Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Nobelpreisrede des Zentrums für bürgerliche Freiheiten

Rede des Friedensnobelpreisträgers von 2022, des Zentrums für bürgerliche Freiheiten, vorgetragen von Oleksandra Matvijtschuk am 10. Dezember in Oslo.
28. Dezember 2022UA DE EN ES FR IT RU

Голова Центру громадянських свобод Олександра Матвійчук © Nobel Prize / YouTube Oleksandra Matvijtschuk, Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten © Nobel Prize / YouTube Oleksandra Matviichuk, head of the Centre for Civil Liberties © Nobel Prize / YouTube Oleksandra Matviychuk, Directora del Centro para las Libertades Civiles © Nobel Prize / YouTube Oleksandra Matviïtchouk, présidente du Centre pour les libertés civiles © Nobel Prize / YouTube Глава Центра гражданских свобод Александра Матвийчук © Nobel Prize / YouTube

Oleksandra Matvijtschuk, Leiterin des Zentrums für bürgerliche Freiheiten © Nobel Prize Outreach AB, Production: NRK

Eure Majestäten, Eure Königlichen Hoheiten, verehrte Mitglieder des Nobelkomitees, verehrte Bürger der Ukraine und der ganzen Welt!

In diesem Jahr fieberte die ganze Ukraine der Bekanntgabe der Nobelpreisträger entgegen. Wir verstehen den Preis als Anerkennung für das gesamte ukrainische Volk, das sich tapfer gegen die Versuche zur Wehr setzt, die friedliche Entwicklung Europas zu vernichten. Ebenso verleiht er dem Einsatz von Menschenrechtsaktivisten ein besonderes Gewicht, wenn es gilt, in der ganzen Welt eine militärische Bedrohung abzuwenden. Wir sind stolz darauf, dass heute zum ersten Mal bei der offiziellen Zeremonie die ukrainische Sprache erklingt.

Wir erhalten den Nobelpreis während des Krieges, den Russland begonnen hat. Dieser Krieg währt bereits acht Jahre, neun Monate und 21 Tage. Für Millionen von Menschen gehören Vokabeln wie Beschuss, Folterungen, Deportationen und Filtrationslager inzwischen zum täglichen Sprachgebrauch. Jedoch gibt es keine Worte für den Schmerz einer Mutter, die ihren neugeborenen Sohn nach dem Beschuss der Geburtsabteilung in einer Klinik verloren hat. Sie hatte ihr Kind gerade noch gestreichelt, es bei seinem Namen genannt, ihm die Brust gegeben, seinen Geruch wahrgenommen — und unvermittelt hat eine russische Rakete ihr gesamtes Universum zerstört. Und jetzt liegt ihr geliebtes und so lange erwartetes Kind in dem kleinsten Grab der Welt.

Es gibt keine fertigen Lösungen für die Herausforderungen, vor denen wir und die ganze Welt jetzt stehen. Menschen in verschiedenen Ländern kämpfen ebenfalls in äußerst schwierigen Situationen für ihre Rechte und Freiheiten. Deshalb versuche ich heute, wenigstens die richtigen Fragen anzusprechen, damit wir die Suche nach Lösungen in Angriff nehmen können.

Erstens. Wie können wir den Menschenrechten wieder zur Geltung verhelfen? 

Die Generationen, die den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, haben inzwischen anderen Platz gemacht. Die Menschen nehmen ihre Rechte und Pflichten inzwischen als selbstverständlich wahr. Sogar in entwickelten Demokratien gewinnen Kräfte an Bedeutung, die die Prinzipien der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in Frage stellen. Aber die Menschenrechte werden nicht ein für alle Mal erkämpft. Die Werte der modernen Zivilisation müssen ständig verteidigt werden.

Frieden, Fortschritt und Menschenrechte hängen untrennbar zusammen. Ein Staat, der Journalisten ermordet, Aktivisten inhaftiert oder friedliche Demonstrationen auseinanderjagt, ist nicht nur für seine eigenen Bürger eine Bedrohung. Er stellt eine Bedrohung für seine gesamte Region, ja für den Frieden in der gesamten Welt dar. Deshalb muss die Welt auf systematische Verstöße reagieren. Die Menschenrechte dürfen bei politischen Entscheidungen keine geringere Rolle spielen als wirtschaftlicher Vorteil oder die Sicherheit. Dies muss in der Außenpolitik berücksichtigt werden.

