Zur Verantwortung für die Bombardierung von Objekten der Energieinfrastruktur

Zu den Bombardierungen der Infrastruktur erklärten hochrangige Funktionäre der Russischen Föderation ausdrücklich, dass diese Objekte gezielt angegriffen würden, und bestätigten, dass es sich um Objekte ziviler Infrastruktur handelt.
Wolodymyr Javorskyj22. November 2022UA DE EN ES FR IT RU

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Im Oktober führte die Russische Föderation (RF) Angriffe auf zahlreiche Objekte der zivilen Infrastruktur der Ukraine, meistens aus dem Energiesektor, durch. Diese Objekte wurden auch schon früher bombardiert, jetzt geschah dies allerdings wesentlich intensiver. Die Angriffe wurden meist durch Langstreckenraketen, Kamikaze-Drohnen und Artillerie ausgeführt.

Die ukrainische Regierung veröffentlicht keine vollständigen und genauen Informationen von den Zerstörungen der Energieinfrastruktur, da sie weitere Angriffe befürchtet. Hohe Funktionäre stellten fest, dass 30-40% der Energieinfrastruktur beschädigt worden sei. Zahlreiche Wärmekraftwerke, Blockheiz- und Wasserkraftwerke, Energienetzwerke sowie das Stromverteilungssystem wurden bombardiert. Nach Angaben des Ministeriums für Regionen waren zum 3. Oktober, noch vor den massiven Angriffen, insgesamt bereits 527 Objekte kritischer Infrastruktur im Wärmeversorgungsbereich durch die russische Aggression beschädigt worden, und zwar 386 Kesselanlagen, zwölf Blockheizkraftwerke, zwei Wärmkraftwerke und 127 Zentralheizungsanlagen.

Zu diesen Angriffen auf die Infrastruktur erklärten hochrangige Funktionäre der Russischen Föderation ausdrücklich, dass diese Objekte gezielt angegriffen würden, und bestätigten, dass es sich um Objekte ziviler Infrastruktur handelt. Auf der Sitzung des Sicherheitsrats der RF am 10. Oktober 2022 berichtete Präsident Putin: „Heute Morgen wurde auf Vorschlag des Verteidigungsministeriums und nach dem Plan des russischen Generalstabs ein massiver luft-, see- und landgestützter Angriff mit Langstreckenraketen und Präzisionswaffen auf Objekte der Energie, der Militärverwaltung und der Kommunikation durchgeführt….“

Am 11. Oktober 2022 erklärte das russische Verteidigungsministerium, dass die russischen Truppen die „massiven Schläge“ auf ukrainische Objekte fortsetzten. „Heute setzten die Streitkräfte der RF die massiven Schläge mit luft- und seegestützten Langstreckenraketen und Präzisionswaffen auf Objekte der Militärverwaltung und des Energiesystems der Ukraine fort. Das Ziel des Angriffs wurde erreicht. Alle vorgesehenen Objekte wurden getroffen“, so der Sprecher des Verteidigungsministeriums Igor Konaschenkov.

Wer solche offenen Erklärungen macht, geht davon aus, dass ihm keinerlei Gefahr droht, und er sich sicher sein kann, dass er für seine Handlungen keinerlei Sanktionen zu erwarten hat.

Die Angriffe sind wahrscheinlich eine Verletzung des humanitären Völkerrechts, insbesondere hinsichtlich einer direkten Attacke auf Objekte ziviler Infrastruktur. Objekte der Energieinfrastruktur werden von der gesamten Bevölkerung genutzt. Das sind keine einzelnen Objekte, die die Militärs versorgen, deshalb sind sie eben zivile Objekte. Auch im Hinblick auf die Verhältnismäßigkeit des Angriffs und der Wahl der Mittel zum Zweck eines militärischen Vorteils handelt es sich um einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.

„Um Schonung und Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu gewährleisten, unterscheiden die am Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen; sie dürfen daher ihre Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten.“ So legt es die Genfer Konvention fest.

Militärische Ziele beschränken sich auf solche Objekte, die auf Grund ihrer Natur, ihres Standorts, ihrer Bestimmung und Verwendung einen effizienten Beitrag zu militärischen Handlungen leisten. Ihre vollständige oder teilweise Zerstörung verschafft also einen gewissen militärischen Vorteil. Wenn es Zweifel hinsichtlich der Unterscheidung gibt, gilt das Objekt als zivil.

