Ein kalibriertes Verbrechen: Wer steht hinter dem Angriff auf die staatliche Gebietsverwaltung von Mikolajiv

Infolge des Beschusses des Verwaltungsgebäudes kamen 37 Menschen ums Leben. Die Mitgliedsorganisation der Koalition T4P hat bei ihren Untersuchungen die Umstände des Beschusses geklärt und die Personen, die mutmaßlich für dieses Kriegsverbrechen verantwortlich sind, ermittelt.
07. Oktober 2022UA DE EN ES FR IT RU

Будівля зруйнованої Миколаївської ОДА. Фото: Truth Hounds, 21 травня 2022 року Das Gebäude des zerstörten staatlichen Gebietsverwaltung von Mikolajiv. Foto: Truth Hounds, 21. Mai 2022 Edificio destruido de la Administración Regional de Mykolaiv. Foto: Truth Hounds, 21 de mayo de 2022 Le bâtiment de l’administration régionale de Mykolaïv après l’attaque. Photo : Truth Hounds, 21 mai 2022 Здание разрушенной Николаевской ОГА. Фото: Truth Hounds, 21 мая 2022 года

Das Gebäude des zerstörten staatlichen Gebietsverwaltung von Mikolajiv. Foto: Truth Hounds, 21. Mai 2022

Der Raketenangriff auf das Gebäude der staatlichen Gebietsverwaltung im Gebiet Mikolajiv erfolgte am 29. März 2022 um 8.35 morgens. Die Rakete schlug in der Fassade ein und richtete erhebliche Zerstörungen an. 37 Menschen kamen ums Leben, ein Drittel des Gebäudes wurde von Grund auf zerstört, der übrige Teil ist in einem gefährlichen und nicht benutzbaren Zustand.

Das Team von Truth Hounds hat umgehend mit einer eigenen Untersuchung dieses Angriffs begonnen. Wir haben den Ort des Beschusses und die Siedlungen in der Region Otschakiv im Gebiet Mikolajiv aufgesucht und uns einen Überblick über öffentliche Quellen verschafft, die Satellitenaufnahmen von MAXAR analysiert. Mit dem Zentrum für Raumfahrttechnologie haben wir Berechnungen durchgeführt, mit denen wir unsere Version vom Typ der eingesetzten Waffen untermauern konnten. So haben wir gemeinsam 3D-Modelle von der Rakete und den Zerstörungen des Verwaltungsgebäudes erstellt.

Wir haben festgestellt, dass der Angriff auf das Gebäude der staatlichen Gebietsverwaltung mit einem Marschflugkörper des Typs „Kalibr“ erfolgte

Der Augenblick, in dem die Rakete auf das Verwaltungsgebäude von Mikolajiv einschlug, wurde von einer Kamera aufgezeichnet, die auf dem Dach des Wohnkomplexes „Admiral“ angebracht war, der sich 40 Meter südwestlich von dem Verwaltungsgebäude befindet. Dieses Video hat Vitalij Kim, der Leiter der Gebietsverwaltung von Mikolajiv, am Tag des Angriffs auf seinem Telegram-Kanal gepostet.

Es ist vor allem deshalb klar, dass es sich um einen Marschflugkörper handelte, weil das Seitenleitwerk am Raketenkörper in der Aufzeichnung genau zu sehen ist. Darüber hinaus sieht man deutlich, dass die Flügel senkrecht zum Grundteil der Rakete positioniert sind.

Стоп-кадр із відео з влученням ракети в будівлю Миколаївської ОДА. Джерело: телеграм-канал “Віталій Кім / Миколаївська ОДА” Standbild aus dem Video vom Raketeneinschlag in das Gebäude der staatlichen Gebietsverwaltung von Mikolajiv. Quelle: Telegram-Kanal „Vitalij Kim / Staatliche Gebietsverwaltung Mikolajiv“ Imagen congelada del video de un misil dirigido al edificio de la Administración Regional de Mykolaiv. Fuente: Canal de Telegram Vitaly Kim / Administración Regional de Mykolaiv Image d’une vidéo qui montre le missile frappant l’administration régionale de Mykolaïv. Source : chaîne Telegram « Vitali Kim/ODA Mykolaïv » Стоп-кадр из видео с попаданием ракеты в здание Николаевской ОГА. Источник: телеграм-канал “Віталій Кім / Миколаївська ОДА”

