Solange es noch irgendeine Hoffnung gibt, muss man suchen

Der 30. August ist der Internationale Tag der Opfer gewaltsamen Verschwindenlassens. Wir sprechen mit der Leiterin des Aufnahmezentrums der Charkiver Menschenrechtsgruppe, Tamila Bespala, über ihre Arbeit – die Korrespondenz mit dem Ermittlungskomitee der Russischen Föderation und die Suche nach vermissten Ukrainern in russischen Telegram-Kanälen.
Iryna Skatschko05. September 2023UA DE EN ES FR IT RU

© Antonio Guillem / Shutterstock © Antonio Guillem / Shutterstock © Antonio Guillem / Shutterstock

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In der Datenbank, die die globale Menschenrechts-Initiative „Tribunal für Putin“ (T4P) zusammengestellt hat, sind zurzeit über 4.150 vermisste Zivilisten verzeichnet. 2.951 dieser Fälle sind als gewaltsames Verschwindenlassen zu qualifizieren, darunter sind 93 Kinder. Laut dem Büro des Ombudsmanns liegt die Gesamtzahl der Ukrainer, die infolge des russischen Aggressionskriegs gegen die Ukraine unter besonderen Umständen verschwunden sind oder illegal der Freiheit beraubt wurden, weit höher. Es sind 25.000 Personen — Soldaten und Zivilisten zusammengerechnet.

„Es gehen viele Anfragen ein“, so die Anwältin Tamila Bespala, die das Charkiver Aufnahmezentrum leitet. Juristen der Charkiver Menschenrechtsgruppe bearbeiten über 200 solcher Fälle. Nur ein paar Tage nach der Befreiung von Robotyne im Gebiet Zaporizhzhia haben wir von dort bereits vier Anfragen von Personen erhalten, die Angehörige vermissen. Deshalb will unsere Organisation eine Hotline einrichten, die Menschen kontaktieren können, die Verwandte suchen. Sie soll sieben Tage in der Woche arbeiten.

„Wenn jemand zu uns kommt, bei dem jemand verschwunden ist, egal, ob ein Zivilist oder ein Soldat, dann nehmen wir seine Erklärung an sowie alle Dokumente, die die Verwandtschaft bestätigen. Dann richten wir Anfragen an Instanzen in der Ukraine, den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk, auf der Krim und in der Russischen Föderation.

— Die Juristen der Charkiver Menschenrechtsgruppe wenden sich überallhin? Ist das eine prinzipielle Position?

Ja, wir recherchieren überall — auf der Krim, in den „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk und in Russland. Pro Person werden normalerweise etwa fünfzig Anfragen rausgeschickt. Davon gehen nur etwa zehn in die Ukraine. Wir wenden uns ans Ermittlungskomitee in Russland, an die Staatsanwaltschaft — die zivile wie die militärische —, an die Föderale Strafvollzugsbehörde, an die Menschenrechtsbeauftragte, ans Verteidigungsministerium, ans Russische Rote Kreuz. Und wir schreiben an die gleichen Stellen in den pseudostaatlichen Gebilden in den besetzten Gebieten. Wir schicken ihnen diese Anfragen wiederholt und direkt, mehrfach, um die Situation unter Kontrolle zu behalten. Es kommt vor, dass wir zu ein und derselben Person unterschiedliche Antworten erhalten. Zuerst heißt es „Wir haben diese Person nicht“, dann „Ja, sie ist da“, dann wieder „Nein“, und das kommt alles von derselben Institution.

Außerdem wenden wir uns an die UN-Arbeitsgruppe über willkürliche Festnahmen. Wenn nicht mehr als drei Monate vergangen sind seit dem Tag, an dem uns das Verschwinden einer Person bekannt wurde, wird ein beschleunigtes Vorgehen in Gang gesetzt: Der Fall wird innerhalb eines halben Jahres untersucht. Im gegenteiligen Fall erfolgt das innerhalb eines Jahres. Hierbei ist wichtig, dass wir die drei Monate nicht vom faktischen Verschwinden an rechnen, sondern ab dem Tag, an dem dies bekannt wurde. Wenn wir auch nur den geringsten Anhaltspunkt dafür haben, dass die gesuchte Person gefoltert wurde, wenden wir uns an den UN-Menschenrechtsausschuss.

— Woher können wir wissen, dass jemand gefoltert wurde, wenn er verschwunden ist?

Von Personen, die mit ihm zusammen irgendwo in besetztem Gebiet in Haft gehalten und dann freigelassen wurden. Oder von jenen, die im Rahmen eines Austauschs aus Russland zurückkehrten. Wir suchen immer nach Zeugen.

— Was kann die UNO tun, wenn sie erfährt, dass jemand verschwunden ist?

Wenn die UN-Arbeitsgruppe eine Vermisstenanzeige erhält, wendet sie sich mit Anfragen an die Antragsteller (also an uns) und an die russischen Behörden. Eine Kommunikation kommt in Gang. Russland antwortet. Kürzlich schickten sie eine Antwort von anderthalb Seiten! Übrigens beschuldigt uns die Russische Föderation in ihren Antworten der „Profitgier und einer russophoben Politik“. Denn wer eine Eingabe über Vermisste einreicht, hat ein Anrecht, von Russland Entschädigungszahlungen zu erhalten, sobald ein Verstoß gegen das humanitäre Recht festgestellt wird. Zum Beispiel bestand keinerlei Berechtigung, Zivilisten festzunehmen.

