähigem Alter Auskunft gaben. Dafür versprach man ihnen Nahrungsmittel oder geringe finanzielle Vergütungen. Außerdem standen Personen an Hauseingängen Wache und machten Jagd auf Männer in entsprechendem Alter. Fast alle, die an der gewaltsamen Mobilisierung mitwirkten, trugen laut Hajdaj Sturmhauben, wenn sie in der Stadt unterwegs waren, um nicht etwa von Nachbarn oder Freunden erkannt zu werden, die sie fangen wollten.

Offenbar kamen nicht genügend Männer für die Front zusammen. Am 21. August teilte Hajdaj mit, dass in einigen Kleinstädten im Gebiet Luhansk 60.000 Rubel für eine Auskunft über den Aufenthalt von Männern geboten wurden. Es seien fast keine Männer mehr dort verblieben, aber die Pseudorepubliken müssten bei der gewaltsamen Mobilisierung einen „Quotenplan“ erfüllen.

„Selbst die Russen wollen nicht in den offenen Kampf ziehen, so dass man weiterhin Männer aus den besetzten Gebieten sucht, um sie in die Hölle zu schicken“, so Hajdaj.

Erst am 21. September, nach der von Putin verkündeten Teilmobilisierung, gingen Russen in großer Zahl auf die Straße und protestierten. Das Kalkül des Kremls war anscheinend zynisch, aber exakt. Ukrainer aus den besetzten Gebieten konnte man mit Gewalt an die Front bringen und Männer aus den armen (und „nichteuropäischen“) Republiken der Russischen Föderation oder verurteilte Straftäter mit finanziellen Kompensationen verführen. Jetzt kam es zwar tatsächlich zu Protesten, die jedoch schnell durch Abschreckungsmaßnehmen und Festnahmen mundtot gemacht wurden.

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