Angriffe auf Objekte humanitärer Hilfe und auf Evakuierungskolonnen

Die Russen behindern nicht nur die Evakuierung und die Lieferung von Hilfsgütern, sondern beschlagnahmen sowohl Güter als auch Evakuierungsbusse.
Maxim Revjankin12. Oktober 2022UA DE EN ES FR IT RU

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Im Zeitraum vom 24. Februar bis zum 29. August 2022 haben die Mitarbeiter der Initiative T4P etliche Fälle dokumentiert, in denen es mutmaßlich zu Verletzungen des humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte und Grundfreiheiten gekommen ist: Angriffe auf Objekte humanitärer Hilfe, auf Evakuierungskolonnen, die Behinderung von Hilfslieferungen und der Flucht von Zivilpersonen aus Regionen, in denen Gefahr für Leib und Leben besteht. In diesen Fällen gibt es Anzeichen für folgende Kriegsverbrechen:

  • Angriff auf ein Lager mit Hilfsgütern, auf einen humanitären Konvoi, eine humanitäre Hilfsmission oder einen Korridor (Artikel 8, Abs. 2 b, III des Römischen Statuts)
  • Behinderung humanitärer Hilfsmissionen bei der Lieferung von Wasser und Lebensmitteln, die Vernichtung von Lebensmittelvorräten und Trinkwasser (Artikel 8, Abs. 2 b, XXV des Römischen Statuts)

Insgesamt hat die Initiative T4P 42 Vorfälle dokumentiert, von denen 29 Anzeichen von Kriegsverbrechen aufweisen, die mit der Sicherstellung des humanitären Bedarfs von Zivilpersonen und der Unterstützung beim Verlassen gefährlicher Regionen sowie solchen mit einer problematischen humanitären Situation zusammenhängen. Es wurden 14 Angriffe auf Objekte humanitärer Hilfe und 8 auf Evakuierungskolonnen von Zivilisten verzeichnet, 4 Fälle, in denen Zivilisten am Verlassen gefährlicher Regionen gehindert wurden, dreimal wurden Hilfsgüter und Transporte beschlagnahmt.

Infolge der festgestellten Ereignisse kamen 38 Zivilpersonen ums Leben, 64 wurden verletzt, 38 Objekte humanitärer Hilfe und Evakuierungstransporte wurden beschädigt, zerstört oder entwendet.

Die Menschen kamen meist zu Tode, wenn Evakuierungskolonnen beschossen wurden – 14 Personen, außerdem, wenn Standorte angegriffen wurden, an denen Hilfsgüter ausgegeben wurden – 12 Personen. Wir habensechs Fälle festgehalten, bei denen mehrere Zivilisten getötet wurden: beim Beschuss von Evakuierungskolonnen kamen drei Menschen ums Leben, zwei an Ausgabestellen für Hilfsgüter, die beschossen wurden, eine Person, als sie von russischen Soldaten daran gehindert wurde, eine gefährliche Region zu verlassen. Die höchste Opferzahl bei einem derartigen Vorfall beträgt acht.

Von Objekten humanitärer Hilfe und Evakuationstransporten wurden der Datenbank zufolge 12 Evakuierungsbusse, 11 Autos mit humanitärer Hilfe und 5 Ausgabestellen für Hilfsgüter, 5 Zivilfahrzeuge, mit denen Zivilisten versuchten, gefährliche Gegenden zu verlassen, 3 Waggons und 2 Lager mit Hilfsgütern beschädigt, zerstört oder beschlagnahmt/geplündert.

Die meisten dieser Vorfälle wurde in den Gebieten Charkiv und Zaporizhzhia verzeichnet, jeweils 8, im Gebiet Donezk waren es 5, 4 im Gebiet Luhansk, 3 im Gebiet Tschernihiv und 1 im Gebiet Cherson.

Einzelne dokumentierte Vorfälle

Der Beschuss einer Ausgabestelle für Hilfsgüter in Charkiv

Am 24. März 2022 gegen 13 Uhr beschossen russische Truppen das Büro der Neuen Post in der Akademiemitglied-Pavlov-Straße in Charkiv, das als Ausgabestelle für Hilfsgüter diente, mit „Uragan“-Raketen mit Streumunition.

Die Geschosse trafen Menschen, die in einer Schlange für Hilfsgüter standen. Acht Personen wurden getötet, 15 verwundet.

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Beschlagnahme eines humanitären Konvois bei der Ausfahrt aus Charkiv

Am 20. März 2022 beschlagnahmten russische Truppen einen humanitären Konvoi auf der Zufahrt zu Charkiv. Sieben Personen wurden als Geiseln genommen, sechs Fahrer und ein Arzt. Am 21. März 2022 kehrten alle Gefangenen auf ukrainisch kontrolliertes Gebiet zurück.

Beschuss einer Evakuierungskolonne in Borova

Am 14. April 2022 beschossen russische Truppen Evakuierungsbusse mit Zivilisten in der Siedlung Borova im Bezirk Isjum, Gebiet Charkiv. Sieben Personen wurden getötet, weitere 27 verletzt.