Die UN-Arbeitsgruppe hat das Mandat, den Angehörigen eines Vermissten zu helfen, sein Schicksal aufzuklären und seinen Aufenthaltsort festzustellen. Der genaue Ort, an dem er festgehalten wird, muss bekannt sein. Wenn es, was ziemlich häufig geschieht, in der Antwort heißt, dass er sich einfach irgendwo auf russischem Gebiet aufhält, dann ist das ein Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht. Wir müssen wissen, wo die Person jetzt festgehalten wird, in welcher konkreten Strafkolonie oder sonstigen Einrichtung. Nach unseren Anfragen befassen sich Vertreter des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (IKRK) mit dem Fall. Sie können die Kolonie aufsuchen und den Kriegsgefangenen Briefe übergeben, sie können dort anrufen. Wenn Vertreter einer internationalen Organisation jemanden bereits kontaktiert haben, wenn überhaupt aus Russland eine Information über seinen Aufenthaltsort eintrifft — dann erhöht das die Chancen, dass die Person überlebt.

Таміла Беспала, фото з фейсбук-сторінки Тамила Беспалая, фото со страницы в Фейсбуке

Tamila Bespala, Foto von der Facebook

— Das heißt, man muss nach jeder Person so intensiv wie möglich suchen?

Nach meiner Einschätzung — ja. Jene, die aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehren, sagen selbst, dass man alle Instanzen anschreiben und überall suchen soll. Früher habe ich schlaflose Nächte verbracht in der Befürchtung, dass wir mit diesen Anfragen bei allen internationalen und russischen Instanzen diesen Personen schaden könnten, dass sie danach vielleicht gefoltert würden oder dass sonst was mit ihren geschehen könnte. Jetzt ist mir klar, dass man wirklich so vorgehen tun muss.

— Hat es Sinn, dass sich Angehörige von Vermissten an die Medien wenden und ihre Suche öffentlich machen?

Wenn es um Soldaten geht, dann sicher nicht. Unsere Soldaten müssen in der Gefangenschaft zum Beispiel nicht ihren Rang angeben. Sie können sich für eine andere Person ausgeben. Und wenn man Informationen über so jemanden oder sein Foto mit allen Angaben publiziert, dann wird er wahrscheinlich dafür bestraft werden. Aber wenn es sich um Zivilisten handelt, ist eine Veröffentlichung notwendig. Es gilt zu verstehen, dass sich nach internationalem Recht überhaupt keine Zivilisten in russischer Gefangenschaft befinden dürften.

— Was soll man also tun, wenn ein Angehöriger verschwunden ist?

Man sollte sich an uns wenden. Was zu tun ist, hängt von vielen Faktoren ab. Handelt es sich um einen Soldaten oder einen Zivilisten? Wann ist er verschwunden und unter welchen Umständen? Unseren Messenger-Diensten sollte unbedingt ein Foto des Vermissten zugeleitet werden, seine Dokumente sowie die des anzeigenden Angehörigen, und bei Soldaten die Bescheinigungen des Truppenteils. Man kann einen Auszug aus dem Vermissten-Register übermitteln, wenn dieser bereits vorliegt. Wenn sich die Familie schon an irgendwelche Instanzen gewandt hat, sind die eingegangenen Antworten vorzuweisen. Gewöhnlich suchen die Angehörigen selbst nach Informationen über Vermisste im Internet, das sollte unseren Juristen auch mitgeteilt werden, ebenso die Namen und Kontaktdaten von Zeugen, die mitbekommen haben, wie die Person verschleppt oder gefangengenommen wurde.

— Recherchieren die Juristen der Charkiver Menschenrechtsgruppe auch im russischen Internet nach Informationen über Vermisste?

Jetzt haben wir jemanden, der sich speziell damit befasst. Früher haben wir selbst gesucht und haben die Angehörigen mit einbezogen. Bei Telegram gibt es Tausende entsprechender Kanäle, z. B. „Erkenne einen Chochol (Ukrainer) an seinem Schopf“. Wir haben viele in dieser Art gefunden. Wir haben die Fotos von Kriegsgefangenen durchgesehen, die von den Russen da vorgeführt werden. Das ist sehr schwer.

— Haben Familien von Vermissten ein Anrecht auf staatliche finanzielle Unterstützung?

Ja, aber dafür muss man einen bestimmten Satz an Dokumenten zusammenstellen. Unsere Juristen sind bereit, den Angehörigen von Gefangenen und Vermissten zu helfen, die ihnen zustehenden Zahlungen vom Staat zu bekommen. Außerdem gewährt die Charkiver Menschenrechtsgruppe solchen Familien finanzielle und sozialrechtliche Hilfe und berät sie in allen juristischen Fragen.

— Gibt es bei der Charkiver Menschenrechtsgruppe positive Geschichten — dass Vermisste gefunden wurden und sie zurückkehrten?

Ja, im letzten Jahr gab es einige solcher Fälle. Soldaten konnten zurückgebracht werden. Aber es ist leichter, einen Soldaten aus der Kriegsgefangenschaft herauszuholen als einen Zivilisten. Dafür gibt es ein geregeltes Verfahren. Leider gibt es das aber nicht für Zivilisten.

— Werden nach der Erfahrung der Charkiver Menschenrechtsgruppe Vermisste häufiger tot aufgefunden oder meist in Kriegsgefangenschaft?

Die Mehrheit von ihnen sind eindeutig in Gefangenschaft. Generell denke ich: Solange es keinen Leichnam oder kein medizinisches Gutachten gibt, muss man suchen. Jetzt ist Krieg, es gibt viel Verwirrung, bei uns wie auch auf russischer Seite. Es kommt sogar vor, dass eine Leiche gefunden wird und die Angehörigen sie beisetzen, und dann stellt sich heraus, dass ihr Angehöriger lebt und sich in Gefangenschaft befindet. Das haben wir in unserer Praxis schon mehrmals erlebt.

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