Ruski Tyschky — Phosphorbomben, Lastwagen, beladen mit Waschmaschinen und zurückgelassene Leichen russischer Soldaten

„… Ich schaue mir das alles an und kann es nicht fassen: Wie kann ein Mensch mit gesundem Menschenverstand so etwas tun? Was habe ich Russland getan? Wir hatten so herrliche Kiefern hier! Und eine solche Luft! Alles haben sie verbrannt! “ — Alla Korsurina zeigt die Zerstörung in ihrem Heimatdorf.
Iryna Skatschko10. Dezember 2022UA DE EN ES FR IT RU

Руські Тишки, вулиця Джерельна © Оксана Комарова Ruski Tyschky, Dzherelnaja Straße © Oksana Komarova Ruski Tyshky, calle Dzherelna © Oksana Komarova Ruski Tyshky, rue Djerelna © Oksana Komarova Русские Тишки, улица Джерельная © Оксана Комарова

Ruski Tyschky, Dzherelnaja Straße © Oksana Komarova

Im Gebiet Charkiv gibt es zwei Dörfer, die „Tyschky“ heißen — Ruski und Tscherkaski Tyschky. Sie liegen nebeneinander. Das Wort „Ruski“ hat bei den Russen keinerlei Mitgefühl ausgelöst. Beide Orte waren von der Okkupation betroffen. Die Besatzer kamen bereits am Nachmittag des 24. Februar. Und seitdem haben sie über zwei Monate pausenlos Charkiv bombardiert. Um den 6. Mai herum haben sie sich am anderen Flussufer aufgestellt und von dort bereits die Tyschkys angegriffen, beide. Vier Monate lang verlief hier die Frontlinie.

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© Oksana Komarova

78 Schüsse aus „Grad“-Raketen hintereinander auf Charkiv

„Ich schaue mir das alles an und kann es nicht fassen: Wie kann ein Mensch mit gesundem Menschenverstand so etwas tun? Was habe ich Russland getan?“ Alla Korsurina zeigt die Zerstörung in ihrem Heimatdorf. Wir hatten so herrliche Kiefern hier! Und eine solche Luft! Alles haben sie verbrannt! Ich habe fünf Enkel, wo werden sie spielen, wohin sollen sie zurückkehren?“

Алла Корзуріна, Руські Тишки © Ірина Скачко Alla Korsurina. Ruski Tyschky © Iryna Skatschko Alla Korzuryna, Ruski Tyshky © Iryna Skachko Alla Korzourina, Ruski Tyshki © Irina Skatchko Алла Корзурина, Русские Тишки © Ирина Скачко

Alla Korsurina. Ruski Tyschky © Iryna Skatschko

Der Kiefernwald an der Dzherelnyj Straße ist düster und schwarz. Minenräumer gehen langsam durch die verbrannten und abgeknickten Bäume.

До війни тут гуляли діти © Оксана Комарова Vor dem Krieg haben hier Kinder gespielt © Oksana Komarova Antes de la guerra, aquí solían jugar los niños © Oksana Komarova Avant la guerre, les enfants jouaient ici © Oksana Komarova До войны здесь гуляли дети © Оксана Комарова

Vor dem Krieg haben hier Kinder gespielt © Oksana Komarova

Alla läuft an den Gruben vorbei, die voller Bauschutt sind (es sind Bombentrichter) und führt uns zu ihrem Haus, das von Bomben übel zugerichtet wurde.

„Hier standen Haubitzen, große Fahrzeuge, mit Raketen. Die Grad-Raketen wurden hier geladen und abgeschossen“, zeigt sie. „Die Kanonen standen bei uns direkt hinter den Gemüsegärten. Bagger hoben Gruben aus und schossen von da mit riesigen Kanonen auf Charkiv. Mein Gott, ich habe gezählt! 78 ‚Grad‘-Raketen am Stück, ohne Unterbrechung… 43 Kanonenschüsse ohne Pause… ‚Wohin schießen Sie, frage ich? Da sind Menschen, Kinder.‘“

Будинок Алли Корзуріної © Оксана Комарова Alla Korsurinas Haus © Oksana Komarova Casa de Alla Korzurina © Oksana Komarova La maison d’Alla Korzourina © Oksana Komarova Дом Аллы Корзуриной © Оксана Комарова