Das humanitäre Völkerrecht verbietet keine Schläge gegen die Energieinfrastruktur als solche. Es legt lediglich fest, dass nur ein Militärobjekt ein Angriffsziel sein darf. Für mehrere Ziele, die die RF bei den Angriffen beschädigt hat, dürfte das nicht zutreffen. Selbst bei militärischen Zielen ist die RF verpflichtet, alternative Waffengattungen, Taktiken und Ziele in Betracht zu ziehen, um den gewünschten Effekt zu erzielen, wenn eine Alternative weniger Tote, Verletzte oder Zerstörungen für die Zivilbevölkerung mit sich bringt. Die Ukraine führt keine Einzelheiten der Bombardierungen an, aber generell kann man davon ausgehen, dass die RF nicht versucht, Schäden für die Zivilbevölkerung zu vermeiden.

Der Beschuss durch die RF muss ebenfalls der Regel der Verhältnismäßigkeit entsprechen, die einen Angriff verbietet, wenn der zu erwartende Kollateralschaden in keinem Verhältnis zum erwünschten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil steht. Die Beeinflussung der moralischen Verfassung der Zivilbevölkerung wird nicht als militärischer Vorteil bewertet. Und der Schaden für die ukrainische Bevölkerung geht weit überjeden potentiellen militärischen Vorteil für die russische Seite hinaus. Darüber hinaus fordert das humanitäre Völkerrecht eine ständige Rücksichtnahme auf Zivilisten, es verpflichtet die russischen Streitkräfte, ungünstige Folgen für ukrainische Zivilisten möglichst zu vermeiden, selbst wenn diese Folgen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit nicht als Kollateralschaden bewertet werden.

Deshalb ist es offensichtlich, dass die meisten Attacken auf die ukrainische Energieinfrastruktur das humanitäre Völkerrecht verletzen.

Diese Bombardierungen sind ebenfalls im Hinblick auf Kriegsverbrechen zu betrachten, wie sie das Römische Statut für das Internationale Strafrecht anführt. Das sind insbesondere:

„1. vorsätzliche Angriffe auf zivile Objekte, das heißt auf Objekte, die nicht militärische Ziele sind;

2. vorsätzliches Führen eines Angriffs in der Kenntnis, dass dieser auch Verluste an Menschenleben, die Verwundung von Zivilpersonen, die Beschädigung ziviler Objekte oder weit reichende, langfristige und schwere Schäden an der natürlichen Umwelt verursachen wird, die eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen;

3. der Angriff auf unverteidigte Städte, Dörfer, Wohnstätten oder Gebäude, die nicht militärische Ziele sind, oder deren Beschießung, gleichviel mit welchen Mitteln.“

Im Vorgehen der russischen Militärs bei den Bombardierungen liegen wesentliche Merkmale für diese internationalen Verbrechen vor.

Die Ukraine hat das Römische Statut leider nicht ratifiziert, allerdings hat sie die Jurisdiktion des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) für die Verfolgung von Verbrechen anerkannt, die auf dem Territorium der Ukraine begangen werden. Die ausstehende Ratifikation verzögert jedoch erheblich den Beginn und die Verfolgung internationaler Verbrechen in der Ukraine.

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Das Problem bei der Verfolgung und Bestrafung dieser internationalen Verbrechen besteht darin, dass sich schwer feststellen lässt, wer die Bombardierungen befohlen hat. Ein Beweis, dass die russische militärpolitische Führung Kriegsverbrechen begeht, ist praktisch unmöglich, weil das Führungspersonal auf operativer Ebene den Truppen vermutlich keine unmittelbaren Befehle erteilt. Für einen Beweis wäre es erforderlich, die „Befehlskette“ nachzuvollziehen, also wer wem in welcher Form einen Befehl gegeben hat.

Tatsächlich wurden in einigen Strafverfahren gegen Soldaten der RF in der Ukraine bereits Personen bestraft, die derartige Verbrechen begangen hatten, allerdings nicht jene, die ihnen den Befehl dazu erteilt hatten.

Deshalb kann der erwähnte Auftritt Putins und anderer Vertreter der RF zum Beweis für die so genannte Vorgesetztenverantwortlichkeit für diese konkreten Kriegsverbrechen beitragen. Das ist ein sehr seltener Fall, dass die höchste verantwortliche Person sich selbst öffentlich zu ihrer Beteiligung an Taten bekennt, die ein internationales Verbrechen darstellen.

Die hier erwähnten Erklärungen höchster Funktionäre sind keine Einzelfälle. Dazu kommt es alle paar Wochen. Insgesamt können sie einen wesentlichen Beitrag dazu leisten, die Verantwortung der höchsten russischen Funktionäre für die fraglichen Kriegsverbrechen nachzuweisen. Solche Ermittlungen des IStGH werden nicht auf die Schnelle eingeleitet. Allerdings gelten bei internationalen Kriegsverbrechen keine Verjährungsfristen, deshalb kann eine Untersuchung jederzeit beginnen. Natürlich könnte es schneller dazu kommen, wenn die Ukraine das Römische Statut ratifiziert hätte.

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