Gerechtigkeit verjährt nicht
Vor einem Jahr setzte Russland einen großangelegten Krieg in Gang, um den ukrainischen Staat und alle, die ihn verteidigen und unterstützen, zu vernichten. Hierfür verlegte man sich auf die Strategie der verbrannten Erde: Jede Stadt, die sich den russischen Angriffen widersetzte, war bereits am zweiten Tag Bomben- und Luftangriffen ausgesetzt, die sich gegen die Zivilbevölkerung sowie zivile Objekte richteten. Das gilt für Mariupol, Charkiv, Ochtyrka, Mykolajiv, Cherson, Sjevjerodonezk, Bachmut, Isjum, Kupjansk und andere Städte. Durch wahllosen, mitunter auch gezielten Beschuss wurden Zehntausende Zivilisten getötet oder verletzt, Zehntausende Gebäude wurden zerstört. 8 Mio. Flüchtlinge suchten Zuflucht im Ausland, 5.3 Mio. begaben sich aus umkämpften Gebieten in weniger gefährdete Regionen des Landes.
In den besetzten Gebieten töteten die Besatzer Zivilisten, folterten und entführten sie, deportierten sie gewaltsam nach Russland. Zehntausende wurden Opfer dieser Verbrechen. Die Okkupanten taten buchstäblich alles, um unseren Widerstandsgeist zu brechen und uns zur Unterwerfung zu zwingen.
Allerdings hielten unsere Armee, unser Land und unser Volk stand — durch den Mut, Zusammenhalt und die Standfestigkeit, die sie dem wortbrüchigen, zahlenmäßig weit überlegenen und besser ausgerüsteten Aggressor entgegensetzten. Die heroische Verteidigung der Freiheit durch die Ukrainer, natürlich mit Unterstützung der internationalen Gemeinschaft, lässt auf einen Sieg der Ukraine hoffen. Das ist das entscheidende Ergebnis dieses Jahres.
Die begangenen Verbrechen dürfen nicht straflos bleiben, da sie sonst immer weitere und noch schlimmere Verbrechen nach sich ziehen werden. Die Initiative “Tribunal für Putin” hat für dieses Jahr über 33.000 Vorfälle dokumentiert, die vorläufig als Genozid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen eingestuft wurden. Die Opfer dieser Verbrechen warten auf Gerechtigkeit: Die Schuldigen müssen zur Verantwortung gezogen und vor Gericht gestellt, und für den Schaden müssen Kompensationen geleistet werden.
Wie sind die Aussichten, Gerechtigkeit zu erreichen?
Kein einziges Justizsystem der Welt könnte ein solches Ausmaß an Verbrechen bewältigen.
Die Kapazitäten der nationalen Justizorgane reichen dafür nicht aus. Ein internationales Tribunal für das Verbrechen der Aggression, das die UNO hoffentlich in Kürze einrichten wird, kann die Verbrechen der höchsten politischen und militärischen Führung Russlands untersuchen. Ein internationales Strafgericht wird indes nur einige der aufsehenerregendsten Verbrechen behandeln. Und was geschieht mit all den übrigen? Wie viele Jahrzehnte wird das in Anspruch nehmen, werden die Opfer ein gerechtes Urteil und eine angemessene Kompensation noch erleben? Ohne institutionelle Änderungen im Ermittlungssystem und den Gerichtsverfahren besteht nur wenig Hoffnung auf Gerechtigkeit.
Die Gerechtigkeit muss auf dem Rechtsweg erreicht und bestätigt werden. Dafür bedarf es eines effizienten Ermittlungssystems für alle Verbrechen, das sich in erster Linie an dem Ziel orientieren muss, die Rechte der Opfer wiederherzustellen. Das muss auf nationaler Ebene funktionieren. Heute ist indes klar, dass das derzeitige Justiz- und Strafverfolgungssystem mit der enormen Zahl an den bisher verzeichneten Verbrechen nicht zu Rande kommen kann. Um hier Abhilfe zu schaffen, müsste eine Strategie für eine effiziente Untersuchung aller Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf nationaler Ebene entwickelt werden. Dabei muss es auch zu gesetzlichen Änderungen kommen, die Straf- und Justizorgane müssen mehr Möglichkeiten erhalten, um das Hauptziel zu erreichen: Für alle Opfer und Leidtragenden dieses Krieges muss es eine Entscheidung geben, die das Recht wiederherstellt und eine Kompensation für die durch die russische Aggression entstandenen Schäden gewährleistet.
Das ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, der konsolidierte Bemühungen, Ressourcen und Initiativen auf nationaler Ebene erfordert, unter Hinzuziehung internationaler Partner. Wir erinnern an die berühmte Pariser Parole von 1968: “Seid Realisten — verlangt das Unmögliche!” und möchten nochmals bestätigen, dass es für die Gerechtigkeit, ebenso wenig wie für die in Rede stehenden Verbrechen, Verjährungsfristen gibt. Gerechtigkeit tatsächlich zu erreichen, hängt vor allem von uns selbst und unseren Anstrengungen ab.
Ruhm der Ukraine!