Standbild aus dem Video vom Raketeneinschlag in das Gebäude der staatlichen Gebietsverwaltung von Mikolajiv. Quelle: Telegram-Kanal „Vitalij Kim / Staatliche Gebietsverwaltung Mikolajiv“

Wenn man die Rakete aus dem Standbild des Videos von ihrem Einschlag in das Verwaltungsgebäude mit anderen Cruise Missiles der Russischen Föderation (RF) vergleicht, so gleichen die Marschflugkörper des Typs „Kalibr“ und die Raketen X-101 und X-555 der Rakete aus dem Video am meisten. Die letzten beiden Raketentypen werden gewöhnlich aus der Luft aus den an die Ukraine angrenzenden russischen und belarussischen Luftzonen abgefeuert. „Kalibr“ wird gewöhnlich aus den Gewässern des Schwarzen und Kaspischen Meers gestartet.

Vom Territorium der RF hätten nur Raketen des Typs X-101 und X-555 abgefeuert werden können. Allerdings sind in diesem Fall noch die Umstände des Vorfalls zu berücksichtigen, nämlich wie die Ladung explodiert ist. Nach offiziellen Angaben, die auf der Analyse des Schadens basieren, ist die Explosion innerhalb des Gebäudes erfolgt. Diesen Effekt haben Raketen, die mit einem speziellen durchdringenden Sprengkopf ausgestattet sind, der fast immer im Typ „Kalibr“ vorhanden ist. Diese Besonderheit in der Konstruktion gehört nicht zu den taktischen und technischen Merkmalen einer Rakete vom Typ X-101; bei diesen Raketen explodiert der Sprengkopf mehrere Meter vom Ziel entfernt.

Ein Start der Rakete von Belarus aus scheint uns unmöglich, da der Telegram-Kanal „Biloruski Hajun“, der militärische Aktivitäten auf belarusischem Territorium beobachtet, zur Zeit des Angriffs auf Mikolajiv vom Flughafen Luninez (Gebiet Brest) den Start einer Serie von „Su-25“-Kampfflugzeugen verzeichnet hat. Diese sind allerdings alle mit Kurzstreckenraketen des Typs X-25 ML, X-25 MLP, S-25L oder X-29L ausgestattet und könnten kein Ziel in Mikolajiv erreichen.

Ein Start vom Kaspischen Meer aus scheint ebenfalls zweifelhaft. In diesem Fall hätte die Rakete um 120 Grad von ihrer ursprünglichen Flugbahn abweichen müssen (da sie von nordwestlicher Seite in das Gebäude eingeschlagen ist), und das ist unwahrscheinlich. Zudem werden Langstreckenraketen (Mikolajiv ist etwa 1.300 Kilometer vom Ufer des Kaspischen Meers entfernt) immer von der ukrainischen systematischen Überwachung erfasst, und folglich hätte sich faktisch in allen Regionen des Landes der Luftalarm eingeschaltet. Am 29. März gab es unmittelbar vor dem Angriff jedoch keinen Luftalarm, weder im Gebiet Mikolajiv noch in den meisten anderen Gebieten der Ukraine.

Die wahrscheinlichste Version ist daher, dass es sich um eine „Kalibr“-Rakete gehandelt hat. Diese Einschätzung entspricht auch den früheren Versionen der offiziellen Untersuchung.

Die Rakete wurde vom Schwarzen Meer aus gestartet

Raketen des Typs „Kalibr“ sind nicht für einen Start aus der Luft vorgesehen. Zurzeit liegen auch keinerlei Informationen über einen derartigen Einsatz durch die russischen Streitkräfte vor.

Der Einsatz einer „Kalibr“-Rakete, das Ausbleiben eines Luftalarms und die Flugbahn der Rakete legen nahe, dass die Rakete aus den Gewässern des Schwarzen Meeres abgefeuert wurde. Diese These wird durch Augenzeugenberichte gestützt, die am Morgen des 29. März den Flug der Rakete über dem Dorf Ivanivka im Bezirk Otschakiv gehört haben, der an der Küste der Dnipro-Bucht liegt. Mitarbeiter von Truth Hounds konnten Ende Juli eine Frau dazu befragen.

Der Schlag wurde von einem Überwasser-Raketenträger ausgeführt, höchstwahrscheinlich von der Fregatte „Admiral Essen“

In der Zeit vor dem Angriff auf das Verwaltungsgebäude befanden sich 10 Schiffe der russischen Marine im Schwarzen Meer, die solche Angriffe durchführen konnten: 2 Fregatten, 2 U-Boote und 4 kleine Raketenboote.