Das ist gut am Beispiel Russlands zu sehen, das seine eigene Zivilgesellschaft konsequent vernichtet hat. Aber die demokratischen Länder haben lange davor die Augen verschlossen. Sie haben der russischen Führung weiterhin die Hand gedrückt, Gasleitungen gebaut und „business as usual“ betrieben. Russische Truppen haben jahrzehntelang in mehreren Ländern Verbrechen begangen. Sie blieben immer ungesühnt. Nicht einmal auf den Aggressionsakt und die Annexion der Krim, den Präzedenzfall im Europa der Nachkriegszeit, hat die Welt angemessen reagiert. Russland gewann die Überzeugung, dass es tun kann, was ihm beliebt.

Jetzt bewirkt Russland vorsätzlich Leiden für die Zivilbevölkerung, um den Widerstand in der Ukraine zu brechen und das Land zu besetzen. Die russischen Truppen zerstören gezielt Wohnhäuser, Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, sie schießen auf Evakuierungskorridore, sperren Menschen in Filtrationslager, führen gewaltsame Deportationen durch, rauben, foltern und morden in den besetzten Territorien.

Das russische Volk wird die Verantwortung für diese schändliche Seite seiner Geschichte und das Bestreben, gewaltsam das ehemalige Imperium wiederherzustellen, zu tragen haben.

Zweitens. Wie können wir die Dinge endlich beim Namen nennen?

Die Menschen in der Ukraine wünschen sich nichts so sehnlichst wie Frieden. Aber zum Frieden wird es nicht kommen, wenn das Land, das überfallen wurde, die Waffen niederlegt. Das wäre kein Frieden, sondern Okkupation. Nach der Befreiung von Butscha fanden wir auf den Straßen und vor ihren Häusern die Leichen von Zivilisten. Diese Menschen waren unbewaffnet.

Wir müssen damit aufhören, aufgeschobene militärische Bedrohungen als „politische Kompromisse“ auszugeben. Die demokratische Welt hat sich angewöhnt, Zugeständnisse gegenüber Diktaturen zu machen. Deshalb ist es so wichtig, dass das ukrainische Volk bereit ist, Widerstand gegen den russischen Imperialismus zu leisten. Wir überlassen die Menschen in den besetzten Gebieten nicht dem Tod oder der Folter. Menschenleben können nicht Gegenstand eines „politischen Kompromisses“ sein. Für den Frieden zu kämpfen heißt nicht, dem Druck des Aggressors nachzugeben, sondern die Menschen gegen seine Grausamkeiten zu verteidigen.

In diesem Krieg kämpfen wir für die Freiheit in all ihren Bedeutungen. Und zahlen dafür den höchsten Preis. Wir, Bürger der Ukraine aller Nationalitäten, können unser Recht auf einen souveränen, unabhängigen ukrainischen Staat und auf die Entwicklung der ukrainischen Sprache und Kultur nicht zur Diskussion stellen. Als Menschen müssen wir nicht darum bitten, unsere Identität bestimmen und selbstständig unsere demokratische Wahl treffen zu dürfen. Die Krimtataren und andere indigene Völker müssen nicht beweisen, dass es ihr Recht ist, frei in ihrer Heimat auf der Krim zu leben.

Davon wie wir heute kämpfen, hängt die zukünftige Gestalt der Ukraine ab. Wir möchten in der Nachkriegszeit nicht in unsicheren Strukturen, sondern mit stabilen demokratischen Institutionen leben. Wir lassen unser Verhalten nicht dann von unseren Werten leiten, wenn es leicht ist, sondern wenn es uns schwerfällt. Wir dürfen nicht zu einem Abbild des Angriffsstaats werden.