Фото: Харківська обласна прокуратура Foto: Gebietsstaatsanwaltschaft Charkiv Foto: Fiscalía Regional de Kharkiv Photo : Parquet régional de Kharkiv Фото: Харьковская областная прокуратура

Foto: Gebietsstaatsanwaltschaft Charkiv

Beschuss einer Autokolonne mit Hilfsgütern in Jenkiv

Am 30. März 2022 beschossen russische Truppen in Jenkiv, Gebiet Tschernihiv, eine Kolonne mit 5 Autos von Freiwilligen, die Hilfsgüter transportierten. Zwei Minen explodierten neben den Autos, wo sich Menschen aufhielten. Drei Freiwillige kamen ums Leben, vier wurden verletzt.

Згорілі авто. Фото: Суспільне Чернігів Ausgebrannte Fahrzeuge. Foto: Suspilne Tschernihiv Vehículos carbonizados. Foto: Suspilne Chernigiv Voitures brûlées. Photo : Souspilne Tchernihiv Сгоревшие автомобили. Фото: Суспільне Чернігів

Ausgebrannte Fahrzeuge. Foto: Suspilne Tschernihiv

Besondere Aufmerksamkeit verdient die Tatsache, dass Zivilpersonen systematisch daran gehindert werden, Regionen zu verlassen, die gefährdet sind oder in denen eine schwierige humanitäre Situation besteht, und dass Hilfsgüter und Transporte beschlagnahmt werden. In Ortschaften, die unmittelbar von Kampfhandlungen betroffen waren, fehlt es an elementaren Gütern sowie solchen des unmittelbaren Bedarfs wie Lebensmittel, Medikamente, Heizung, Gas, Wasser und Mobilverbindung. Die Situation wird noch dadurch verschärft, dass die russische Seite nicht bereit ist, über die Öffnung von Evakuierungskorridoren in ukrainisch kontrolliertes Gebiet, von Korridoren für ukrainische Freiwillige und internationale humanitäre Missionen für Hilfslieferungen zu verhandeln. Die wenigen Vereinbarungen, die getroffen wurden, werden sabotiert und Hilfsgüter beschlagnahmt.

Beschlagnahme von Hilfsgütern und von Evakuierungsbussen in Melitopol

Am 1. April 2022 beschlagnahmten russische Truppen im besetzten Melitopol, Gebiet Zaporizhzhia, 14 Tonnen von Hilfsgütern und Busse, mit denen Zivilisten evakuiert werden sollten.

Verbot, Einwohner von Berdjansk zu evakuieren

Am 3. Mai 2022 verbot russisches Militär den Evakuationsbussen, in Berdjansk Einwohner aufzunehmen, die sich evakuieren lassen wollten.

Blockierung eines humanitären Konvois und Konfiskation humanitärer Hilfe im Gebiet Zaporizhzhia

Am 15. Mai 2022 wurde ein humanitärer Konvoi auf der Straße Enerhodar-Tokmak-Polohy in Vasylivka gestoppt und längere Zeit von russischen Soldaten festgehalten. Nach erheblichen Verzögerungen ließ man ihn bis Enerhodar fahren, aber nicht mehr weiter in Richtung Tokmak und Polohy. Der Konvoi wurde gezwungen, kehrtzumachen und zurückzufahren. Bei der Einfahrt in den Ort Kamjanske war die Autobrücke über den Fluss durch russischen Beschuss zerstört worden, was jede Fortbewegung unmöglich machte. An jedem Kontrollposten beschlagnahmten russische Soldaten unter Gewaltanwendung Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel.

Behinderung von Zivilisten beim Verlassen besetzter Gebiete am Kontrollposten Vasylivka

Im August behinderten russische Militärs am Kontrollposten in Vasylivka gezielt Zivilfahrzeuge, die ukrainisch kontrollierte Gebiete erreichen wollten. Die Menschen waren gezwungen, mehrere Tage in der Hitze zu stehen, ohne Essen und ohne die Möglichkeit, in ein Krankenhaus zu kommen oder Erste Hilfe zu erhalten, was zum Tod von zehn Personen führte. An manchen Tagen standen 1.200 Autos in der Schlange.

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Schlussfolgerungen

Russische Militärs behindern systematisch die Lieferung von Hilfsgütern, die Versuche der Ukraine, die Evakuierung von Menschen zentral zu organisieren sowie Versuche von Zivilisten, selbstständig gefährliche Regionen sowie solche mit einer problematischen humanitären Situation zu verlassen. Zugleich werden humanitäre Hilfsgüter und Evakuierungsfahrzeuge beschlagnahmt. Der systematische Charakter dieses Vorgehens in besetzten und frontnahen Gebieten kann ein Hinweis sein, dass die Führung grundsätzlich solche Maßnahmen angeordnet hat. Diese Aktionen verstoßen nicht nur gegen das humanitäre Völkerrecht, sondern auch gegen die Menschenrechte und Grundfreiheiten, sie verschlimmern die ohnedies schwierige humanitäre Situation und erhöhen die Gefahr für Leben und Gesundheit von Zivilisten. Sie werden möglicherweise mit dem Ziel durchgeführt, die ortsansässige Bevölkerung der besetzten Territorien zu terrorisieren und einer zwangsweisen Russifizierung zu unterwerfen. Zudem greifen russische Truppen regelmäßig Objekte humanitärer Hilfe und Evakuierungsfahrzeuge an, was in frontnahen Ortschaften den Bezug von Hilfsgütern erschwert und Evakuierungsversuche aus besetzten Gebieten zu lebensgefährlichen Unternehmungen macht, bei der Zivilbevölkerung Angst und ein Gefühl der Ausweglosigkeit auslöst und zu erheblichen psychischen Leiden führt.

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