Alla Korsurinas Haus © Oksana Komarova

„Welche russischen Verbände waren hier im Dorf?“

„Anfangs waren es ganz junge Soldaten. Einer sagte: ‚Ich bin aus Petersburg, 19 Jahre. In Charkiv habe ich einen Bruder, und jetzt soll ich in diese Richtung schießen.‘ Dann kamen welche aus der ‚Volksrepublik Luhansk‘ und ‚Kadyrovzy‘ (Truppen des tschetschenischen Präsidenten Kadyrov). Zweimal nahmen sie Durchsuchungen vor. Sie suchten irgendwas in den Kellern, den Häusern, den Speichern…“

© Оксана Комарова © Oksana Komarova © Oksana Komarova © Oksana Komarova © Оксана Комарова

© Oksana Komarova

„Anfang Mai zogen die Russen ab. Aber nicht weit, nur auf die andere Seite des Flusses, in den Wald.“

„Die Besatzer sagten uns, am 9. Mai werde alles vorbei sein. Wir warteten. Ich habe das idiotischerweise geglaubt! Als wir am 6. Mai morgens aufstanden, war niemand mehr da, alles leer. Am 7. Mai kamen Ukrainer. Sie sagten: ‚Wir sind aus Ternopil, es wird bald Licht geben.‘ Wir freuten uns so, wir dachten, alles sei schon zu Ende. Und dabei ging es danach erst richtig los. Die Ukrainer waren nur unsere Aufklärung, sie verschwanden schnell wieder. Und am 9. Mai nachmittags setzte der Beschuss ein. Wir saßen zwei Tage bei Bekannten im Keller. Tag und Nacht! Wir konnten nicht einmal raus, um die Hühner zu füttern. Sobald man die Tür öffnete, fing es wieder an. Die Russen hatten sich auf das andere Flussufer zurückgezogen. Sehen sie dort, die grünlichen Kiefern. Da standen sie, von dort aus griffen sie uns an. Unsere Territorialverteidigung brachte uns schließlich weg. Am 12. Mai flohen wir, und unsere Freunde am 14. Mai. Vor deren Augen hatten sie nachts das Haus zerstört. Sie hatten es aus Hubschraubern beschossen…. Hier war kaum noch jemand, und sie zielten auf die Menschen! Das ist einfach nicht zu begreifen.“

Alla Korsurina erzählt, die Russen hätten nach ihrem Abzug vor allem die Lokalitäten unter Beschuss genommen, an denen sie vorher stationiert waren. Insbesondere die Schule im Ort. Dabei waren zu diesem Zeitpunkt noch gar keine ukrainischen Soldaten im Dorf.

У місцевому ліцеї росіяни спочатку жили, а після відступу намагалися зрівняти із землею © Оксана Комарова Die Russen hatten sich zunächst in der örtlichen Schule untergebracht. Nach dem Abzug versuchten sie, sie dem Erdboden gleich zu machen. © Oksana Komarova Al entrar, los rusos se instalaron en el colegio local, y después de su retirada intentaron destruirlo © Oksana Komarova Les Russes ont d’abord vécu dans le lycée du village, et après leur retraite, ils ont essayé de le raser © Oksana Komarova В местном лицее россияне сначала жили, а после отступления пытались сравнять его с землёй © Оксана Комарова

Die Russen hatten sich zunächst in der örtlichen Schule untergebracht. Nach dem Abzug versuchten sie, sie dem Erdboden gleich zu machen. © Oksana Komarova

Die Russen haben das Dorf verlassen, ohne allerdings die Leichen ihrer getöteten Kameraden mitzunehmen.

„Hier in den Kiefern haben sie ihre russischen Soldaten zurückgelassen, hier haben sie gelegen…. Es war ein furchtbarer Gestank. Man konnte nicht atmen. Der Mann meiner Schwester ist einmal hergekommen, um etwas aus meinem Haus zu holen. Er sagte, dass man da schlicht nicht atmen konnte.“

Ліс, де росіяни покинули своїх загиблих © Оксана Комарова Der Wald, in dem die Russen ihre getöteten Kameraden zurückließen © Oksana Komarova El bosque donde los rusos dejaron a sus muertos © Oksana Komarova Les Russes sont partis en laissant leurs morts dans cette forêt © Oksana Komarova Лес, где россияне бросили своих погибших © Оксана Комарова

Der Wald, in dem die Russen ihre getöteten Kameraden zurückließen © Oksana Komarova

„Von überallher wurden Waschmaschinen in meinen Hof gebracht“

Die seltsame Vorliebe der Besatzer gerade für diese Alltagstechnik fand im Hof von Serhij Serdjuk ihre Bestätigung. Dutzende von „Kadavern“ und Trommeln von Waschmaschinen sind hier auf einen Haufen geworfen, als wären es Überreste getöteter Tiere.