Es handelt sich nicht um einen Krieg zwischen zwei Staaten, sondern um einen zwischen zwei Systemen — Autoritarismus und Demokratie. Wir kämpfen um die Möglichkeit, ein Staat zu sein, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt, die Machtinstitutionen rechenschaftspflichtig und die Gerichte unabhängig sind und in dem die Polizei keine friedlichen Studentendemonstrationen auf dem zentralen Platz in der Hauptstadt auseinanderjagt.

Wir müssen das Trauma das Kriegs und die damit verbundenen Risiken auf dem Weg zur europäischen Heimat überwinden und die Wahl des ukrainischen Volks bestätigen, wie sie durch die Revolution der Würde getroffen wurde.

Drittens. Wie kann der Friede für die Menschen auf der ganzen Welt gesichert werden?

Das internationale System für Frieden und Sicherheit funktioniert nicht mehr. Der Krimtatar Server Mustafaev ist wie viele andere in Russland inhaftiert, weil er sich für die Menschenrechte eingesetzt hat. Wir Menschenrechtler haben jahrelang Menschen mit rechtlichen Mitteln schützen können. Uns stehen aber keine juristischen Mechanismen zur Verfügung, um die russischen Untaten zu stoppen. Deshalb sahen sich viele Menschenrechtler gezwungen, zur Waffe zu greifen, um das zu verteidigen, woran sie glauben. So auch mein Freund Maksym Butkevytsch, der jetzt in russischer Gefangenschaft sitzt. Er und andere ukrainische Kriegsgefangene sowie auch alle inhaftierten Zivilisten müssen freigelassen werden.

Das UN-System, das nach dem Zweiten Weltkrieg von seinen Siegern geschaffen wurde, sieht für einige Länder eine ungerechtfertigte Nachsicht vor. Wenn wir nicht in einer Welt leben möchten, in der die Regeln von Staaten festgelegt werden, die das größere Militärpotential haben, dann müssen wir das ändern.

Wir müssen eine Reform des internationalen Systems einleiten, um die Menschen vor Kriegen und autoritären Regimen zu schützen. Es bedarf wirksamer Sicherheitsgarantien sowie der Respektierung der Menschenrechte für alle Staaten und ihre Bürger, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu Militärblöcken, ihrem Militärpotential oder ihrer Wirtschaftskapazität. Die Menschenrechte müssen in diesem System eine zentrale Bedeutung bekommen.

Das ist nicht nur eine Aufgabe für Politiker. Diese erliegen oft der Versuchung, komplexe Strategien zu suchen, die viel Zeit kosten. Sie verhalten sich häufig so, als würden die globalen Herausforderungen irgendwann von selbst verschwinden. In Wirklichkeit werden sie sich nur verschlimmern. Wir, die wir in Frieden leben wollen, müssen den Politikern klar machen, dass wir eine neue Architektur für die Weltordnung brauchen.

Vielleicht haben wir keine politischen Instrumente, aber wir haben immer unser eigenes Wort und unsere eigene Position. Ganz gewöhnliche Menschen haben weit mehr Einfluss als sie selbst vermuten. Die Stimme von Millionen von Menschen in verschiedenen Ländern kann die Weltgeschichte schneller verändern als ein Eingreifen der UNO:

Viertens. Wie kann man Gerechtigkeit für alle Opfer des Krieges gewährleisten?

Diktatoren fürchten die Idee der Freiheit. Russland will die ganze Welt überzeugen, dass der Rechtsstaat, die Menschenrechte und die Demokratie falsche Wertvorstellungen sind. Denn zu Kriegszeiten gewähren sie niemandem Schutz.

Das Recht funktioniert jetzt in der Tat nicht. Aber das ist in unseren Augen kein Dauerzustand. Wir müssen diesen Kreislauf der Straflosigkeit durchbrechen und die Methoden der Rechtsprechung über Kriegsverbrechen ändern. Ohne Gerechtigkeit kann es keinen stabilen Frieden geben, der Freiheit vor Angst und Hoffnung auf eine Perspektive bietet.

Wir betrachten die Welt bis heute im Blickwinkel des Nürnberger Tribunals, das Kriegsverbrecher indes erst verurteilte, nachdem das NS-Regime gefallen war. Aber die Gerechtigkeit darf nicht von der Widerstandsfähigkeit autoritärer Regime abhängen. Schließlich leben wir in einem neuen Jahrhundert. Die Gerechtigkeit kann nicht warten.

