Russland startet ein neues „Gerichtsverfahren“ gegen einen gefolterten Ukrainer

In dem traurig berühmten Gericht des Südlichen Militärbezirks in Rostov (Russland) beginnt ein neues „Gerichtsverfahren“ gegen drei ukrainische politische Gefangene. Jeder von ihnen ist bereits zu Haftstrafen von 18 bis zu 26 Jahren verurteilt worden. Obwohl davon auszugehen ist, dass Dmytro Palenko und Volodymyr Makarenko ebenso gefoltert wurden, erregt das neue Martyrium, das Hryhorij Sintschenko zu erwarten hat, besondere Besorgnis. Er war bereits seit 2019 grausamen Folterungen ausgesetzt, die ihn in einem Fall beinahe das Leben gekostet hätten.
Im Oktober 2025 wurde bekannt, dass die drei Männer eines versuchten „Terrorakts“ in der Untersuchungshaft von Rostov beschuldigt werden. Im Juli 2024 soll Dmytro Palenko, der als Russe bezeichnet wird, obwohl er selbst von der Krym stammt, Volodymyr Makarenko und Hryhorij Sintschenko angestiftet haben, sich „gemeinsam an einem Verbrechen“ zu beteiligen. Beide Ukrainer hätten zugestimmt. Palenko soll für den 4. November 2024 einen “Terrorakt” geplant haben, der aber vereitelt wurde. Alle drei werden beschuldigt, einen Terrorakt vorbereitet zu haben, und Sintschenko soll zusätzlich noch dafür „geworben“ haben.
Der russische Geheimdienst FSB wirft ukrainischen politischen Gefangenen seit 2014 immer wieder gescheiterte Terrorakte oder Sabotage vor. Gewöhnlich basieren die Anklagen auf „Geständnissen“ von Personen, die ohne Kontakt zur Außenwelt und ohne Zugang zu einem Anwalt in Haft gehalten werden, oder auf „Beweisen“, die sich leicht fabrizieren lassen. „Prozesse“, die auf Beschuldigungen gegen Personen in Untersuchungshaft basieren, sind noch fragwürdiger. Mithäftlinge können leicht unter Druck gesetzt und dazu gebracht werden, falsche Aussagen zu machen. Faktisch gibt es keine Chance auf ein faires Verfahren, und den drei Angeklagten drohen jetzt noch längere Haftstrafen als die, die bereits gegen sie verhängt wurden.
Nach Angaben des Memorial-Projekts „Unterstützung für politische Gefangene“ stammt Dmytro Palenko (geb. 14.10.1976) aus Sevastopol und befindet sich zurzeit in Untersuchungshaft. Dort erwartet er sein Berufungsverfahren gegen das Urteil von 21 Jahren Haft in „besonderem Vollzug“ wegen mehrerer „Terrorismus“-Anklagen sowie wegen „Staatsverrats“. Er wird als „Russe“ bezeichnet, allerdings kann dies daran liegen, dass Russland das Leben auf besetztem Territorium ohne Annahme der russischen Staatsbürgerschaft praktisch unmöglich macht. Informationen über das erste „Verfahren“ gibt es kaum, aber sie waren offenbar ausreichend für Memorial, um ihn als mutmaßliches Opfer politischer Verfolgung zu verzeichnen.
Volodymyr Makarenko (geb. 30.7.1997) — ukrainischer Kriegsgefangener, von Memorial als politischer Gefangener anerkannt, wartet derzeit auf das Berufungsverfahren gegen sein Urteil zu 18 Jahren Haft. Er gehört zu den 15 Personen, die am 17. Oktober 2025 zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden unter der zutiefst zynischen Anklage wegen „Terrorismus“. Die Beschuldigungen basierten ausschließlich auf der unrechtmäßigen Entscheidung des Südlichen Militärbezirksgerichts, die das Bataillon „Ajdar“, das 2015 den ukrainischen Streitkräften eingegliedert wurde, zur „terroristischen Organisation“ erklärt (im Detail hier).
Hryhorij Sintschenko (geb. 11.5.1991) hat einen Großteil der letzten zehn Jahre in Gefangenschaft entweder in der von Russland kontrollierten „Volksrepublik Donezk“ (DNR) oder unmittelbar in Russland verbracht. Er hat extreme Folterungen durchgemacht, wovon sein Aussehen bei der Urteilsverkündung im Februar 2025 Zeugnis ablegt.
