Russisch besetzte ukrainische Territorien: Terror und Massendeportationen nach Russland

Jevhen Sacharov, der Direktor des Charkiver Menschenrechtsgruppe, am 1. März 2023 bei der Anhörung des Unterausschusses für Menschenrechte im Europa-Parlament.
Jevhen Sacharov24. März 2023UA DE EN ES FR IT RU

Євген Захаров. Фото: Олександр Війчук Jevhen Sacharov. Foto: Oleksandr Vijtschuk Yevhen Zakharov (© Oleksandr Viichuk) Yevhen Zakharov. Photo : Oleksandr Viitchouk Евгений Захаров. Фото: Александр Вийчук

Jevhen Sacharov. Foto: Oleksandr Vijtschuk

Vor einem Jahr setzte Russland einen großangelegten Krieg in Gang, um den ukrainischen Staat und alle Ukrainer, die ihn verteidigen und unterstützen, zu vernichten. Hierfür verlegte man sich auf die Strategie der verbrannten Erde: Jede Stadt, die sich den russischen Angriffen widersetzte, war bereits am zweiten Tag Bomben- und Luftangriffen gegen die Zivilbevölkerung und zivile Objekte ausgesetzt. Zehntausende Zivilisten wurden getötet oder verletzt, Zehntausende Gebäude zerstört, Millionen flüchteten ins Ausland oder in andere Gebiete innerhalb des Landes.

Die Aktionen auf den von Russland besetzten Gebieten verfolgten das Ziel, bewusste Ukrainer zu töten und alle anderen einzuschüchtern, sie zur Ausreise nach Russland zu zwingen oder sie, sofern sie sich Russland gegenüber loyal verhalten, im Lande zu belassen. Diese Strategie entspricht exakt der Sicht der russischen Spionageabwehr, die die Ukrainer, einem Forschungsbericht zufolge, in vier Gruppen einteilt:

  • die Gruppe, die physisch liquidiert/vernichtet werden soll;
  • die Gruppe, die unterdrückt und eingeschüchtert werden soll;
  • Personen, die man zur Zusammenarbeit überreden kann;
  • Personen, die zur Zusammenarbeit bereit sind.

In den besetzten Gebieten sind vor allem ehemalige Soldaten in Gefahr, die von 2014 bis 2021 in den Streitkräften gedient haben, Mitarbeiter der Sicherheits- und Grenzschutzorgane, Rettungssanitäter sowie Angestellte staatlicher Behörden und der lokalen Selbstverwaltung, Gemeinderäte, öffentliche Persönlichkeiten, Unternehmer, Journalisten, Geistliche. Offenbar verfügten die Vertreter der Besatzungstruppen schon vorher über Listen solcher Personen. Diese wurden entweder entführt und verschwanden spurlos, oder sie wurden widerrechtlich festgenommen und gefangen gehalten, gewöhnlich an inoffiziellen Orten, die für einen Aufenthalt absolut ungeeignet sind, was als Folter durch die Haftbedingungen zu bewerten ist. Außerdem wurden die Gefangenen grausamen Folterungen unterzogen, um von ihnen die gewünschten Informationen zu bekommen oder sie zur Zusammenarbeit zu zwingen. Im Gebiet Charkiv wurden nach der Befreiung 25 solcher Haftanstalten entdeckt, wo Menschen gequält wurden — in Isjum, Kupjansk, Balaklija, Vovtschansk und anderen Orten. Die Beschreibung einiger von ihnen sowie Zeugenaussagen von Opfern finden sich auf der Website der Charkiver Menschenrechtsgruppe.

Die Anwälte der Charkiver Menschenrechtsgruppe, die 26 Folteropfer vertreten, sind darüber im Bilde, mit welchen Methoden die Okkupanten versuchen, die Gefangenen zu brechen. Die Anwälte fahnden nach 111 Vermissten, was äußerst schwierig ist, da die Besatzer in den so genannten „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk und die russischen Behörden nicht geneigt sind, Auskunft über den Aufenthaltsort von Gefangenen zu geben. Es ist bekannt, dass 40 dieser 111 Verschwundenen in Haft sind, aber nur in zwei Fällen kennt man die Adresse.

Welches Ausmaß haben diese Verbrechen? Zum 8. März waren in der Datenbank der Initiative „Tribunal für Putin“ 614 illegal festgenommene Personen verzeichnet, darunter 18 Kinder, und 3.639 Vermisste, davon 118 Minderjährige. Die meisten Vermissten gab es in den Gebieten Charkiv (2.065, 86 Kinder), Cherson (537, 3 Kinder), Zaporizhzhia (434, 7 Kinder), Luhansk (310, 14 Kinder).

Den Hauptanteil dieser Fälle kann man vorläufig als zwangsweises Verschwinden einstufen. Denn alle Angehörigen, die auf der Suche nach Vermissten sind, werden damit konfrontiert, dass ihnen entweder direkt eine Antwort verweigert oder dass behauptet wird, ihr Aufenthalt sei unbekannt. Das Internationale Rote Kreuz kann im besten Fall mitteilen, dass sich eine Person in Russland befindet, aber wo konkret, wird nicht präzisiert.

