Mit schmutzigen Stiefeln am Sternenhimmel: Das größte Dekameterwellen-Radioteleskop der Welt wurde nahezu vollständig von Russen zerstört

Südöstlich von Charkiv, nahe bei Grakove, befindet sich das weltberühmte Radioteleskop UTR-2. Fast sieben Monate war es russisch besetzt. Ermittler der Charkiver Menschenrechtsgruppe haben die wissenschaftliche Einrichtung im letzten Jahr gegen Ende des Herbstes besucht.
Iryna Skatschko15. Mai 2023UA DE EN ES FR IT RU

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Die Jupiter-Radiostürme, Blitze auf dem Saturn, die Sonne, Pulsare, Supernova-Überreste, interstellare und interplanetare Räume, extragalaktische Objekte — das ist noch nicht die vollständige Liste dessen, was ukrainische Wissenschaftler in dem radioastronomischen S. J. Braude-Observatorium mithilfe der Teleskope UTR-2 (Ukrainisches T-förmiges Radioteleskop der 2. Modifikation) und GURT (Gigantisches Ukrainisches Radioteleskop) erforschten. Ersteres ist das größte Radioteleskop der Welt für Dekameter-Wellenlängen, physisch umfasst es ein Terrain von dreißig Fußballfeldern.

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Das Hauptgebäude, mit einem Mosaik verziert, war seinerzeit Arbeitsplatz sowie Ruheraum für Wissenschaftler vom Nationalen Institut für Radioastronomie, die hierherkamen, um Messungen vorzunehmen. Sie verfügten hier über Schlafräume, eine gemeinsame Küche plus Kantine sowie einen Duschraum mit warmem Wasser.

Russische Truppen besetzten Grakove bereits am 25. Februar 2022. Auf das Terrain des Observatoriums kamen sie am 2. April. Bis zu diesem Zeitpunkt waren hier noch Mitarbeiter anwesend, darunter der stellvertretende Direktor des Instituts für Radioastronomie, Akademiemitglied Oleksandr Konovalenko. Er sagt, er habe die heilige Stätte bewacht. Er ist seit ihrer Gründung dort beschäftigt.

Die Russen vertrieben alle und funktionierten die Perle nationaler und weltweiter Wissenschaft um zu einer Militärbasis und einem Munitionslager. Sie richteten Kampfpositionen ein und übersäten die Umgebung mit Minen und Sprengfallen, plünderten und zerstörten die einzigartige technische Ausrüstung.

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Offenbar fanden die Russen Gefallen an dem riesigen verzweigten Territorium des Observatoriums: Gib es doch hier unterirdische Kollektoren, einen eigenen Maschinenpark, einen Hangar, Lager— und Wohngebäude, Garagen. Jetzt ist von alldem kaum noch etwas übrig.

Das Hauptgebäude kann man allenfalls noch an dem Mosaik erkennen — darauf ist der naive Glaube der 80er Jahre an das Genie der Menschheit zu sehen, das zu den Sternen strebt, nicht aber zum Krieg. Kopernikus schaut finster von der Mauer auf die überall herumliegenden Granatkisten und Verpackungsreste russischer Essensrationen. Am Fenster unter seinem Portrait warnt eine Aufschrift vor Minen.

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…Wir gehen den Korridor entlang, der von Müll übersät ist, den die russischen Truppen hinterlassen haben, von zerschlagenen Ziegeln, herausgerissenen Platten, Teilen zerstörter Geräte. Wir gehen vorsichtig, die Decken sind stellenweise eingestürzt. Alle Wände sind mit dem „Z“ vollgemalt. Offenbar haben die Russen sich auf diese barbarische Art, so gut sie konnten, in dem ihnen unverständlichen „feindlichen Raum der Wissenschaft“ akklimatisiert.

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Im Zentralgebäude hatten sie wohl eine Art Lazarett. Im ersten Stock haben sie viele Medikamente und Operationskittel zurückgelassen, so berichtet die Mitarbeiterin Hanna Belenez. Oberhalb der Krankenbetten waren „Triangeln“ („Aufrichter“) angebracht, um das Aufsetzen zu erleichtern. Chirurgische Spritzen wurden gefunden, allerdings wies die Bettwäsche keinerlei Blutspuren auf… Unter den Medikamenten waren viele Beruhigungsmittel, Baldrian…

Mitarbeiter des Instituts verladen ins Auto, was im Zentralgebäude des Observatoriums heil geblieben war. Das war nicht viel, vor allem Mäuse von Computern.