Wir müssen die Lücke in der Verantwortlichkeit schließen und allen Opfern eine Chance auf Gerechtigkeit geben. Wenn das nationale System durch die zahlreichen Kriegsverbrechen überlastet ist, und wenn der Internationale Strafgerichtshof sich nur auf einige ausgewählte Fälle beschränkt oder überhaupt keine Kompetenzen hat.

Der Krieg macht aus den Menschen Zahlen. Wir müssen allen Opfern von Kriegsverbrechen ihre Namen zurückgeben, unabhängig davon, wer sie sind, welchen sozialen Status sie haben, welches Verbrechen gegen sie begangen wurde und wie grausam es war, und unabhängig vom medialen und öffentlichen Interesse. Denn es kommt auf das Leben jedes Einzelnen an.

Das Recht ist eine lebendige Materie, die sich ständig weiterentwickelt. Wir müssen ein internationales Tribunal schaffen, um Putin, Lukaschenka und andere Kriegsverbrecher zur Rechenschaft zu ziehen. Ja, das ist ein kühnes Unterfangen. Aber wir müssen beweisen, dass der Rechtsstaat funktioniert und dass es Rechtsprechung gibt, wenn auch mit zeitlicher Verzögerung.

Fünftens. Wie können wir uns für die globale Solidarität engagieren?

Unsere Welt ist sehr schnelllebig geworden, hochkomplex und mit wechselseitigen Abhängigkeiten. Gerade jetzt kämpfen Menschen im Iran für ihre Freiheit, in China wehren sie sich gegen eine digitale Diktatur, in Somalia werden Kindersoldaten ins friedliche Leben zurückgebracht. Sie fühlen wie niemand sonst, was es heißt, Mensch zu sein und die Menschenwürde zu verteidigen. Von ihrem Erfolg hängt auch unsere Zukunft ab. Wir sind verantwortlich für alles, was auf der Welt geschieht.

Bei Menschenrechten geht es um eine Denkweise, eine bestimmte Weise, die Welt wahrzunehmen, wovon abhängt, wie der Mensch denkt und handelt. Die Menschenrechte verlieren ihre Bedeutung, wenn man ihre Verteidigung allein Juristen und Diplomaten überlässt. Deshalb reicht es nicht aus, für richtige Gesetze und formelle Institutionen zu sorgen. Die Werte, die die Gesellschaft vertritt, werden in jedem Fall stärker sein.

Das heißt, dass wir eine neue humanistische Bewegung brauchen, die die Gesellschaft über die Bedeutung dieser Werte aufklären, breite Unterstützung suchen und Menschen für die Verteidigung von Recht und Freiheit gewinnen wird. Dieser Bewegung müssen Intellektuelle und Zivilgesellschaften aus verschiedenen Ländern angehören, denn die Ideen der Freiheit und Menschenrechte sind universal und kennen keine Staatsgrenzen.

So können wir erreichen, dass nach Lösungen gesucht wird und wir die globalen Herausforderungen gemeinsam bewältigen — Kriege, Ungleichheit, Angriffe auf die Privatsphäre, Verstärkung des Autoritarismus, Klimawandel usw. So können wir diese Welt sicherer machen.

Wir möchten, dass unsere Kinder keine Kriege und Leiden ertragen müssen. Wir müssen die Verantwortung dafür übernehmen, damit wir nicht das auf ihre Schultern legen, was wir selbst als ihre Eltern tun können. Die Menschheit hat die Chance, die globalen Krisen zu überwinden und zu einem neuen Weltverständnis zu kommen.

Es ist Zeit, Verantwortung zu übernehmen. Wir wissen nicht, wieviel Zeit uns noch bleibt.

Und da dieser Friedensnobelpreis während des Krieges verliehen wird, wende ich mich an die Menschen in aller Welt mit einem Aufruf zur Solidarität. Man muss kein Ukrainer sein, um die Ukraine zu unterstützen. Es genügt, ein Mensch sein.


© The Nobel Foundation 2022

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