Diese sehr hohe Anzahl Verschwundener — 3.639 — ist nur die Spitze des Eisbergs, die tatsächliche Anzahl dürfte wesentlich höher liegen. Zum 7. Februar dieses Jahres waren 19.635 Personen von staatlicher Seite als vermisst registriert. Und längst nicht alle Angehörigen von Vermissten erstatten Anzeige bei der Polizei.

Das illegale Gefangenhalten ohne Gerichtsbeschluss und zwangsweises Verschwindenlassen unter Geheimhaltung des Aufenthaltsorts sind eine eklatante Verletzung der Menschenrechte und können vorläufig als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifiziert werden.

Ein anderes Mittel des Terrors gegen die Bevölkerung der besetzten Gebiete ist die Deportation nach Russland: Entweder aus Sicherheitsgründen, weil ein Angriff der ukrainischen Streitkräfte bevorstünde (so war und ist es im Gebiet Cherson) oder unter dem Vorwand einer Rettung vor Kampfhandlungen (so war es in Mariupol) oder überhaupt ohne plausiblen Grund. Weshalb haben die Russen beispielsweise 2.000 Verurteilte aus Vollzugsanstalten und einige Hundert psychisch Kranke deportiert?

Um die Einreise illoyaler Ukrainer nach Russland zu verhindern, müssen alle Einreisenden eine Filtration passieren.

Die Filtration ist ein gewaltsames, nicht reguliertes Verfahren, um die Personalangaben der Festgenommenen festzustellen und Klarheit über ihre sozialen Kontakte und ihre Haltung zum Besatzerstaat zu gewinnen sowie darüber, ob von ihnen eine Gefahr für die Besatzungsmacht ausgeht oder ob sie vielleicht zu einer Kooperation mit ihren Institutionen bereit sein könnten.

Die Filtration erfolgt in zwei Etappen. Die erste besteht in einer Ausweiskontrolle, dem Abnehmen von Fingerabdrücken und einer ersten Befragung in den so genannten Filtrationspunkten. Diese Etappe müssen alle alle Flüchtlinge passieren. Sie kann einige Stunden oder auch mehrere Tage in Anspruch nehmen, je nachdem, wie groß der Andrang am Filtrationspunkt ist. Große Aufmerksamkeit gilt dabei Männern, vor allem in wehrfähigem Alter. Diese werden besonders gründlich befragt, mitunter auch unter Gewaltanwendung. Die Kontrolleure versuchen herauszufinden, ob jemand früher bei der Armee gedient oder bei Sicherheitsorganen, dem Grenzschutz oder anderen staatlichen oder lokalen Organen gearbeitet hat. Frauen werden nach dem Aufenthalt ihrer Männer befragt und ob sie nicht bei der Armee sind. Bei allen werden die Telefone überprüft, auf der Suche nach proukrainischen Parolen oder Melodien. Besteht der Verdacht einer kritischen Einstellung gegenüber Russland, wird die Person festgenommen. Familien werden dabei getrennt, auch Mütter von ihren Kindern.

Die Festgenommen werden unter Bewachung für 30 Tage zu einer gründlicheren Überprüfung in Filtrationslager gebracht. Das sind in der Regel inoffizielle Haftorte mit äußerst schlechten Haftbedingungen: Überfüllung, schlechte Verpflegung, häufig ohne Zugang zu Wasser, ohne Licht, ohne Toiletten und frische Luft, ohne medizinische Versorgung. Hier werden Verhöre unter Beteiligung von FSB-Mitarbeitern durchgeführt, mit Gewaltanwendung und verschiedenen Methoden der Folter, um die Menschen zu brechen und zu erreichen, dass sie ihre Loyalität gegenüber der Russischen Föderation bekunden. Wer diese zweite Etappe der Filtration passiert, kommt nach 30 Tagen frei und kann nach Russland einreisen. Wer sie nicht „besteht“, verschwindet spurlos. Über das weitere Schicksal dieser Menschen ist nichts bekannt. Es heißt, sie würden vor russische Gerichte gestellt wegen „Widerstands gegen die spezielle Militäroperation“ (so wird dieser Krieg in Russland bezeichnet). Mindestens ein solcher Fall ist bekannt.

Die Zahl der in Filtrationslagern Vermissten und der aus ihnen befreiten Personen ist nicht bekannt. Insgesamt sind nach verschiedenen Schätzungen im Jahre 2022 zwei bis 2.7 Millionen Ukrainer nach Russland eingereist. Die meisten Familien taten dies notgedrungen, sie hatten nicht die Möglichkeit, sich in sicherere Gebiete innerhalb der Ukraine zu begeben.

Wie viele Flüchtlinge aus der Ukraine Russland später wieder verlassen haben, ist ebenfalls schwer zu sagen. Es ist festzuhalten, dass sie dabei von russischen Menschenrechtlern und Freiwilligen unterstützt wurden. Diese halfen den Ukrainern bei der Ausreise nach Europa, auch wenn die erforderlichen Dokumente fehlten, und überwanden alle Hindernisse und den Unwillen der russischen Behörden, diese Ukrainer ausreisen zu lassen.

Zum Abschluss möchte ich diesen unerschrockenen Russen ausdrücklich danken.

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