„Sie haben vieles gestohlen: Maschinen, Werkbänke, Transformatoren, Traktoren. Computer sowieso. Überhaupt haben sie viel technische Ausrüstung ‚auseinandergenommen‘, sie kennen sich damit ja nicht aus. Überall lagen Systemeinheiten herum. Ich verstehe nicht, was sie da gesucht haben“, wundert sich Hanna.

Vor dem Gebäude liegen aufgehäufte Erdwälle. Offenbar haben die Russen hier ausgesprochene Kaponnieren, Grabenwehre errichtet.

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Auf dem Antennenfeld im Nebel sind Gestalten zu sehen — Radioastronomen prüfen, inwieweit die Ausrüstung unversehrt ist. Sie bewegen sich mit Vorsicht: die Minen sind noch nicht überall geräumt, an etlichen Stellen wehen rote Fähnchen. Das sind Markierungen, die die Minenräumer neben Minen und Geschossen, die nicht explodiert sind, aufgestellt haben. Mit den Antennen haben sie offenbar Glück gehabt, nur eine von vielen liegt herum. Ob sie allerdings funktionieren werden, ist eine andere Frage. Im Kabelsystem müssen die Minen noch geräumt werden.

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Jedenfalls haben die Antennen etwas abbekommen. Sie scheinen nur auf den ersten Blick intakt. „Wenn man näher herankommt, sieht man, dass Antennenstäbe zerbrochen sind“, erklärt der wissenschaftliche Mitarbeiter Igor Bubnov. „Hier waren viele Sprengfallen, die wurden noch im September gefunden. Die Minen sollten hier natürlich schnellstmöglich geräumt werden… Wir können ja nicht mit der Arbeit anfangen, solange das nicht geschehen ist…. Die Menschen kommen allerdings trotzdem und nehmen das Risiko in Kauf. Wir gehen hier im Gänsemarsch…“

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Von den Lagerräumen ist fast nichts mehr übrig. Die Besatzer haben hier Granaten aufbewahrt. Beim ukrainischen Gegenangriff ist ihr Munitionslager in die Luft geflogen. Jedoch ist nicht alles explodiert: Bis heute liegt noch einiges herum, was sich zwar entzündet hat, aber nicht explodiert ist. Solche Geschosse zu bewegen ist gefährlich. Möglicherweise muss man sie gleich hier, an Ort und Stelle, unschädlich machen.

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Der riesige Hangar, von Granateinschlägen durchlöchert, sieht im Innern jetzt aus wie ein Planetarium. Daneben ist ein Haufen zerstörter, ausgebrannter Autos.

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Am meisten Schaden genommen hat das Hauptgebäude. Da waren die wesentlichen Aufnahmegeräte, das Phasensystem und das Kontrollsystem, sagt Igor Bubnov. Damit ist es zu Ende. Die Aufnahmeapparatur war ganz neu und modern. Das Phasensystem dagegen stammte noch aus sowjetischen Zeiten. Jetzt ist es schwierig, auch nur Grundbestandteile dafür zu besorgen.

Akademiemitglied Konovalenko nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er von den Russen spricht.