„Diese Waschmaschinen haben sie überall im Dorf geklaut und hierhergebracht“, berichtet Serhij.

У будинку Сергія Сердюка окупанти влаштували базу © Ірина Скачко Im Haus Serhij Serdjuks hatten die Besatzer einen Stützpunkt eingerichtet © Iryna Skatschko En la casa de Sergiy Serdyuk los ocupantes instalaron su base © Iryna Skachko Les occupants avaient installé leur base dans la maison de Serhiy Serdiouk © Irina Skatchko В доме Сергея Сердюка оккупанты устроили базу © Ирина Скачко

Im Haus Serhij Serdjuks hatten die Besatzer einen Stützpunkt eingerichtet © Iryna Skatschko

Er zeigt auf seinem Mobiltelefon, wie gemütlich sein Hinterhof früher war. Vermutlich haben sich die Russen deshalb sein Haus als Stützpunkt ausgesucht.

„Wir sind praktisch sofort geflohen“, erzählt der Eigentümer. „Im März sind sie ins Haus eingedrungen. Anfangs waren hier nur ‚Orks‘ [negativ für Russen], dann fuhren sie weg, und es kamen andere. Sie haben alles mitgehen lassen: Kühlschränke, Waschmaschinen, alle Kleidungsstücke, das Badezimmer, Betten, alles aus der Garage. Die Nachbarn sagen, dass sie mit zwei Kamaz-Lastwagen vorfuhren und alles mitnahmen, was sie konnten…. Die gestohlenen Waschmaschinen sortierten sie hier aus und brachten sie dann auch mit Kamaz-Lastwagen weg. Danach wurde das Haus bombardiert, und der Haufen von Trommeln ist das einzige, was von den Waschmaschinen, die sie noch nicht abgeschleppt hatten, übrig blieb.“

Außer den zerstörten Waschmaschinen haben die Russen Unrat, Konservenbüchsen und russische Trockenrationen hinterlassen. Die Unterlagen zu seinem Haus fand Serhij zufällig auf einem Müllhaufen hinter dem Zaun. Die Minenräumer überprüften Serhijs Hof und das, was von seinem Haus noch übrig war, warnten jedoch davor, in den Garten zu gehen — das sei zu gefährlich.

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Als die ukrainischen Truppen ins Dorf einzogen, quartierten sie sich ebenfalls im Keller bei Serhij ein. Das Haus liegt am äußersten Rand des Dorfes, von da aus ließ sich die Gegend gut übersehen, wohin die Besatzer gerade abgezogen waren. Diese Lage machte das Haus für unsere Soldaten zu einem geeigneten Vorposten. Übrigens zu einem höchst gefährlichen: die Stelle wurde häufig beschossen, und in der Garage brannte ein Auto aus, das mit Militärärzten besetzt war…

„Am ersten September wurden wir mit Phosphor bombardiert“

„Am 24. Februar hörten meine Frau und ich Explosionen. Es wurde aus Panzern geschossen. Im Laufe des Tages fuhren bereits russische Panzerkolonnen durchs Dorf. Viele Russen quartierten sich in der Schule ein. Es gab fast keine Zerstörungen im Dorf. Aber als sie abzogen. Anfang Mai, fingen sie an, uns heftig zu beschießen. Viktor Simjatschko, von Beruf Ingenieur, arbeitet bereits seit 37 Jahren in der Landwirtschaft. Er macht alles selbst, repariert auch technische Geräte eigenhändig und kann sogar einen Hangar für seinen Traktor bauen.