Sintschenko ist im besetzten Makijivka (bei Donezk) geboren. Er lebte in Cherson, kehrte aber 2016 in das von der „DNR“ kontrollierte Gebiet zurück, offenbar aus medizinischen Gründen. Er schloss sich einer Partisanengruppe an, die Widerstand gegen die Pseudo-„Volksrepublik“ leistete, und wurde vom so genannten „Ministerium für Staatssicherheit der DNR“ (oder MGB) am 2. Dezember 2016 gefasst. Er wurde beschuldigt, einen Sprengstoffanschlag auf Zigarettenkiosks durchgeführt zu haben, und grausam gefoltert, insbesondere mit Stromschlägen, Sauerstoffentzug und Schlägen, außerdem wurde er mehrere Stunden an Handschellen aufgehängt. Wie seine Mutter, Tetjana Hulevska, berichtet, wurde er so schwer geschlagen, dass eine Lunge kollabierte und er beinahe gestorben wäre. Er kam im Rahmen eines Austauschs am 27. Dezember 2017 frei, kehrte aber später wieder in die „DNR“ zurück.
Im Oktober 2019 wurde er erneut gefasst. Ihm wurde zur Last gelegt, an einem Sprengstoffanschlag gegen die Donezker Radiostation vom 27. Oktober 2019 beteiligt gewesen zu sein. Das war offensichtlich ein Akt von Partisanen. Das Video der Explosion wurde bei YouTube platziert und mit einem Ultimatum in folgendem Wortlaut versehen: „Dies wurde getan, um auf die unmenschlichen Folterungen in den Kellern des Geheimdienstes aufmerksam zu machen. Grausame Misshandlungen und das Anbringen von Stromleitungen an den Extremitäten sind in den ‚Volks‘-Republiken zur Norm geworden. Das Volk im Donbas muss gegen die Folterungen protestieren, andernfalls wird die faschistische Republik ohne Funkverbindung bleiben.“ Im September 2020 befand sich Sintschenko im Haftkrankenhaus im besetzten Donezk. Er hatte versucht, sich die Venen zu öffnen aus Protest gegen die Folterungen, mit denen man ihn zwingen wollte, auf einen Anwalt zu verzichten und falsche „Geständnisse“ zu machen.
Nach der Vollinvasion in die Ukraine kam Sintschenko im Südlichen Militärbezirk Rostov unter russischem Recht vor Gericht. Es fällt auf, dass das ursprüngliche „Verfahren“ gegen den jungen Ukrainer im November 2019 nach einem Artikel des so genannten „Strafgesetzbuchs der DNR“ eingeleitet worden war. Sobald Russland alle Verstellung fallen ließ und seine eigenen Gesetze anwandte, nahm die Anzahl der Beschuldigungen ein phantastisches Ausmaß an — bis zu einem Rekord von 47 nach dem Russischen Strafgesetzbuch. Darunter sind „Spionage“ für den ukrainischen Geheimdienst (SBU), 15 Fälle, in denen Sintschenko der illegalen Aufbewahrung von Waffen und Sprengstoff bezichtigt wird, 12 Fälle der Herstellung von Sprengstoffen, sechs Fälle von „Sabotage“ und ein Fall versuchter Sabotage sowie drei Anschläge auf das Leben von Mitarbeitern der Sicherheitsorgane. Zu dieser extremen Eskalation von Beschuldigungen kam es, als sich Sintschenko im besetzten Gebiet Donezk oder in Russland in Haft befand, darunter im Untersuchungsgefängnis Nr. 2 in Taganrog, das durch seine grausamen Folterungen und die unmenschliche Behandlung ukrainischer Zivilisten und Kriegsgefangener traurige Berühmtheit erlangt hat.
Das „Gericht“ war besetzt mit einem Kollegium aus drei russischen „Richtern“ unter dem Vorsitz von Vjatscheslav Korsakov. Letzterer war schon in die Verfolgung und Verurteilung von Krymtataren und anderen ukrainischen politischen Gefangenen involviert, die allesamt langjährigen Haftstrafen erhielten. Am 19. März 2025 wurde Sintschenko zu 26 Jahren Haft im strengen Vollzug verurteilt. Davon sind die ersten fünf Jahre im Gefängnis zu verbüßen, in Russland die schlimmste Vollzugsanstalt. Außerdem muss Sintschenko, der sich seit 2019 in russischer Haft befindet, 200.000 Rubel Strafe zahlen.