„50 Jahre hat das Radioteleskop gearbeitet, und wegen der russischen Schweine kann es verloren gehen! Sie haben Charkiv von meinem Observatorium aus beschossen! Russische Astronomen wussten davon, sie wussten, dass ihre Truppen hier nicht hinkommen dürfen, und sie haben nichts unternommen, um das Observatorium zu retten! Niemand von ihnen hat auch nur ein Wort gesagt! Das erbärmliche Land Russland tötet nicht nur Menschen, es vernichtet auch die Wissenschaft. UTR-2 — das ist für die Wissenschaft ein immenser Verlust. Dieses Radioteleskop war in der Wissenschaft weltweit anerkannt. Dank ihm arbeiten wir mit zehn Ländern der Welt zusammen. Seine besondere Stärke ist, dass es kosmische Strahlung von sehr niedriger Frequenz von der Erdoberfläche aus beobachten kann. Weltweit hatte man schon verstanden, dass gerade dieses Spektrum die meisten Erkenntnisse bringt. Leider wird das Hauptgebäude wohl nicht zu retten sein. Das wurde komplett geplündert. Aber die wertvollsten Teile des Radioteleskops liegen unter der Erde. Sie sind wahrscheinlich erhalten geblieben. Unser Stolz, das Radioteleskop der neuen GURT-Generation mit einer dreimal so hohen Bandbreite an Frequenzen, ist fast vollständig erhalten. Von zwei digitalen Empfängern wurde nur einer gestohlen. Trotz Krieg und Zerstörung geht die Arbeit am Institut für Radioastronomie weiter. Unsere Wissenschaftler waren noch an der Herstellung eines weiteren Teleskops dieser Art beteiligt, in Frankreich. Es ist allerdings kleiner. Dort arbeiten jetzt zwei unserer Mitarbeiter. In der Ukraine sind noch vier weitere Radioteleskope in Betrieb — sie alle zusammen sind fast so viel wie das Radioteleskop bei Grakove. Außerdem haben wir viel geleistet, uns liegt eine enorme Menge an Daten vor, die wir weiter bearbeiten und dann veröffentlichen wollen. Aber unsere weltweite Vorrangstellung haben wir eingebüßt — das heißt, wir könnten sie einbüßen, wenn wir es nicht schaffen, UTR-2 wiederaufzubauen.

Wir verlassen das Territorium des zerstörten Observatoriums über eine von Militärfahrzeugen zerstörte Straße. Hinter uns im Nebel verbleiben die von Explosionen entstellten Umrisse von Gebäuden, wo noch bis vor kurzem Pläne für die Zukunft gemacht wurden. Die Russen haben das Territorium in mittelalterlichem Zustand zurückgelassen.

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Im April 2023 war das Terrain des weltweit größten Dekameterwellen-Radioteleskops immer noch vermint. Die Minenräumer befassen sich vorrangig mit Objekten der kritischen Infrastruktur und Ackerland. Aber trotz der Gefahr ist das Observatorium nicht unbesetzt. Mehrere technische Mitarbeiter, die in den Dörfern der Umgebung leben, begeben sich täglich dorthin, um es zu bewachen, in Ordnung zu halten und Reparaturarbeiten durchzuführen. Aus Charkiv kommen regelmäßig Wissenschaftler hierher.

Die Mitarbeiter bewegen sich sehr vorsichtig. „Wir kennen die Wege, die bereits von Minen geräumt wurden. Wir bewegen uns dort, wo die Minensucher schon durchgegangen sind“, sagt Akademiemitglied Oleksandr Konovalenko. „Die Fläche des Radioteleskops ist riesig, 140 Ha. Sie kann so schnell nicht von Minen geräumt werden. Und jetzt ist Gras gewachsen, da zu arbeiten ist gefährlich und schwierig, es ist überhaupt nichts zu sehen. Zahlreiche unterirdische Kollektoren sind immer noch vermint. Noch im September gelang es Soldaten, einen davon von Minen zu räumen. Aber leider werden diese Arbeiten jetzt nicht durchgeführt … Mit Mitteln der Akademie der Wissenschaften haben wir die Fenster und das Dach im zentralen Gebäudekomplex abgedichtet. Die Energieversorgung ist noch nicht wiederhergestellt. Aber wir haben Benzingeneratoren erstanden. Außerdem wollen wir Solarstationen erwerben.“

Die Wiederherstellung des modernen GURT-Teleskops ist in absehbarer Zeit geplant. Die Server, auf denen die meisten radioastronomischen Daten gespeichert waren, sind zerstört. Jetzt werden wertvolle Informationen auf Speichern in den Niederlanden aufbewahrt. Die Wissenschaftler wissen: Nach dem Sieg wird UTR-2 auch wieder in Gang kommen. Sie zählen hier auf die Hilfe internationaler Partner und auf die ukrainische Armee.

Trotz Krieg und Zerstörung hat die Wissenschaft existiert und wird weiter existieren — davon ist Oleksandr Konovalenko überzeugt.

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