Фермер Віктор Сім’ячко, Руські Тишки © Оксана Комарова Der Bauer Viktor Simjatschko, Ruski Tyschky © Oksana Komarova Agricultor Víctor Semyachko, Ruski Tyshky © Oksana Komarova Viktor Simiatchko, agriculteur, Ruski Tyshki © Oksana Komarova Фермер Виктор Семьячко, Русские Тишки © Оксана Комарова

Der Bauer Viktor Simjatschko, Ruski Tyschky © Oksana Komarova

„Ich habe einen kleinen Bauernhof. Nur meine Frau und ich haben da gearbeitet. Aber er warf Gewinn ab, und ich habe Steuern bezahlt.“

Während der Okkupation raubten die Russen dem Bauern seinen Scheibenpflug.

„Am 24. April, das war Ostern, nahmen sie sich den Traktor, hängten die Scheiben dran und fuhren weg. Meine technischen Geräte sind alt, sie sahen sich das an, da gab es nichts wegzunehmen. Aber den neuen Pflug haben sie mitgenommen.

Um sein Auto vor den Besatzern zu schützen, machte Viktor es funktionsuntüchtig: Er baute die Batterie aus und versteckte sie.

Віктор Михайлович каже, що його будинок згорів після обстрілів фосфорними снарядами © Ірина Скачко Viktor Simjatschko berichtet, dass sein Haus nach einem Angriff mit Phosphorbomben abgebrannt ist © Iryna Skatschko Víctor dice que su casa se quemó al ser bombardeada con proyectiles de fósforo © Iryna Skachko Viktor Mykhailovych explique que sa maison a brûlé après avoir été bombardée par des bombes au phosphore © Irina Skatchko Виктор Михайлович говорит, что его дом сгорел после обстрелов фосфорными снарядами © Ирина Скачко

Viktor Simjatschko berichtet, dass sein Haus nach einem Angriff mit Phosphorbomben abgebrannt ist © Iryna Skatschko

Jetzt ist von seinem Hof mit dem stolzen Namen „Sokol“ (Falke) nicht mehr viel übrig. Die Tiere sind umgekommen, die Maschinen zerstört, das Elite-Getreide verdorben, das Haus ist nach einem Angriff mit Phosphorbomben abgebrannt.

„Am 17. Juni haben meine Frau und ich uns im Keller versteckt. In der Nähe meines Hauses gab es 16 Einschläge. Im Garten, hinter dem Hof. Und dann krachte es im Hof. Wir kletterten heraus und sahen, dass der Getreideschuppen in die Luft geflogen war. Die Zäune waren eingestürzt, die Fenster im Haus herausgeflogen. Danach hörte der Beschuss sofort auf. Ich glaube, sie hatten einen Agenten, einen Spion vor Ort. Denn 16 Einschläge waren danebengegangen, und nach dem Treffer hörten sie sofort auf. Aber danach gab es noch sehr viele weitere Angriffe. Die Scheune, in der wir die Schweine hielten, ist abgebrannt… 110 Legehennen sind auch umgekommen. Und am 1. September gegen Mitternacht wurden wir mit Phosphorbomben angegriffen. Sie schlugen ins Haus ein, und die erste Etage brannte ab. Meine Frau wunderte sich: ‚Aber wieso ist auf der Straße das Licht an?‘ Wir stürzten aus dem Haus und sahen, dass die erste Etage brannte. Ich habe einen Generator, den schaltete ich an und konnte eine Pumpe anschließen… Aber der Wind war zu stark. Das Haus brannte nieder.“

Такими білими слідами (ймовірно це фософор) всіяна ферма “Сокіл” © Ірина Скачко Mit diesen weißen Spuren (vermutlich Phosphor) ist der Bauernhof „Sokol“ übersät © Iryna Skatschko La granja Sokol está salpicada con residuos blancos (probablemente de fósforo) © Iryna Skachko La ferme « Faucon » est parsemée de traces blanches (probablement du phosphore) © Irina Skatchko Такими белыми следами (вероятно, это фосфор) усеяна ферма “Сокол” © Ирина Скачко

Mit diesen weißen Spuren (vermutlich Phosphor) ist der Bauernhof „Sokol“ übersät © Iryna Skatschko

Jetzt lebt Viktor in Charkiv bei seiner Tochter, fährt aber jeden Tag nach Hause, um zu werkeln, zu reparieren, zu retten, was zu retten ist, er flickt Löcher im Traktor, deckt die Scheune mit den restlichen hochwertigen Sonnenblumenkernen mit Schieferstücken ab, die erhalten geblieben sind. Ein Haufen Gerste, der unter offenem Himmel und durch Regen feucht geworden ist, hat schon grüne Triebe.

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