Ein Screening der Bucht von Sevastopol vom 28.-29. März lässt es unwahrscheinlich scheinen, dass der Angriff von U-Booten ausging, weil diese sich zu dieser Zeit alle in der Bucht aufhielten. Die russischen Fregatten „Admiral Essen“ und „Admiral Makarov“ sowie die beiden Korvetten „Inguschetija“ und „Vyschnij Volotschek“ dagegen befanden sich in den Gewässern des Schwarzen Meeres.

Розташування кораблів ВМФ Росії 28 березня 2022 року. Координати фрегату “Адмірал Ессен”: 46.14435°, 31.22095°. Джерело: твіттер-акаунт H I Sutton Position der Schiffe der russischen Flotte am 28. März 2022. Koordinaten der Fregatte „Admiral Essen“: 46.14435°, 31.22095°. Quelle: Twitter-Account H I Sutton Ubicación de barcos de la Armada rusa el 28 de marzo de 2022. Coordenadas de la fragata Admiral Essen: 46.14435°, 31.22095°. Fuente: el Twitter de H I Sutton Localisation de la frégate « Admiral Essen » le 28 mars 2022. Coordonnées : 46.14435°, 31.22095°. Source : Compte Twitter H I Sutton Расположение кораблей ВМФ России 28 марта 2022 года. Координаты фрегата “Адмирал Эссен”: 46.14435°, 31.22095°. Источник: твиттер-аккаунт H I Sutton

Position der Schiffe der russischen Flotte am 28. März 2022. Koordinaten der Fregatte „Admiral Essen“: 46.14435°, 31.22095°. Quelle: Twitter-Account H I Sutton

Wenn man die Positionen dieser Schiffe im Verhältnis zum Ziel mit den Zeugenaussagen über den Flug der Rakete in Richtung Mikolajiv und mit den technischen Daten der „Kalibr“-Raketen abgleicht, kommt man zum Schluss, dass die Kalibr wahrscheinlich von der russischen Fregatte „Admiral Essen“ abgefeuert wurde.

Die Verantwortung für diesen Angriff tragen in erster Linie die Kommandanten des Schiffs

In offenen Quellen waren Informationen über die Besatzung der Fregatte „Admiral Essen“ zu finden, darunter auch über die Kommandanten: den Kapitän 2. Rangs Alexander Smirnov und den Kapitänleutnant Anatolij Peretjatko, die die Raketen- und Artillerie-Kampfeinheit des Schiffs leiten. Beide könnten für dieses Kriegsverbrechen verantwortlich sein.

Der Angriff auf das Gebäude der Gebietsverwaltung in Mikolajiv war ein Kriegsverbrechen

Wir sind der Auffassung, dass der Beschuss des Verwaltungsgebäudes in Mikolajiv ein Kriegsverbrechen im Sinne eines vorsätzlichen Schlags gegen ein ziviles Objekt ist. Das Römische Statut des Internationalen Strafgerichts bewertet Angriffe auf Zivilobjekte in Artikel 8, Abs. 2 b, II als Kriegsverbrechen. Selbst wenn Zweifel hinsichtlich des zivilen Charakters des Gebäudes bestünden, wäre es ein Kriegsverbrechen. da es ein ungezielter Angriff war (Artikel 8, Abs. 2, b, IV), d. h. der Schaden stand eindeutig in keinem Verhältnis zu dem geringen militärischen Vorteil, den die russischen Truppen dadurch gewinnen konnten.

Eine vollständige Analyse ist unter folgendem Link zu finden.


Diese Untersuchung wurde von der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Truth Hounds durchgeführt, gemeinsam mit und unterstützt von der Internationalen Partnerschaft für Menschenrechte (IPHR), dem Zentrum für Raumfahrttechnologie und dem National Endowment for Democracy (NED).

Truth Hounds ist ein Team von Menschenrechtlern. Seit über acht Jahren dokumentieren und untersuchen sie Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine und in weiteren Ländern Osteuropas, Zentralasiens und im Kaukasus, um Gerechtigkeit für die Opfer der Kriegsverbrechen und eine Bestrafung der Verantwortlichen und ihrer Unterstützer zu erreichen.

Truth Hounds gehört der Koalition für ein Internationales Strafgericht, der Koalition von T4P und der Koalition „Ukraine.5am“ (Ukraine 5 Uhr morgens: Beginn des Angriffs am 24. Februar) an.

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